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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal.

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Die neue sächsische Gymnasial-Verordnung und die Überbürdungssrage.

UM mit der Jugend fühlen und ihre Bedürfnisse und Fähigkeiten richtig be¬
urteilen zu können. Wieviel kann in solch einem jugendlichen Kollegium ge¬
sündigt werden -- wenn auch immer in der besten Absicht -- durch übertriebene
Ansprüche an die Leistungsfähigkeit der Schüler, durch eine herz- und gemüt¬
lose Schulzucht, die in jedem Jungenwitz und Jungenstreich das Schreckgespenst
untergrabener Lehrerautorität erblickt!

Merkwürdigerweise glaubt man gerade an diesem Punkte jetzt den Hebel
zur Besserung ansetzen zu müssen, ohne zu bedenken, daß Jugend und Mangel
an Erfahrung doch schließlich diejenigen Fehler sind, die mit der Zeit von selber
wegfallen. Von dem zweiten Probejahre, das man in Preußen einzuführen
gedenkt, verspreche ich mir sehr wenig. Besondre Erfahrung wird in diesem
einen Jahre auch nicht gewonnen werden, wohl aber wird die feste Anstellung
des jungen Lehrers, die er ohnehin infolge des zu leistenden Militärdienstes
spät genug erreicht, abermals dadurch um ein Jahr hinausgeschoben werden.
In der Ausdehnung unsrer Gymnasien ist offenbar gegenwärtig ein Stillstand
eingetreten. In ganz Sachsen ist augenblicklich nicht eine einzige Gymnasial¬
lehrerstelle offen! Als eine wichtige Nachricht ging vor einigen Tagen durch
die ganze sächsische Lokalpresse die Notiz, daß der Korrektor der Kreuzschule in
Dresden um seine Emeritung gebeten habe. Es ist wirklich ein Ereignis, wenn
jetzt einmal eine Stelle offen wird. Sollte sichs da nicht empfehlen, zunächst
noch eine Reihe von Jahren zu warten, in der Schule die Dinge sich ruhig
weiter entwickeln zu lassen und den Hebel zur Besserung lieber an andrer Stelle
anzusetzen? Die jungen Lehrer werden ja älter, sie heiraten, sie bekommen
Söhne -- welch freundliche Aussicht! Jede Lehrerhochzeit und jede Kindtaufe
in Lehrers Hause ist ja auch ein Beitrag zur Lösung der Überbürdungssrage!
Wenn erst der eigne Junge des Lehrers, nachdem er sieben Stunden täglich
auf der Schulbank zugebracht hat, des Abends bis um elf Uhr mit blassem
Gesicht und schmalen Backen bei der Lampe über den Büchern sitzen wird --
dann wird es heißen: Ja, Bauer, das ist ganz was andres!




Gnnzbotm I. 1888.12
Die neue sächsische Gymnasial-Verordnung und die Überbürdungssrage.

UM mit der Jugend fühlen und ihre Bedürfnisse und Fähigkeiten richtig be¬
urteilen zu können. Wieviel kann in solch einem jugendlichen Kollegium ge¬
sündigt werden — wenn auch immer in der besten Absicht — durch übertriebene
Ansprüche an die Leistungsfähigkeit der Schüler, durch eine herz- und gemüt¬
lose Schulzucht, die in jedem Jungenwitz und Jungenstreich das Schreckgespenst
untergrabener Lehrerautorität erblickt!

Merkwürdigerweise glaubt man gerade an diesem Punkte jetzt den Hebel
zur Besserung ansetzen zu müssen, ohne zu bedenken, daß Jugend und Mangel
an Erfahrung doch schließlich diejenigen Fehler sind, die mit der Zeit von selber
wegfallen. Von dem zweiten Probejahre, das man in Preußen einzuführen
gedenkt, verspreche ich mir sehr wenig. Besondre Erfahrung wird in diesem
einen Jahre auch nicht gewonnen werden, wohl aber wird die feste Anstellung
des jungen Lehrers, die er ohnehin infolge des zu leistenden Militärdienstes
spät genug erreicht, abermals dadurch um ein Jahr hinausgeschoben werden.
In der Ausdehnung unsrer Gymnasien ist offenbar gegenwärtig ein Stillstand
eingetreten. In ganz Sachsen ist augenblicklich nicht eine einzige Gymnasial¬
lehrerstelle offen! Als eine wichtige Nachricht ging vor einigen Tagen durch
die ganze sächsische Lokalpresse die Notiz, daß der Korrektor der Kreuzschule in
Dresden um seine Emeritung gebeten habe. Es ist wirklich ein Ereignis, wenn
jetzt einmal eine Stelle offen wird. Sollte sichs da nicht empfehlen, zunächst
noch eine Reihe von Jahren zu warten, in der Schule die Dinge sich ruhig
weiter entwickeln zu lassen und den Hebel zur Besserung lieber an andrer Stelle
anzusetzen? Die jungen Lehrer werden ja älter, sie heiraten, sie bekommen
Söhne — welch freundliche Aussicht! Jede Lehrerhochzeit und jede Kindtaufe
in Lehrers Hause ist ja auch ein Beitrag zur Lösung der Überbürdungssrage!
Wenn erst der eigne Junge des Lehrers, nachdem er sieben Stunden täglich
auf der Schulbank zugebracht hat, des Abends bis um elf Uhr mit blassem
Gesicht und schmalen Backen bei der Lampe über den Büchern sitzen wird —
dann wird es heißen: Ja, Bauer, das ist ganz was andres!




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[0097] Die neue sächsische Gymnasial-Verordnung und die Überbürdungssrage. UM mit der Jugend fühlen und ihre Bedürfnisse und Fähigkeiten richtig be¬ urteilen zu können. Wieviel kann in solch einem jugendlichen Kollegium ge¬ sündigt werden — wenn auch immer in der besten Absicht — durch übertriebene Ansprüche an die Leistungsfähigkeit der Schüler, durch eine herz- und gemüt¬ lose Schulzucht, die in jedem Jungenwitz und Jungenstreich das Schreckgespenst untergrabener Lehrerautorität erblickt! Merkwürdigerweise glaubt man gerade an diesem Punkte jetzt den Hebel zur Besserung ansetzen zu müssen, ohne zu bedenken, daß Jugend und Mangel an Erfahrung doch schließlich diejenigen Fehler sind, die mit der Zeit von selber wegfallen. Von dem zweiten Probejahre, das man in Preußen einzuführen gedenkt, verspreche ich mir sehr wenig. Besondre Erfahrung wird in diesem einen Jahre auch nicht gewonnen werden, wohl aber wird die feste Anstellung des jungen Lehrers, die er ohnehin infolge des zu leistenden Militärdienstes spät genug erreicht, abermals dadurch um ein Jahr hinausgeschoben werden. In der Ausdehnung unsrer Gymnasien ist offenbar gegenwärtig ein Stillstand eingetreten. In ganz Sachsen ist augenblicklich nicht eine einzige Gymnasial¬ lehrerstelle offen! Als eine wichtige Nachricht ging vor einigen Tagen durch die ganze sächsische Lokalpresse die Notiz, daß der Korrektor der Kreuzschule in Dresden um seine Emeritung gebeten habe. Es ist wirklich ein Ereignis, wenn jetzt einmal eine Stelle offen wird. Sollte sichs da nicht empfehlen, zunächst noch eine Reihe von Jahren zu warten, in der Schule die Dinge sich ruhig weiter entwickeln zu lassen und den Hebel zur Besserung lieber an andrer Stelle anzusetzen? Die jungen Lehrer werden ja älter, sie heiraten, sie bekommen Söhne — welch freundliche Aussicht! Jede Lehrerhochzeit und jede Kindtaufe in Lehrers Hause ist ja auch ein Beitrag zur Lösung der Überbürdungssrage! Wenn erst der eigne Junge des Lehrers, nachdem er sieben Stunden täglich auf der Schulbank zugebracht hat, des Abends bis um elf Uhr mit blassem Gesicht und schmalen Backen bei der Lampe über den Büchern sitzen wird — dann wird es heißen: Ja, Bauer, das ist ganz was andres! Gnnzbotm I. 1888.12

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_151310/97>, abgerufen am 23.07.2024.