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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal.

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Die Gewerbeordnungsnovetle.

sind der Ansicht, daß nicht jede blühende Industrie unbedingt gut sei. Ein In¬
dustriezweig, der den schlechten Neigungen und Leidenschaften des Volkes fröhnt
und diese dadurch fördert, ist keineswegs ein Glück für die Nation. Und wenn
derselbe in seiner unheilbringenden Richtung eine Schmälerung erleidet, so braucht
man deshalb keine große Klage zu erheben.

Weiter wird jener Beschränkung der Vorwurf gemacht, daß sie ein Gesetz
sei, welches mit zweierlei Maß messe. Die Sittlichkeit und Religiosität der
niedern Stunde wolle man staatlich beaufsichtigen, während man die der höhern
Stunde freilasse. Es mag richtig sein, daß in den höhern Ständen die "An¬
sichtssendungen" mancher Buchhändler eine ähnliche Rolle spielen, wie in den
niedern die Kolportage. Auch ist es gewiß richtig, daß der Sinn für Unsittlich-
keit und Irreligiosität, welcher durch eine schlechte Literatur großgezogen wird, in
den höhern Ständen nicht minder vertreten ist als in den niedern. Eine polizei¬
liche Beaufsichtigung der "Ansichtssendungen" würde aber schon thatsächlich
nicht wohl möglich sein; und daß man wegen dieser Unmöglichkeit auch die
Kolportage absolut freigeben müsse, ist keine begründete Schlußfolgerung. Ganz
abgesehen hiervon ist es aber auch ein großer Unterschied, ob Unsittlichkeit
und Irreligiosität von einzelnen Gliedern der höhern Stände nicht ferngehalten,
oder ob sie in die großen Massen des Volkes hineingetragen wird. Dort wirkt
sie minder gefährlich, weil ihnen die Macht der Sitte und die höhere Einsicht
entgegenwirkt. Hier aber führt sie zur Verwilderung und zum Verbrechen und
gefährdet damit die Grundlagen der gesamten bürgerlichen Gesellschaft.

Auch den gegen jene Beschränkung erhobenen Vorwurf der "Polizeiwillkür"
kann man in gewissem Sinne zugeben. Einerseits wird es der Polizei nicht
möglich sein, alle Bücher zu lesen, und es werden daher auch, trotz jenes Unter¬
suchungsrechtes, noch schlechte Bücher genug im Kolportagehandel vertrieben
werden. Andrerseits ist unzweifelhaft eine mehr oder minder strenge Auffassung
des Begriffs von unsittlichen und irreligiösen Schriften möglich, und dies
wird dahin führen, daß mcmcherorten Bücher von der Kolportage ausgeschlossen
werden, die man anderwärts zuläßt. Liegt denn aber darin ein so schwerer
Schaden? Nein! sagen wir. Der Schaden, daß manches Buch von zweifel¬
haftem Werte nicht zum Kaufe herumgetragen und dadurch manchem Leser ent¬
zogen wird, ist weit geringer als der Schaden, welcher daraus erwächst, daß
Bücher von unzweifelhaft schlechtem Inhalt aller Welt zum Lesen ins Haus getragen
werden. Wie steht es denn mit unsrer Literatur? Müssen wir stets besorgt
sein, daß unserm Volke nicht irgend etwas entgehe, was zu seiner Belehrung
beitragen könnte? So steht die Sache doch nicht! Unsere Literatur leidet an
Überproduktion. Wir möchten behaupten, daß fast auf allen Gebieten derselbe"
füglich die Hälfte dessen, was gedruckt wird, ungedruckt und ungelesen bleiben
könnte, ohne daß dadurch der Bildung unsres Volkes irgend Abbruch geschehe.
Daher wird auch, wenn dieses oder jenes Buch, welches auf der Grenze der Un-


Die Gewerbeordnungsnovetle.

sind der Ansicht, daß nicht jede blühende Industrie unbedingt gut sei. Ein In¬
dustriezweig, der den schlechten Neigungen und Leidenschaften des Volkes fröhnt
und diese dadurch fördert, ist keineswegs ein Glück für die Nation. Und wenn
derselbe in seiner unheilbringenden Richtung eine Schmälerung erleidet, so braucht
man deshalb keine große Klage zu erheben.

Weiter wird jener Beschränkung der Vorwurf gemacht, daß sie ein Gesetz
sei, welches mit zweierlei Maß messe. Die Sittlichkeit und Religiosität der
niedern Stunde wolle man staatlich beaufsichtigen, während man die der höhern
Stunde freilasse. Es mag richtig sein, daß in den höhern Ständen die „An¬
sichtssendungen" mancher Buchhändler eine ähnliche Rolle spielen, wie in den
niedern die Kolportage. Auch ist es gewiß richtig, daß der Sinn für Unsittlich-
keit und Irreligiosität, welcher durch eine schlechte Literatur großgezogen wird, in
den höhern Ständen nicht minder vertreten ist als in den niedern. Eine polizei¬
liche Beaufsichtigung der „Ansichtssendungen" würde aber schon thatsächlich
nicht wohl möglich sein; und daß man wegen dieser Unmöglichkeit auch die
Kolportage absolut freigeben müsse, ist keine begründete Schlußfolgerung. Ganz
abgesehen hiervon ist es aber auch ein großer Unterschied, ob Unsittlichkeit
und Irreligiosität von einzelnen Gliedern der höhern Stände nicht ferngehalten,
oder ob sie in die großen Massen des Volkes hineingetragen wird. Dort wirkt
sie minder gefährlich, weil ihnen die Macht der Sitte und die höhere Einsicht
entgegenwirkt. Hier aber führt sie zur Verwilderung und zum Verbrechen und
gefährdet damit die Grundlagen der gesamten bürgerlichen Gesellschaft.

Auch den gegen jene Beschränkung erhobenen Vorwurf der „Polizeiwillkür"
kann man in gewissem Sinne zugeben. Einerseits wird es der Polizei nicht
möglich sein, alle Bücher zu lesen, und es werden daher auch, trotz jenes Unter¬
suchungsrechtes, noch schlechte Bücher genug im Kolportagehandel vertrieben
werden. Andrerseits ist unzweifelhaft eine mehr oder minder strenge Auffassung
des Begriffs von unsittlichen und irreligiösen Schriften möglich, und dies
wird dahin führen, daß mcmcherorten Bücher von der Kolportage ausgeschlossen
werden, die man anderwärts zuläßt. Liegt denn aber darin ein so schwerer
Schaden? Nein! sagen wir. Der Schaden, daß manches Buch von zweifel¬
haftem Werte nicht zum Kaufe herumgetragen und dadurch manchem Leser ent¬
zogen wird, ist weit geringer als der Schaden, welcher daraus erwächst, daß
Bücher von unzweifelhaft schlechtem Inhalt aller Welt zum Lesen ins Haus getragen
werden. Wie steht es denn mit unsrer Literatur? Müssen wir stets besorgt
sein, daß unserm Volke nicht irgend etwas entgehe, was zu seiner Belehrung
beitragen könnte? So steht die Sache doch nicht! Unsere Literatur leidet an
Überproduktion. Wir möchten behaupten, daß fast auf allen Gebieten derselbe»
füglich die Hälfte dessen, was gedruckt wird, ungedruckt und ungelesen bleiben
könnte, ohne daß dadurch der Bildung unsres Volkes irgend Abbruch geschehe.
Daher wird auch, wenn dieses oder jenes Buch, welches auf der Grenze der Un-


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[0586] Die Gewerbeordnungsnovetle. sind der Ansicht, daß nicht jede blühende Industrie unbedingt gut sei. Ein In¬ dustriezweig, der den schlechten Neigungen und Leidenschaften des Volkes fröhnt und diese dadurch fördert, ist keineswegs ein Glück für die Nation. Und wenn derselbe in seiner unheilbringenden Richtung eine Schmälerung erleidet, so braucht man deshalb keine große Klage zu erheben. Weiter wird jener Beschränkung der Vorwurf gemacht, daß sie ein Gesetz sei, welches mit zweierlei Maß messe. Die Sittlichkeit und Religiosität der niedern Stunde wolle man staatlich beaufsichtigen, während man die der höhern Stunde freilasse. Es mag richtig sein, daß in den höhern Ständen die „An¬ sichtssendungen" mancher Buchhändler eine ähnliche Rolle spielen, wie in den niedern die Kolportage. Auch ist es gewiß richtig, daß der Sinn für Unsittlich- keit und Irreligiosität, welcher durch eine schlechte Literatur großgezogen wird, in den höhern Ständen nicht minder vertreten ist als in den niedern. Eine polizei¬ liche Beaufsichtigung der „Ansichtssendungen" würde aber schon thatsächlich nicht wohl möglich sein; und daß man wegen dieser Unmöglichkeit auch die Kolportage absolut freigeben müsse, ist keine begründete Schlußfolgerung. Ganz abgesehen hiervon ist es aber auch ein großer Unterschied, ob Unsittlichkeit und Irreligiosität von einzelnen Gliedern der höhern Stände nicht ferngehalten, oder ob sie in die großen Massen des Volkes hineingetragen wird. Dort wirkt sie minder gefährlich, weil ihnen die Macht der Sitte und die höhere Einsicht entgegenwirkt. Hier aber führt sie zur Verwilderung und zum Verbrechen und gefährdet damit die Grundlagen der gesamten bürgerlichen Gesellschaft. Auch den gegen jene Beschränkung erhobenen Vorwurf der „Polizeiwillkür" kann man in gewissem Sinne zugeben. Einerseits wird es der Polizei nicht möglich sein, alle Bücher zu lesen, und es werden daher auch, trotz jenes Unter¬ suchungsrechtes, noch schlechte Bücher genug im Kolportagehandel vertrieben werden. Andrerseits ist unzweifelhaft eine mehr oder minder strenge Auffassung des Begriffs von unsittlichen und irreligiösen Schriften möglich, und dies wird dahin führen, daß mcmcherorten Bücher von der Kolportage ausgeschlossen werden, die man anderwärts zuläßt. Liegt denn aber darin ein so schwerer Schaden? Nein! sagen wir. Der Schaden, daß manches Buch von zweifel¬ haftem Werte nicht zum Kaufe herumgetragen und dadurch manchem Leser ent¬ zogen wird, ist weit geringer als der Schaden, welcher daraus erwächst, daß Bücher von unzweifelhaft schlechtem Inhalt aller Welt zum Lesen ins Haus getragen werden. Wie steht es denn mit unsrer Literatur? Müssen wir stets besorgt sein, daß unserm Volke nicht irgend etwas entgehe, was zu seiner Belehrung beitragen könnte? So steht die Sache doch nicht! Unsere Literatur leidet an Überproduktion. Wir möchten behaupten, daß fast auf allen Gebieten derselbe» füglich die Hälfte dessen, was gedruckt wird, ungedruckt und ungelesen bleiben könnte, ohne daß dadurch der Bildung unsres Volkes irgend Abbruch geschehe. Daher wird auch, wenn dieses oder jenes Buch, welches auf der Grenze der Un-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_152756/586>, abgerufen am 22.07.2024.