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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal.

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Die Äußersten.

wenigstens die verhaßten Volksfeinde durch neue Männer, durch die Ihrigen
ersetzt sind, und diese schon ihre Schuldigkeit thun werden, falls sie nur erst
festsitzen. Aber einzelne sehen sich in ihren Erwartungen schwer getäuscht. Sie
sind sich bewußt, geredet zu haben, so oft sie zum Worte kommen konnten, und
immer oppositionell, selbstverständlich immer korrekt gestimmt zu haben, und
dennoch ist bei der Teilung der Erde auf sie nicht mehr gefallen als auf den
Poeten. Waren sie etwa zu spät gekommen, wie jener? Keineswegs. Sie
hatten in der ersten Reihe der Glückwünschenden gestanden und die Hände dar¬
gereicht, die neuen Machthaber schienen jedoch zu glauben, daß es mit einem
Händedruck abgethan sei. Der wäre auch von den Gestürzten leicht zu erhalten
gewesen, und vielleicht noch mehr! Ist so schnell vergessen, wessen Stimmen
jene gestürzt und die andern emporgehoben haben?

Mit diesen Mißvergnügten verbinden sich die Doktrinäre, welche täg¬
lich die Thaten ihrer Regierung mit dem Parteiprogramm vergleichen, und
zu jedem Verrat an der heiligen Sache ein schwarzes Kreuz machen, und
die Äußersten, nach deren Überzeugung Regierungen überhaupt nur vorhanden
sind, um von ihnen mit allen Waffen angegriffen zu werden. Ihr Weizen blüht
erst recht, wenn sie den ehemaligen Parteigenossen frühere Aussprüche vorrücken
und den korrumpirenden Einfluß der Hofluft, die Charakterlosigkeit aller Nicht¬
äußersten mit den kräftigsten Farben malen dürfen. Endlich reißt wohl einem
Minister die Geduld, und er entgegnet: "Ja, ich war auch einmal so unwissend
und vorurteilsvoll wie jene Herren, allein ich habe mich durch die Erfahrung
belehren lassen, und ich stelle das Staatsinteresse höher als eine Konsequenz,
welche gleichbedeutend ist mit Eigensinn." Dann wird der Haß gegen die einstigen
Verbündeten viel grimmiger und leidenschaftlicher, als er es jemals gegen die
alten Feinde war.

Jedem aufmerksamen Zeitungsleser sind ähnliche Gestaltungen und Ver¬
schiebungen im Parteileben von Ländern in Erinnerung, deren Parlamentarismus
noch nicht hoch in Jahren ist. Schwächere Naturen lassen sich einschüchtern
und kehren reuig in den Schoß der Partei zurück, als Verlorne Söhne von
dieser mit Triumph empfangen und vom "Volk" gefeiert. , Aber mancher von
den gebrandmarkten Überläufern hat sich zu einem ganz tüchtigen Staatsmanne
herausgewachsen und läßt die Wutausbrüche der Unversöhnlichen unbekümmert
über sich ergehen.

Gänzlich werden solche Äußersten wohl nie und nirgends fehlen. Es fragt
sich nur, ob die Klasse der verständigen Menschen im Staate zahlreich und
entschlossen genug ist, daß man die Sekte unbesorgt ihr Unwesen treiben lassen
könne. Wo das der Fall ist, mag sie unter Umständen sogar recht nützlich sein.
Da bieten die Übertreibungen und hohlen Deklamationen der Herren nicht selten
willkommene Gelegenheit, um auch andern heilsame Wahrheiten zu sagen, und
dem ruhigen Bürger zu zeigen, wohin Prinzipienreiterei und Phrasentum führen.


Die Äußersten.

wenigstens die verhaßten Volksfeinde durch neue Männer, durch die Ihrigen
ersetzt sind, und diese schon ihre Schuldigkeit thun werden, falls sie nur erst
festsitzen. Aber einzelne sehen sich in ihren Erwartungen schwer getäuscht. Sie
sind sich bewußt, geredet zu haben, so oft sie zum Worte kommen konnten, und
immer oppositionell, selbstverständlich immer korrekt gestimmt zu haben, und
dennoch ist bei der Teilung der Erde auf sie nicht mehr gefallen als auf den
Poeten. Waren sie etwa zu spät gekommen, wie jener? Keineswegs. Sie
hatten in der ersten Reihe der Glückwünschenden gestanden und die Hände dar¬
gereicht, die neuen Machthaber schienen jedoch zu glauben, daß es mit einem
Händedruck abgethan sei. Der wäre auch von den Gestürzten leicht zu erhalten
gewesen, und vielleicht noch mehr! Ist so schnell vergessen, wessen Stimmen
jene gestürzt und die andern emporgehoben haben?

Mit diesen Mißvergnügten verbinden sich die Doktrinäre, welche täg¬
lich die Thaten ihrer Regierung mit dem Parteiprogramm vergleichen, und
zu jedem Verrat an der heiligen Sache ein schwarzes Kreuz machen, und
die Äußersten, nach deren Überzeugung Regierungen überhaupt nur vorhanden
sind, um von ihnen mit allen Waffen angegriffen zu werden. Ihr Weizen blüht
erst recht, wenn sie den ehemaligen Parteigenossen frühere Aussprüche vorrücken
und den korrumpirenden Einfluß der Hofluft, die Charakterlosigkeit aller Nicht¬
äußersten mit den kräftigsten Farben malen dürfen. Endlich reißt wohl einem
Minister die Geduld, und er entgegnet: „Ja, ich war auch einmal so unwissend
und vorurteilsvoll wie jene Herren, allein ich habe mich durch die Erfahrung
belehren lassen, und ich stelle das Staatsinteresse höher als eine Konsequenz,
welche gleichbedeutend ist mit Eigensinn." Dann wird der Haß gegen die einstigen
Verbündeten viel grimmiger und leidenschaftlicher, als er es jemals gegen die
alten Feinde war.

Jedem aufmerksamen Zeitungsleser sind ähnliche Gestaltungen und Ver¬
schiebungen im Parteileben von Ländern in Erinnerung, deren Parlamentarismus
noch nicht hoch in Jahren ist. Schwächere Naturen lassen sich einschüchtern
und kehren reuig in den Schoß der Partei zurück, als Verlorne Söhne von
dieser mit Triumph empfangen und vom „Volk" gefeiert. , Aber mancher von
den gebrandmarkten Überläufern hat sich zu einem ganz tüchtigen Staatsmanne
herausgewachsen und läßt die Wutausbrüche der Unversöhnlichen unbekümmert
über sich ergehen.

Gänzlich werden solche Äußersten wohl nie und nirgends fehlen. Es fragt
sich nur, ob die Klasse der verständigen Menschen im Staate zahlreich und
entschlossen genug ist, daß man die Sekte unbesorgt ihr Unwesen treiben lassen
könne. Wo das der Fall ist, mag sie unter Umständen sogar recht nützlich sein.
Da bieten die Übertreibungen und hohlen Deklamationen der Herren nicht selten
willkommene Gelegenheit, um auch andern heilsame Wahrheiten zu sagen, und
dem ruhigen Bürger zu zeigen, wohin Prinzipienreiterei und Phrasentum führen.


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[0538] Die Äußersten. wenigstens die verhaßten Volksfeinde durch neue Männer, durch die Ihrigen ersetzt sind, und diese schon ihre Schuldigkeit thun werden, falls sie nur erst festsitzen. Aber einzelne sehen sich in ihren Erwartungen schwer getäuscht. Sie sind sich bewußt, geredet zu haben, so oft sie zum Worte kommen konnten, und immer oppositionell, selbstverständlich immer korrekt gestimmt zu haben, und dennoch ist bei der Teilung der Erde auf sie nicht mehr gefallen als auf den Poeten. Waren sie etwa zu spät gekommen, wie jener? Keineswegs. Sie hatten in der ersten Reihe der Glückwünschenden gestanden und die Hände dar¬ gereicht, die neuen Machthaber schienen jedoch zu glauben, daß es mit einem Händedruck abgethan sei. Der wäre auch von den Gestürzten leicht zu erhalten gewesen, und vielleicht noch mehr! Ist so schnell vergessen, wessen Stimmen jene gestürzt und die andern emporgehoben haben? Mit diesen Mißvergnügten verbinden sich die Doktrinäre, welche täg¬ lich die Thaten ihrer Regierung mit dem Parteiprogramm vergleichen, und zu jedem Verrat an der heiligen Sache ein schwarzes Kreuz machen, und die Äußersten, nach deren Überzeugung Regierungen überhaupt nur vorhanden sind, um von ihnen mit allen Waffen angegriffen zu werden. Ihr Weizen blüht erst recht, wenn sie den ehemaligen Parteigenossen frühere Aussprüche vorrücken und den korrumpirenden Einfluß der Hofluft, die Charakterlosigkeit aller Nicht¬ äußersten mit den kräftigsten Farben malen dürfen. Endlich reißt wohl einem Minister die Geduld, und er entgegnet: „Ja, ich war auch einmal so unwissend und vorurteilsvoll wie jene Herren, allein ich habe mich durch die Erfahrung belehren lassen, und ich stelle das Staatsinteresse höher als eine Konsequenz, welche gleichbedeutend ist mit Eigensinn." Dann wird der Haß gegen die einstigen Verbündeten viel grimmiger und leidenschaftlicher, als er es jemals gegen die alten Feinde war. Jedem aufmerksamen Zeitungsleser sind ähnliche Gestaltungen und Ver¬ schiebungen im Parteileben von Ländern in Erinnerung, deren Parlamentarismus noch nicht hoch in Jahren ist. Schwächere Naturen lassen sich einschüchtern und kehren reuig in den Schoß der Partei zurück, als Verlorne Söhne von dieser mit Triumph empfangen und vom „Volk" gefeiert. , Aber mancher von den gebrandmarkten Überläufern hat sich zu einem ganz tüchtigen Staatsmanne herausgewachsen und läßt die Wutausbrüche der Unversöhnlichen unbekümmert über sich ergehen. Gänzlich werden solche Äußersten wohl nie und nirgends fehlen. Es fragt sich nur, ob die Klasse der verständigen Menschen im Staate zahlreich und entschlossen genug ist, daß man die Sekte unbesorgt ihr Unwesen treiben lassen könne. Wo das der Fall ist, mag sie unter Umständen sogar recht nützlich sein. Da bieten die Übertreibungen und hohlen Deklamationen der Herren nicht selten willkommene Gelegenheit, um auch andern heilsame Wahrheiten zu sagen, und dem ruhigen Bürger zu zeigen, wohin Prinzipienreiterei und Phrasentum führen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_152756/538>, abgerufen am 24.08.2024.