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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal.

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Musikalische Erziehung.

finden. Es herrscht die Neigung vor, überall zuerst das Schlechte oder Mangel¬
hafte zu bemerken, und da schließlich alles Menschenwerk, auch das Erhabenste,
unvollkommen ist, so begegnen auch selbst die besten Werke und Leistungen der
Kunst einer kleinlichen Sucht am Kritteln, daß auch dem Guten darunter die
Wirkung auf die Empfänglichkeit des Gemüts verkümmert wird. Eigentlich sollte
es natürlich umgekehrt sein. Geist und Gemüt des Zuhörers sollten zunächst
immer in der Stimmung sein, das Gute und Schöne unbefangen auf sich wirken
zu lassen. Erst die Nichtbefriedigung des empfänglichen Sinnes dürfte berech¬
tigen, nach den Ursachen der enttäuschten Hoffnung zu fragen, und dann zu
prüfen, ob die Ursachen in dem Werke oder in der Ausführung liegen. In
vielen Fällen würde aber unter dem Eindruck des Schönen der Wunsch nach
Aufdeckung von Mängeln ganz von selbst verschwinden, und somit der Hörer
auf diesem Standpunkte sich weit besser stehen, als wenn er von vornherein ge¬
willt ist, auf das zu achten, was ihm nicht gefällt; er würde dabei noch gar¬
nicht einmal nötig haben, auf sein Urteil zu verzichten, wenn ihm daran so viel
gelegen ist -- denn das Gute an einer Sache herauszufinden, dazu bedarf es
ebensoviel Urteilskraft, als das Schlechte zu bemerken, ja noch mehr. Aber es
herrscht nun einmal jetzt ein gewisser kritischer, negativer Zug, über den sich
hervorragende Künstler schon oft mit Recht beschwert haben, mit Recht deshalb,
weil er am verkehrten Platze sich äußert und unrichtige Beurteilungen erzeugt,
namentlich aber auch dem veredelnden Einfluß der Kunst Abbruch thut; denn
die Rückwirkung jener pseudo-kritischen Stimmung auf die geistige Beziehung des
Publikums zu Kunst und Künstlern überhaupt kann man sich ja leicht ausmalen.
Die ausübende Kunst wird zum Schulpensum, der Hörer zum Schulmeister,
der die Zensuren austeilt, der Künstler zum Geschäftsmann, der mit seiner
Waare je nachdem gute oder schlechte Geschäfte macht. Darnach richtet sich
denn auch der Ton des öffentlichen Verkehrs, und in der That, diese Konturen
treten gerade in unsrer Zeit mit einer Nacktheit zu Tage, daß den wahrhaft
künstlerischen und künstlerisch gestimmten Gemütern sehr häufig die Lust vergeht,
sich mit der Öffentlichkeit zu berühren. Bedeutende Künstler und Schriftsteller
haben sogar die Stimmung des Publikums in unsrer Zeit eine kunstfeindliche
genannt. Was an diesem Vorwurf wahres ist, wird sich zum Teil wahrscheinlich
auf den schon berührten Punkt zurückführen lassen, daß eben die Kunst in unserm Er¬
ziehungssystem eine offizielle Stellung nicht hat, daher des autoritativen Schutzes
entbehrt, der mancher andern, geistig weit tiefer stehenden Nützlichkeitsbeschäftigung
zu unverhältnismäßig großem Ansehen verhilft. Teils aber liegt es auch
an der musikalischen Erziehung, die in vielen Fällen ohne jeden höhern Gesichts¬
punkt und in noch mehr Fällen ohne irgendwelche Kontrole höher stehender
Sachverständigen erteilt wird. Man sehe nur, welche Leute sich zum Unter¬
richtgeben in der Musik drängen, und wie auch der größte Stümper immer noch
seinen verschwiegenen Anhängerkreis findet. In Ermangelung eignen Könnens


Musikalische Erziehung.

finden. Es herrscht die Neigung vor, überall zuerst das Schlechte oder Mangel¬
hafte zu bemerken, und da schließlich alles Menschenwerk, auch das Erhabenste,
unvollkommen ist, so begegnen auch selbst die besten Werke und Leistungen der
Kunst einer kleinlichen Sucht am Kritteln, daß auch dem Guten darunter die
Wirkung auf die Empfänglichkeit des Gemüts verkümmert wird. Eigentlich sollte
es natürlich umgekehrt sein. Geist und Gemüt des Zuhörers sollten zunächst
immer in der Stimmung sein, das Gute und Schöne unbefangen auf sich wirken
zu lassen. Erst die Nichtbefriedigung des empfänglichen Sinnes dürfte berech¬
tigen, nach den Ursachen der enttäuschten Hoffnung zu fragen, und dann zu
prüfen, ob die Ursachen in dem Werke oder in der Ausführung liegen. In
vielen Fällen würde aber unter dem Eindruck des Schönen der Wunsch nach
Aufdeckung von Mängeln ganz von selbst verschwinden, und somit der Hörer
auf diesem Standpunkte sich weit besser stehen, als wenn er von vornherein ge¬
willt ist, auf das zu achten, was ihm nicht gefällt; er würde dabei noch gar¬
nicht einmal nötig haben, auf sein Urteil zu verzichten, wenn ihm daran so viel
gelegen ist — denn das Gute an einer Sache herauszufinden, dazu bedarf es
ebensoviel Urteilskraft, als das Schlechte zu bemerken, ja noch mehr. Aber es
herrscht nun einmal jetzt ein gewisser kritischer, negativer Zug, über den sich
hervorragende Künstler schon oft mit Recht beschwert haben, mit Recht deshalb,
weil er am verkehrten Platze sich äußert und unrichtige Beurteilungen erzeugt,
namentlich aber auch dem veredelnden Einfluß der Kunst Abbruch thut; denn
die Rückwirkung jener pseudo-kritischen Stimmung auf die geistige Beziehung des
Publikums zu Kunst und Künstlern überhaupt kann man sich ja leicht ausmalen.
Die ausübende Kunst wird zum Schulpensum, der Hörer zum Schulmeister,
der die Zensuren austeilt, der Künstler zum Geschäftsmann, der mit seiner
Waare je nachdem gute oder schlechte Geschäfte macht. Darnach richtet sich
denn auch der Ton des öffentlichen Verkehrs, und in der That, diese Konturen
treten gerade in unsrer Zeit mit einer Nacktheit zu Tage, daß den wahrhaft
künstlerischen und künstlerisch gestimmten Gemütern sehr häufig die Lust vergeht,
sich mit der Öffentlichkeit zu berühren. Bedeutende Künstler und Schriftsteller
haben sogar die Stimmung des Publikums in unsrer Zeit eine kunstfeindliche
genannt. Was an diesem Vorwurf wahres ist, wird sich zum Teil wahrscheinlich
auf den schon berührten Punkt zurückführen lassen, daß eben die Kunst in unserm Er¬
ziehungssystem eine offizielle Stellung nicht hat, daher des autoritativen Schutzes
entbehrt, der mancher andern, geistig weit tiefer stehenden Nützlichkeitsbeschäftigung
zu unverhältnismäßig großem Ansehen verhilft. Teils aber liegt es auch
an der musikalischen Erziehung, die in vielen Fällen ohne jeden höhern Gesichts¬
punkt und in noch mehr Fällen ohne irgendwelche Kontrole höher stehender
Sachverständigen erteilt wird. Man sehe nur, welche Leute sich zum Unter¬
richtgeben in der Musik drängen, und wie auch der größte Stümper immer noch
seinen verschwiegenen Anhängerkreis findet. In Ermangelung eignen Könnens


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[0616] Musikalische Erziehung. finden. Es herrscht die Neigung vor, überall zuerst das Schlechte oder Mangel¬ hafte zu bemerken, und da schließlich alles Menschenwerk, auch das Erhabenste, unvollkommen ist, so begegnen auch selbst die besten Werke und Leistungen der Kunst einer kleinlichen Sucht am Kritteln, daß auch dem Guten darunter die Wirkung auf die Empfänglichkeit des Gemüts verkümmert wird. Eigentlich sollte es natürlich umgekehrt sein. Geist und Gemüt des Zuhörers sollten zunächst immer in der Stimmung sein, das Gute und Schöne unbefangen auf sich wirken zu lassen. Erst die Nichtbefriedigung des empfänglichen Sinnes dürfte berech¬ tigen, nach den Ursachen der enttäuschten Hoffnung zu fragen, und dann zu prüfen, ob die Ursachen in dem Werke oder in der Ausführung liegen. In vielen Fällen würde aber unter dem Eindruck des Schönen der Wunsch nach Aufdeckung von Mängeln ganz von selbst verschwinden, und somit der Hörer auf diesem Standpunkte sich weit besser stehen, als wenn er von vornherein ge¬ willt ist, auf das zu achten, was ihm nicht gefällt; er würde dabei noch gar¬ nicht einmal nötig haben, auf sein Urteil zu verzichten, wenn ihm daran so viel gelegen ist — denn das Gute an einer Sache herauszufinden, dazu bedarf es ebensoviel Urteilskraft, als das Schlechte zu bemerken, ja noch mehr. Aber es herrscht nun einmal jetzt ein gewisser kritischer, negativer Zug, über den sich hervorragende Künstler schon oft mit Recht beschwert haben, mit Recht deshalb, weil er am verkehrten Platze sich äußert und unrichtige Beurteilungen erzeugt, namentlich aber auch dem veredelnden Einfluß der Kunst Abbruch thut; denn die Rückwirkung jener pseudo-kritischen Stimmung auf die geistige Beziehung des Publikums zu Kunst und Künstlern überhaupt kann man sich ja leicht ausmalen. Die ausübende Kunst wird zum Schulpensum, der Hörer zum Schulmeister, der die Zensuren austeilt, der Künstler zum Geschäftsmann, der mit seiner Waare je nachdem gute oder schlechte Geschäfte macht. Darnach richtet sich denn auch der Ton des öffentlichen Verkehrs, und in der That, diese Konturen treten gerade in unsrer Zeit mit einer Nacktheit zu Tage, daß den wahrhaft künstlerischen und künstlerisch gestimmten Gemütern sehr häufig die Lust vergeht, sich mit der Öffentlichkeit zu berühren. Bedeutende Künstler und Schriftsteller haben sogar die Stimmung des Publikums in unsrer Zeit eine kunstfeindliche genannt. Was an diesem Vorwurf wahres ist, wird sich zum Teil wahrscheinlich auf den schon berührten Punkt zurückführen lassen, daß eben die Kunst in unserm Er¬ ziehungssystem eine offizielle Stellung nicht hat, daher des autoritativen Schutzes entbehrt, der mancher andern, geistig weit tiefer stehenden Nützlichkeitsbeschäftigung zu unverhältnismäßig großem Ansehen verhilft. Teils aber liegt es auch an der musikalischen Erziehung, die in vielen Fällen ohne jeden höhern Gesichts¬ punkt und in noch mehr Fällen ohne irgendwelche Kontrole höher stehender Sachverständigen erteilt wird. Man sehe nur, welche Leute sich zum Unter¬ richtgeben in der Musik drängen, und wie auch der größte Stümper immer noch seinen verschwiegenen Anhängerkreis findet. In Ermangelung eignen Könnens

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_152756/616>, abgerufen am 22.07.2024.