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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal.

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Ein neuer Lessingmythus.

Akte,, vieler braunschweigischen Ämter anch zahlreiche Militärakten durch die Hände
gegangen; ich habe aus ihnen die Überzeugung gewonnen, daß bei Aushebung
der Landsoldaten keineswegs mit peinlicher Strenge vorgegangen wurde, daß
dringende Familienrücksichten fast immer leicht die Entlassung bewirkten. Aber,
wird man sagen, S. 19 lesen wir ja, die Geschichte von Hennig Stiebel sei
ein amtlich beglaubigtes Faktum. Ja wohl, Hennig Stiebel ist in Amerika
gestorben, und der Amtmann aus Lichtenberg hat dies dem Bruder eröffnet.
Will aber der Verfasser seine Angabe auf diese nackte Thatsache beschränkt
wissen? Oder soll sich etwa die Beglaubigung auch auf das Nachfolgende be¬
ziehen? Vielleicht gar die gläubige Einfalt durch diese Verweisung absichtlich ge¬
täuscht werden?

Ich würde die Langmut auch der geduldigsten Leser erschöpfen, wollte
ich mit gleicher Ausführlichkeit auch die folgenden 116 Seiten des Buches be¬
sprechen. Nur einiges sei noch herausgegriffen. In seinem Bestreben, alle
Verhältnisse der Zeit zu verschlimmern, nimmt sich der Verfasser auch des
Bauernstandes an; leider vergißt er dabei zu bemerken, daß auch auf diesem
Gebiete während der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts große und heil¬
same Reformen durchgeführt worden sind, welche die heutige Blüte unsers
reichen Bauernstandes mit begründet haben. Dagegen behauptet er, ungehor¬
samen Bauern seien zur Strafe Soldaten ins Haus gelegt worden, die bald
Hab und Gut des Unglücklichen verwirtschaftet hätten. Ich kann versichern,
daß nur, obwohl ich viele auf diese Verhältnisse bezügliche Akten geordnet habe,
von derartigen Maßregeln nie auch uur das geringste aufgestoßen ist; ich halte ,
sie daher für eine leichtfertige Erfindung, bis sie aktenmäßig belegt wird.

Auch auf das Beamtentum wird ein schlechtes Licht geworfen. Die Ver¬
pachtung des Weghauses soll nicht ordnungsmäßig geschehen sein. Eine Einsicht
in die betreffenden Kammerakten hat mich gelehrt, daß nicht der mindeste Grund
für eine derartige Annahme vorhanden ist. daß vielmehr die meisten Angaben,
die der Verfasser hier macht, vollkommen falsch sind,*)

Vor allem aber wird der Herzog Karl Wilhelm Ferdinand so ungünstig
wie möglich dargestellt. Das scheint nun einmal Brauch bei gewisse" Lessing-
bivgraphen zu sei"; denn auch andere als der Verfasser lassen bei der Schil¬
derung dieses Fürsten den gründlichen Forschungseifer, die unparteiische Gerech¬
tigkeit und die offene Wahrheitsliebe ihres Helden leider nur zu häufig vermissen.
Herr von Seventornen zeichnet von dem Herzoge ein reines Zerrbild. Kein



*) Das Weghaus ist niemals ein Jagdschloß gewesen, wie der Versasser (S, 40) an¬
nimmt, sondern 1691 zum Zweck der Wcggeldeinnahme erbaut worden. Der neue Pächter
hieß 1780 nicht Th. Baldamus (S. 43), sondern Berger. Herzog Leopold hat sich mit der
ganzen Sache nichts zu schaffen gemacht. Herr v. S. hat ihn wohl nur hereingezogen, um
uns die überraschende Neuigkeit mitzuteilen, daß Lessing ihn nach Italien begleitete (S. 49).
Grenzboten II, 1883. ^
Ein neuer Lessingmythus.

Akte,, vieler braunschweigischen Ämter anch zahlreiche Militärakten durch die Hände
gegangen; ich habe aus ihnen die Überzeugung gewonnen, daß bei Aushebung
der Landsoldaten keineswegs mit peinlicher Strenge vorgegangen wurde, daß
dringende Familienrücksichten fast immer leicht die Entlassung bewirkten. Aber,
wird man sagen, S. 19 lesen wir ja, die Geschichte von Hennig Stiebel sei
ein amtlich beglaubigtes Faktum. Ja wohl, Hennig Stiebel ist in Amerika
gestorben, und der Amtmann aus Lichtenberg hat dies dem Bruder eröffnet.
Will aber der Verfasser seine Angabe auf diese nackte Thatsache beschränkt
wissen? Oder soll sich etwa die Beglaubigung auch auf das Nachfolgende be¬
ziehen? Vielleicht gar die gläubige Einfalt durch diese Verweisung absichtlich ge¬
täuscht werden?

Ich würde die Langmut auch der geduldigsten Leser erschöpfen, wollte
ich mit gleicher Ausführlichkeit auch die folgenden 116 Seiten des Buches be¬
sprechen. Nur einiges sei noch herausgegriffen. In seinem Bestreben, alle
Verhältnisse der Zeit zu verschlimmern, nimmt sich der Verfasser auch des
Bauernstandes an; leider vergißt er dabei zu bemerken, daß auch auf diesem
Gebiete während der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts große und heil¬
same Reformen durchgeführt worden sind, welche die heutige Blüte unsers
reichen Bauernstandes mit begründet haben. Dagegen behauptet er, ungehor¬
samen Bauern seien zur Strafe Soldaten ins Haus gelegt worden, die bald
Hab und Gut des Unglücklichen verwirtschaftet hätten. Ich kann versichern,
daß nur, obwohl ich viele auf diese Verhältnisse bezügliche Akten geordnet habe,
von derartigen Maßregeln nie auch uur das geringste aufgestoßen ist; ich halte ,
sie daher für eine leichtfertige Erfindung, bis sie aktenmäßig belegt wird.

Auch auf das Beamtentum wird ein schlechtes Licht geworfen. Die Ver¬
pachtung des Weghauses soll nicht ordnungsmäßig geschehen sein. Eine Einsicht
in die betreffenden Kammerakten hat mich gelehrt, daß nicht der mindeste Grund
für eine derartige Annahme vorhanden ist. daß vielmehr die meisten Angaben,
die der Verfasser hier macht, vollkommen falsch sind,*)

Vor allem aber wird der Herzog Karl Wilhelm Ferdinand so ungünstig
wie möglich dargestellt. Das scheint nun einmal Brauch bei gewisse» Lessing-
bivgraphen zu sei»; denn auch andere als der Verfasser lassen bei der Schil¬
derung dieses Fürsten den gründlichen Forschungseifer, die unparteiische Gerech¬
tigkeit und die offene Wahrheitsliebe ihres Helden leider nur zu häufig vermissen.
Herr von Seventornen zeichnet von dem Herzoge ein reines Zerrbild. Kein



*) Das Weghaus ist niemals ein Jagdschloß gewesen, wie der Versasser (S, 40) an¬
nimmt, sondern 1691 zum Zweck der Wcggeldeinnahme erbaut worden. Der neue Pächter
hieß 1780 nicht Th. Baldamus (S. 43), sondern Berger. Herzog Leopold hat sich mit der
ganzen Sache nichts zu schaffen gemacht. Herr v. S. hat ihn wohl nur hereingezogen, um
uns die überraschende Neuigkeit mitzuteilen, daß Lessing ihn nach Italien begleitete (S. 49).
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_152756/145>, abgerufen am 03.07.2024.