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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal.

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Die neue sächsische Gymnasial-Verordnung und die Uberbürdungssrage.

von den öffentlichen Bibliotheken absieht; denn diejenigen Leute, welche die
Mittel zur Anschaffung solcher kostspieligen Werke besitzen, kaufen dafür lieber
"illustrirte Prachtwerke," mit Flittertand verbrämte Klassiker, oder Italien,
Ägypten, Spanien, Indien "in Wort und Bild," Wer das für einen Fort¬
schritt in unsrer Bildung ansteht, der mag es thun.

Dieser traurige Rückgang unsrer klassischen Bildung hat schon vor fünfzig,
sechzig Jahren begonnen; aber er ist beschleunigt worden durch diejenige Schöpfung,
die zugleich sein deutlichstes Symptom war, durch die Realschule, Daß das
Gymnasium in schwächlicher Furcht vor der Konkurrenz der zudringliche" und
aufdringlichen Realschule sich zu Konzessionen herbeigelassen und die Ansprüche
in der Mathematik und in allen Realien in die Höhe schrauben zu können ge¬
glaubt hat, ohne in seinem innersten Wesen Schaden zu nehmen, war der erste
verhängnisvolle Schritt zu den gegenwärtigen Zuständen. Wie recht hatte doch
Goethe, als er in "Dichtung und Wahrheit" klagte über "den Schaden, den man
anrichtet, wenn man junge Leute auf Schulen in manchen Dingen zu weit führt,"
wenn man "deu Sprachübungen und der Begründung in dem, was eigentliche
Vorkenntnisse sind, Zeit und Aufmerksamkeit abbricht, um sie an sogenannte
Realitäten zu wenden, welche mehr zerstreuen als bilden, wenn sie nicht methodisch
und vollständig überliefert werden," wie recht, als er im Anhange zu den
"Wanderjahren"den gewiß aus seinen tiefsten Seele kommenden Wunsch aussprach:
"Möge das Studium der griechischen und römischen Literatur immerfort die
Basis der höhern Bildung bleiben!" Hätte doch das Gymnasium seiner Zeit
den Mut gehabt, fest auf seinem Grund und Boden stehen zu bleiben! Die
Realschule würde eine Zeit lang die Mvdeschule gewesen, ihre Unzulänglichkeit
aber noch viel schneller zu Tage getreten sein, als dies ohnehin geschehen ist.
Auch die Realschule hat ja im Laufe der Zeit dem Gymnasium ein Stück ent¬
gegenkommen müssen. Zu einem Kompromiß aber, wie er gegenwärtig besteht,
und bei dem das Gymnasium zu einer halben Realschule degradirt ist, die Real¬
schule in Preußen sich glücklich den Namen Realgymnasium (!) erschrieen hat -- ein
lächerliches Oxymoron, das nur dazu dienen kann, Urteilslose irrezuführen --,
zu einem solchen Kompromiß hätte es nimmermehr kommen dürfen. Er be¬
zeichnet den Anfang zu dem Verfall der humanistischen Studien einerseits, zu
der Überbürdung andrerseits. Da der Unterricht in den klassischen Sprachen
sich durch die immer anspruchsvoller in den Vordergrund tretende Mathematik
bedroht sah, so fingen nun beide Disziplinen an, sich in unbehaglicher Weise
innerhalb ein und derselben Anstalt den Rang abzulaufen, und dazu gesellte
sich der tote Gedächtniskram der ebenfalls immer mehr Ansprüche machenden
"Realitäten."

Vollends akut aber mußten die Zustände werden, als auf den Universitäten
das Spezialistentum im philologischen Studium begann. Für die Leipziger
Universität läßt sich der Zeitpunkt, mit welchem dies geschah, genau nach-


Die neue sächsische Gymnasial-Verordnung und die Uberbürdungssrage.

von den öffentlichen Bibliotheken absieht; denn diejenigen Leute, welche die
Mittel zur Anschaffung solcher kostspieligen Werke besitzen, kaufen dafür lieber
„illustrirte Prachtwerke," mit Flittertand verbrämte Klassiker, oder Italien,
Ägypten, Spanien, Indien „in Wort und Bild," Wer das für einen Fort¬
schritt in unsrer Bildung ansteht, der mag es thun.

Dieser traurige Rückgang unsrer klassischen Bildung hat schon vor fünfzig,
sechzig Jahren begonnen; aber er ist beschleunigt worden durch diejenige Schöpfung,
die zugleich sein deutlichstes Symptom war, durch die Realschule, Daß das
Gymnasium in schwächlicher Furcht vor der Konkurrenz der zudringliche» und
aufdringlichen Realschule sich zu Konzessionen herbeigelassen und die Ansprüche
in der Mathematik und in allen Realien in die Höhe schrauben zu können ge¬
glaubt hat, ohne in seinem innersten Wesen Schaden zu nehmen, war der erste
verhängnisvolle Schritt zu den gegenwärtigen Zuständen. Wie recht hatte doch
Goethe, als er in „Dichtung und Wahrheit" klagte über „den Schaden, den man
anrichtet, wenn man junge Leute auf Schulen in manchen Dingen zu weit führt,"
wenn man „deu Sprachübungen und der Begründung in dem, was eigentliche
Vorkenntnisse sind, Zeit und Aufmerksamkeit abbricht, um sie an sogenannte
Realitäten zu wenden, welche mehr zerstreuen als bilden, wenn sie nicht methodisch
und vollständig überliefert werden," wie recht, als er im Anhange zu den
„Wanderjahren"den gewiß aus seinen tiefsten Seele kommenden Wunsch aussprach:
„Möge das Studium der griechischen und römischen Literatur immerfort die
Basis der höhern Bildung bleiben!" Hätte doch das Gymnasium seiner Zeit
den Mut gehabt, fest auf seinem Grund und Boden stehen zu bleiben! Die
Realschule würde eine Zeit lang die Mvdeschule gewesen, ihre Unzulänglichkeit
aber noch viel schneller zu Tage getreten sein, als dies ohnehin geschehen ist.
Auch die Realschule hat ja im Laufe der Zeit dem Gymnasium ein Stück ent¬
gegenkommen müssen. Zu einem Kompromiß aber, wie er gegenwärtig besteht,
und bei dem das Gymnasium zu einer halben Realschule degradirt ist, die Real¬
schule in Preußen sich glücklich den Namen Realgymnasium (!) erschrieen hat — ein
lächerliches Oxymoron, das nur dazu dienen kann, Urteilslose irrezuführen —,
zu einem solchen Kompromiß hätte es nimmermehr kommen dürfen. Er be¬
zeichnet den Anfang zu dem Verfall der humanistischen Studien einerseits, zu
der Überbürdung andrerseits. Da der Unterricht in den klassischen Sprachen
sich durch die immer anspruchsvoller in den Vordergrund tretende Mathematik
bedroht sah, so fingen nun beide Disziplinen an, sich in unbehaglicher Weise
innerhalb ein und derselben Anstalt den Rang abzulaufen, und dazu gesellte
sich der tote Gedächtniskram der ebenfalls immer mehr Ansprüche machenden
„Realitäten."

Vollends akut aber mußten die Zustände werden, als auf den Universitäten
das Spezialistentum im philologischen Studium begann. Für die Leipziger
Universität läßt sich der Zeitpunkt, mit welchem dies geschah, genau nach-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_151310/94>, abgerufen am 25.08.2024.