Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal.Die Brogliesche Jnterpellation und die Abiiistungsfrage. Wenn die eine Nation der andern heimlich ein paar Stufen auf der Leiter So richtet sich denn der Gedanke einer Entwaffnung oder richtiger, da eine Das Ziel, die Rüstungen einzuschränken und doch die gegenwärtigen Pro¬ Die Brogliesche Jnterpellation und die Abiiistungsfrage. Wenn die eine Nation der andern heimlich ein paar Stufen auf der Leiter So richtet sich denn der Gedanke einer Entwaffnung oder richtiger, da eine Das Ziel, die Rüstungen einzuschränken und doch die gegenwärtigen Pro¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0374" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/153123"/> <fw type="header" place="top"> Die Brogliesche Jnterpellation und die Abiiistungsfrage.</fw><lb/> <p xml:id="ID_1466" prev="#ID_1465"> Wenn die eine Nation der andern heimlich ein paar Stufen auf der Leiter<lb/> zuvorkommen, wenn sie ihre Armee verdoppeln oder auch verstärken könnte,<lb/> ohne sofort bei den Nachbarn Nachahmung dessen hervorzurufen, so würde das<lb/> Opfer, das man fordert, gerechtfertigt sein. Aber die Erfahrung zeigt, daß<lb/> diese Voraussetzung nicht zutrifft. Das gewaltige Anschwellen der französischen<lb/> Armee seit der Katastrophe von 1370 und 1871 hat die Deutschen selbstver¬<lb/> ständlich nur bewogen, ihre Wehrkraft ebenfalls zu steigern, das Heer durch<lb/> neue Regimenter und Batterien zu vermehren, strategische Eisenbahnen zu bauen,<lb/> und die Festungen nach den neuesten Regeln der Kunst umzugestalten, die<lb/> Mobilisirung der Strcitkrcifte zu erleichtern und das Offizierkorps zu Ver¬<lb/> stürken. Österreich thut auf diesem Gebiete ungefähr desgleichen, Italien und<lb/> Rußland bleiben nicht hinter ihm zurück. Man darf sich ohne schwere Gefahr<lb/> nicht überbieten lassen. Das Ergebnis ist, daß Europa sich in dieser Beziehung<lb/> beinahe in den Zustand zurückversetzt sieht, in dem es sich vor siebzig Jahren,<lb/> zu Ausgang der großen Kriege Napoleons I., befand. Nur zählten die Sol¬<lb/> daten damals nach Zehntausenden, während sie jetzt nach Hunderttausenden zählen<lb/> und dreimal soviel der Mann kosten als in jener Zeit, wobei wir freilich nicht<lb/> vergessen dürfen, daß das Geld jetzt dreimal geringern Wert hat als früher.<lb/> Jede Nation hat ihrer militärischen Größe etliche Ellen hinzugefügt, und zwar<lb/> mit so gleichmäßigem Hinzuthun gegenüber den Nebenbuhlern über den Grenzen,<lb/> daß die verhältnismäßige Länge und Breite der Rivalen sich im Vergleiche mit<lb/> dem, was sie vor sieben Jahrzehnten war, nicht erheblich verändert hat.</p><lb/> <p xml:id="ID_1467"> So richtet sich denn der Gedanke einer Entwaffnung oder richtiger, da eine<lb/> solche schlechterdings unmöglich ist, einer Abrüstung auf die Frage: Könnte man<lb/> nicht zu den alten Zuständen zurückkehren, wo selbst in Kriegszeiten kleine<lb/> stehende Heere für ausreichend galten? Die praktischen Schwierigkeiten, die sich<lb/> dem entgegenstellen, sind so bedeutend, daß die liebenswürdigen Schwärmer, die<lb/> auf diesem Wege die Last der Kriegsvorbereitung vermindert zu sehen hoffen,<lb/> sich, wie wir fürchten, einer schweren Täuschung hingeben. Wir müßten da zu¬<lb/> nächst einen sehr scharfsichtigen, sehr unterrichteten und sehr unparteiischen kos¬<lb/> mopolitischen Beamten- oder Gerichtshof haben, der die militärischen Hilfsquellen<lb/> der rivalisirenden Staaten abschätzte und mit einander vergliche, ein Wesen voll<lb/> Gerechtigkeitssinn, Billigkeitsgcfühl und Weisheit, das allen dermaßen imponirte,<lb/> daß sie ihm unbedingtes Vertrauen entgegenbrachten und sich seinen Verfügungen<lb/> unweigerlich fügten.</p><lb/> <p xml:id="ID_1468" next="#ID_1469"> Das Ziel, die Rüstungen einzuschränken und doch die gegenwärtigen Pro¬<lb/> portionen der Armeen neben einander unverändert zu erhalten, erweist sich so¬<lb/> fort als Aufgabe von unendlicher Schwierigkeit. Setzen wir den Fall, daß<lb/> zwei Staaten genau gleich groß, gleich bevölkert und überhaupt gleich beschaffen<lb/> wären, und daß jeder von ihnen eine Million Soldaten bei der Fahne und in<lb/> den Listen hielte, so könnte der Schiedsrichter oder das internationale Tribunal<lb/> allerdings zu jedem der beiden sagen: Vermindre deine Streitkräfte auf die</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0374]
Die Brogliesche Jnterpellation und die Abiiistungsfrage.
Wenn die eine Nation der andern heimlich ein paar Stufen auf der Leiter
zuvorkommen, wenn sie ihre Armee verdoppeln oder auch verstärken könnte,
ohne sofort bei den Nachbarn Nachahmung dessen hervorzurufen, so würde das
Opfer, das man fordert, gerechtfertigt sein. Aber die Erfahrung zeigt, daß
diese Voraussetzung nicht zutrifft. Das gewaltige Anschwellen der französischen
Armee seit der Katastrophe von 1370 und 1871 hat die Deutschen selbstver¬
ständlich nur bewogen, ihre Wehrkraft ebenfalls zu steigern, das Heer durch
neue Regimenter und Batterien zu vermehren, strategische Eisenbahnen zu bauen,
und die Festungen nach den neuesten Regeln der Kunst umzugestalten, die
Mobilisirung der Strcitkrcifte zu erleichtern und das Offizierkorps zu Ver¬
stürken. Österreich thut auf diesem Gebiete ungefähr desgleichen, Italien und
Rußland bleiben nicht hinter ihm zurück. Man darf sich ohne schwere Gefahr
nicht überbieten lassen. Das Ergebnis ist, daß Europa sich in dieser Beziehung
beinahe in den Zustand zurückversetzt sieht, in dem es sich vor siebzig Jahren,
zu Ausgang der großen Kriege Napoleons I., befand. Nur zählten die Sol¬
daten damals nach Zehntausenden, während sie jetzt nach Hunderttausenden zählen
und dreimal soviel der Mann kosten als in jener Zeit, wobei wir freilich nicht
vergessen dürfen, daß das Geld jetzt dreimal geringern Wert hat als früher.
Jede Nation hat ihrer militärischen Größe etliche Ellen hinzugefügt, und zwar
mit so gleichmäßigem Hinzuthun gegenüber den Nebenbuhlern über den Grenzen,
daß die verhältnismäßige Länge und Breite der Rivalen sich im Vergleiche mit
dem, was sie vor sieben Jahrzehnten war, nicht erheblich verändert hat.
So richtet sich denn der Gedanke einer Entwaffnung oder richtiger, da eine
solche schlechterdings unmöglich ist, einer Abrüstung auf die Frage: Könnte man
nicht zu den alten Zuständen zurückkehren, wo selbst in Kriegszeiten kleine
stehende Heere für ausreichend galten? Die praktischen Schwierigkeiten, die sich
dem entgegenstellen, sind so bedeutend, daß die liebenswürdigen Schwärmer, die
auf diesem Wege die Last der Kriegsvorbereitung vermindert zu sehen hoffen,
sich, wie wir fürchten, einer schweren Täuschung hingeben. Wir müßten da zu¬
nächst einen sehr scharfsichtigen, sehr unterrichteten und sehr unparteiischen kos¬
mopolitischen Beamten- oder Gerichtshof haben, der die militärischen Hilfsquellen
der rivalisirenden Staaten abschätzte und mit einander vergliche, ein Wesen voll
Gerechtigkeitssinn, Billigkeitsgcfühl und Weisheit, das allen dermaßen imponirte,
daß sie ihm unbedingtes Vertrauen entgegenbrachten und sich seinen Verfügungen
unweigerlich fügten.
Das Ziel, die Rüstungen einzuschränken und doch die gegenwärtigen Pro¬
portionen der Armeen neben einander unverändert zu erhalten, erweist sich so¬
fort als Aufgabe von unendlicher Schwierigkeit. Setzen wir den Fall, daß
zwei Staaten genau gleich groß, gleich bevölkert und überhaupt gleich beschaffen
wären, und daß jeder von ihnen eine Million Soldaten bei der Fahne und in
den Listen hielte, so könnte der Schiedsrichter oder das internationale Tribunal
allerdings zu jedem der beiden sagen: Vermindre deine Streitkräfte auf die
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