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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal.

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Die Grafen von Altenschwerdt.

Welcher kranke Seelen zu heilen hat, nicht selbst eine kranke Seele haben dürfe.
Wenn der Richter selbst ein schlechter Mensch ist, so wird er sich freilich leicht
in schlechte Angeklagte hineindenken können, aber es wird ihm die Fähigkeit ab¬
gehen, edle Menschen, welche unschuldig vor ihn geführt werden, richtig zu be¬
urteilen. Deshalb muß er allerdings Erfahrung in Schlechtigkeiten haben, aber
er darf diese Erfahrung nicht an sich selbst machen, sondern selbst muß er ein
reiner Charakter sein. Denn der edle Mensch wird wohl imstande sein, nicht
allein das Gute, sondern auch das Schlechte zu erkennen, aber der schlechte
Mensch wird nur das, was ihm selbst gleicht, begreifen können.

Dorothea glaubte bei diesen Worten des Generals zu sehen, daß die
Augen der Gräfin Sibylle, welche aufmerksam zuhörte, in ihrem Glänze er¬
loschen und ein falbes Aussehen annahmen, als ob sie erschreckt oder verletzt
oder doch jedenfalls zu einer Betrachtung veranlaßt worden wäre, welche sie
aus der bisherigen Stimmung herausrisse. Diese Beobachtung nahm Dorothea so
in Anspruch, daß sie vergaß, einen Gedanken auszusprechen, der ihr bei der Er¬
örterung gekommen war, und nachdenklich zusah, wie die Gräfin sich in der
Absicht, das Gespräch abzulenken, mit einer Frage über die Jagdzeit an den
Baron wandte.

Wir werden in acht Tagen anfangen, Hühner zu schießen, entgegnete dieser.
Ich werde mich sehr freuen, wenn Ihr Herr Sohn mir alsdann die Ehre er¬
zeigen will, herüberzukommen. Es giebt viel Wild dieses Jahr.

Sehr gütig, sagte Graf Dietrich. Doch weiß ich noch nicht, ob wir so
lange in Fischbeck bleiben werden.

Er wandte sich nach diesen flüchtig hingeworfenen Worten an den General,
dessen Persönlichkeit ihm ungleich besser gefiel als die des Barons, und sagte:
Ihre Bemerkung, Excellenz, ist mir sehr interessant. Wenn es wirklich richtig
wäre, daß der Schlechte nur das Schlechte richtig beurteilen könnte, der Gute
aber Gutes und Schlechtes, so würde dies eigentümliche Schlüsse auf die ge¬
samte Literatur ziehen lassen. Ich muß aber gestehen, daß mir die Sache nicht
völlig einleuchtet.

Inwiefern wollen Sie denn auf die Literatur schließen? fragte der General.

Nun, wenn jener Satz richtig wäre, so müßte man sagen, daß der Autor
von Werken, die das Gute darstellen, selbst ein guter Charakter sein müßte,
ebenso derjenige, welcher das Gute und das Schlechte darstellte, während dagegen
ein Autor, welcher nur oder doch vorwiegend das Schlechte schilderte, selbst
ganz oder doch beinahe ganz schlecht sein müßte. Dagegen möchte ich aber
behaupten, daß hier lediglich ein ästhetisches Urteil möglich ist und daß wir
allein nach der Bedeutung einer Dichtun gäth Kunstwerk fragen dürfen, gleichviel,
ob in derselben schlechte oder gute Charaktere wiedergegeben werden, während
ein Rückschluß von der Dichtung auf den Charakter des Dichters ganz unthun-
lich ist. Es kann meines Trachtens ein miserabler Mensch, wenn er nur


Die Grafen von Altenschwerdt.

Welcher kranke Seelen zu heilen hat, nicht selbst eine kranke Seele haben dürfe.
Wenn der Richter selbst ein schlechter Mensch ist, so wird er sich freilich leicht
in schlechte Angeklagte hineindenken können, aber es wird ihm die Fähigkeit ab¬
gehen, edle Menschen, welche unschuldig vor ihn geführt werden, richtig zu be¬
urteilen. Deshalb muß er allerdings Erfahrung in Schlechtigkeiten haben, aber
er darf diese Erfahrung nicht an sich selbst machen, sondern selbst muß er ein
reiner Charakter sein. Denn der edle Mensch wird wohl imstande sein, nicht
allein das Gute, sondern auch das Schlechte zu erkennen, aber der schlechte
Mensch wird nur das, was ihm selbst gleicht, begreifen können.

Dorothea glaubte bei diesen Worten des Generals zu sehen, daß die
Augen der Gräfin Sibylle, welche aufmerksam zuhörte, in ihrem Glänze er¬
loschen und ein falbes Aussehen annahmen, als ob sie erschreckt oder verletzt
oder doch jedenfalls zu einer Betrachtung veranlaßt worden wäre, welche sie
aus der bisherigen Stimmung herausrisse. Diese Beobachtung nahm Dorothea so
in Anspruch, daß sie vergaß, einen Gedanken auszusprechen, der ihr bei der Er¬
örterung gekommen war, und nachdenklich zusah, wie die Gräfin sich in der
Absicht, das Gespräch abzulenken, mit einer Frage über die Jagdzeit an den
Baron wandte.

Wir werden in acht Tagen anfangen, Hühner zu schießen, entgegnete dieser.
Ich werde mich sehr freuen, wenn Ihr Herr Sohn mir alsdann die Ehre er¬
zeigen will, herüberzukommen. Es giebt viel Wild dieses Jahr.

Sehr gütig, sagte Graf Dietrich. Doch weiß ich noch nicht, ob wir so
lange in Fischbeck bleiben werden.

Er wandte sich nach diesen flüchtig hingeworfenen Worten an den General,
dessen Persönlichkeit ihm ungleich besser gefiel als die des Barons, und sagte:
Ihre Bemerkung, Excellenz, ist mir sehr interessant. Wenn es wirklich richtig
wäre, daß der Schlechte nur das Schlechte richtig beurteilen könnte, der Gute
aber Gutes und Schlechtes, so würde dies eigentümliche Schlüsse auf die ge¬
samte Literatur ziehen lassen. Ich muß aber gestehen, daß mir die Sache nicht
völlig einleuchtet.

Inwiefern wollen Sie denn auf die Literatur schließen? fragte der General.

Nun, wenn jener Satz richtig wäre, so müßte man sagen, daß der Autor
von Werken, die das Gute darstellen, selbst ein guter Charakter sein müßte,
ebenso derjenige, welcher das Gute und das Schlechte darstellte, während dagegen
ein Autor, welcher nur oder doch vorwiegend das Schlechte schilderte, selbst
ganz oder doch beinahe ganz schlecht sein müßte. Dagegen möchte ich aber
behaupten, daß hier lediglich ein ästhetisches Urteil möglich ist und daß wir
allein nach der Bedeutung einer Dichtun gäth Kunstwerk fragen dürfen, gleichviel,
ob in derselben schlechte oder gute Charaktere wiedergegeben werden, während
ein Rückschluß von der Dichtung auf den Charakter des Dichters ganz unthun-
lich ist. Es kann meines Trachtens ein miserabler Mensch, wenn er nur


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_152756/59>, abgerufen am 01.10.2024.