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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal.

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Die neue sächsische Gymnasial-Verordnung und die Überbürdungsfrage,

um unsre Gymnasialzustände in die Sackgasse zu treiben, aus der man jetzt
den Ausweg sucht.

Der Niedergang unsrer klassischen Bildung zwar datirt weit zurück. Sehr
richtig bemerkt der Verfasser des obigen Aufsatzes, daß der Primaner heutzutage
ein Rcallexikon des klassischen Altertums zu Hilfe nehmen möchte, um unsre
deutschen Schriftsteller aus der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts zu
verstehen. Wer nicht der Primaner bloß, sondern leider auch der Lehrer. Auf
einer einzigen Seite von Lessings Laokoon, von einer poetischen Erzählung Wie¬
lands mache ich mich anheischig, ein halb Dutzend Anspielungen ans Personen,
Orte, Ereignisse, Kunstwerke, Sagen, Anekdoten des klassischen Altertums nach¬
zuweisen, die unsre jüngern Gymnasialphilologen nicht mehr ohne nachzuschlagen
verstehen sollen. Und dabei schrieben Lessing und Wieland nicht für Gelehrte,
sondern für das gebildete Publikum ihrer Zeit! Was würden unsre Klassiker
sagen, wenn sie die heutigen kommentirten Ausgaben ihrer Schriften sähen, sähen,
was für Stellen man heutzutage für erklärungsbedürftig hält, die vor hundert
Jahren jeder Mensch verstand, der eine Lateinschule besucht hatte!

Professor Blümner, der bekannte Archäolog in Zürich, hat vor wenigen
Wochen eine neue Ausgabe von Winckelmanns Briefen an seine Züricher Freunde
veröffentlicht (Freiburg, Mohr, 1882). Im Vorwort giebt er die Gründe an,
die ihn zur erneuten Herausgabe dieser Briefe bewogen haben, und bezeichnet
als solchen unter andern anch die Erwägung, daß es durchaus nichts schaden
könne, wenn man unsrer heutigen Generation einmal zu Gemüte führte, daß
wir es doch eigentlich gar nicht so herrlich weit gebracht, daß vielmehr die viel¬
geschmähte alte Zeit doch so manches aufzuweisen gehabt habe, was wir in unsrer
modernen Kultur schmerzlich vermissen. Mochte -- sagt Blümner wörtlich -- der
Horizont der Männer, an welche diese Briefe gerichtet sind, in mancher Be¬
ziehung beschränkter sein als der unsrige, eins ist doch gewiß: in geistiger
Hinsicht, namentlich was literarische und künstlerische Interessen betrifft, standen
dieselben, zumal wenn man berücksichtigt, daß es sich hier nicht bloß um Ge¬
lehrte, sondern auch um Künstler und Kaufleute handelt, entschieden über der
modernen Durchschnittsbildung. Davon legt nicht nur der Inhalt der an sie
gerichteten Briefe mit der Beantwortung ihrer mannichfaltigen Fragen deutliches
Zeugnis ab, sondern es läßt sich dafür noch ein drastischerer Beleg anführen.
Als Winckelmann seine NoimmsiM inoälli im Selbstverlag herausgab und Be¬
stellungen dafür von den Freunden erbat, freilich etwas besorgt, daß der Preis
von acht Zechinen etwas zu hoch erscheinen möchte, da bestellte Mendel für
Basel neu", Usteri für Zürich elf Exemplare! Wenn heute der erste der gegen¬
wärtig lebenden Kunsthistoriker ein 150 Franks kostendes Werk in italienischer
Sprache, worin in streng wissenschaftlich gelehrter Weise antike Denkmäler ab¬
gebildet und erklärt werden, herausgäbe, wieviel Exemplare davon würden heute
selbst in einer Stadt wie Berlin abgesetzt werden? Schwerlich elf, wenn man


Die neue sächsische Gymnasial-Verordnung und die Überbürdungsfrage,

um unsre Gymnasialzustände in die Sackgasse zu treiben, aus der man jetzt
den Ausweg sucht.

Der Niedergang unsrer klassischen Bildung zwar datirt weit zurück. Sehr
richtig bemerkt der Verfasser des obigen Aufsatzes, daß der Primaner heutzutage
ein Rcallexikon des klassischen Altertums zu Hilfe nehmen möchte, um unsre
deutschen Schriftsteller aus der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts zu
verstehen. Wer nicht der Primaner bloß, sondern leider auch der Lehrer. Auf
einer einzigen Seite von Lessings Laokoon, von einer poetischen Erzählung Wie¬
lands mache ich mich anheischig, ein halb Dutzend Anspielungen ans Personen,
Orte, Ereignisse, Kunstwerke, Sagen, Anekdoten des klassischen Altertums nach¬
zuweisen, die unsre jüngern Gymnasialphilologen nicht mehr ohne nachzuschlagen
verstehen sollen. Und dabei schrieben Lessing und Wieland nicht für Gelehrte,
sondern für das gebildete Publikum ihrer Zeit! Was würden unsre Klassiker
sagen, wenn sie die heutigen kommentirten Ausgaben ihrer Schriften sähen, sähen,
was für Stellen man heutzutage für erklärungsbedürftig hält, die vor hundert
Jahren jeder Mensch verstand, der eine Lateinschule besucht hatte!

Professor Blümner, der bekannte Archäolog in Zürich, hat vor wenigen
Wochen eine neue Ausgabe von Winckelmanns Briefen an seine Züricher Freunde
veröffentlicht (Freiburg, Mohr, 1882). Im Vorwort giebt er die Gründe an,
die ihn zur erneuten Herausgabe dieser Briefe bewogen haben, und bezeichnet
als solchen unter andern anch die Erwägung, daß es durchaus nichts schaden
könne, wenn man unsrer heutigen Generation einmal zu Gemüte führte, daß
wir es doch eigentlich gar nicht so herrlich weit gebracht, daß vielmehr die viel¬
geschmähte alte Zeit doch so manches aufzuweisen gehabt habe, was wir in unsrer
modernen Kultur schmerzlich vermissen. Mochte — sagt Blümner wörtlich — der
Horizont der Männer, an welche diese Briefe gerichtet sind, in mancher Be¬
ziehung beschränkter sein als der unsrige, eins ist doch gewiß: in geistiger
Hinsicht, namentlich was literarische und künstlerische Interessen betrifft, standen
dieselben, zumal wenn man berücksichtigt, daß es sich hier nicht bloß um Ge¬
lehrte, sondern auch um Künstler und Kaufleute handelt, entschieden über der
modernen Durchschnittsbildung. Davon legt nicht nur der Inhalt der an sie
gerichteten Briefe mit der Beantwortung ihrer mannichfaltigen Fragen deutliches
Zeugnis ab, sondern es läßt sich dafür noch ein drastischerer Beleg anführen.
Als Winckelmann seine NoimmsiM inoälli im Selbstverlag herausgab und Be¬
stellungen dafür von den Freunden erbat, freilich etwas besorgt, daß der Preis
von acht Zechinen etwas zu hoch erscheinen möchte, da bestellte Mendel für
Basel neu», Usteri für Zürich elf Exemplare! Wenn heute der erste der gegen¬
wärtig lebenden Kunsthistoriker ein 150 Franks kostendes Werk in italienischer
Sprache, worin in streng wissenschaftlich gelehrter Weise antike Denkmäler ab¬
gebildet und erklärt werden, herausgäbe, wieviel Exemplare davon würden heute
selbst in einer Stadt wie Berlin abgesetzt werden? Schwerlich elf, wenn man


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[0093] Die neue sächsische Gymnasial-Verordnung und die Überbürdungsfrage, um unsre Gymnasialzustände in die Sackgasse zu treiben, aus der man jetzt den Ausweg sucht. Der Niedergang unsrer klassischen Bildung zwar datirt weit zurück. Sehr richtig bemerkt der Verfasser des obigen Aufsatzes, daß der Primaner heutzutage ein Rcallexikon des klassischen Altertums zu Hilfe nehmen möchte, um unsre deutschen Schriftsteller aus der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts zu verstehen. Wer nicht der Primaner bloß, sondern leider auch der Lehrer. Auf einer einzigen Seite von Lessings Laokoon, von einer poetischen Erzählung Wie¬ lands mache ich mich anheischig, ein halb Dutzend Anspielungen ans Personen, Orte, Ereignisse, Kunstwerke, Sagen, Anekdoten des klassischen Altertums nach¬ zuweisen, die unsre jüngern Gymnasialphilologen nicht mehr ohne nachzuschlagen verstehen sollen. Und dabei schrieben Lessing und Wieland nicht für Gelehrte, sondern für das gebildete Publikum ihrer Zeit! Was würden unsre Klassiker sagen, wenn sie die heutigen kommentirten Ausgaben ihrer Schriften sähen, sähen, was für Stellen man heutzutage für erklärungsbedürftig hält, die vor hundert Jahren jeder Mensch verstand, der eine Lateinschule besucht hatte! Professor Blümner, der bekannte Archäolog in Zürich, hat vor wenigen Wochen eine neue Ausgabe von Winckelmanns Briefen an seine Züricher Freunde veröffentlicht (Freiburg, Mohr, 1882). Im Vorwort giebt er die Gründe an, die ihn zur erneuten Herausgabe dieser Briefe bewogen haben, und bezeichnet als solchen unter andern anch die Erwägung, daß es durchaus nichts schaden könne, wenn man unsrer heutigen Generation einmal zu Gemüte führte, daß wir es doch eigentlich gar nicht so herrlich weit gebracht, daß vielmehr die viel¬ geschmähte alte Zeit doch so manches aufzuweisen gehabt habe, was wir in unsrer modernen Kultur schmerzlich vermissen. Mochte — sagt Blümner wörtlich — der Horizont der Männer, an welche diese Briefe gerichtet sind, in mancher Be¬ ziehung beschränkter sein als der unsrige, eins ist doch gewiß: in geistiger Hinsicht, namentlich was literarische und künstlerische Interessen betrifft, standen dieselben, zumal wenn man berücksichtigt, daß es sich hier nicht bloß um Ge¬ lehrte, sondern auch um Künstler und Kaufleute handelt, entschieden über der modernen Durchschnittsbildung. Davon legt nicht nur der Inhalt der an sie gerichteten Briefe mit der Beantwortung ihrer mannichfaltigen Fragen deutliches Zeugnis ab, sondern es läßt sich dafür noch ein drastischerer Beleg anführen. Als Winckelmann seine NoimmsiM inoälli im Selbstverlag herausgab und Be¬ stellungen dafür von den Freunden erbat, freilich etwas besorgt, daß der Preis von acht Zechinen etwas zu hoch erscheinen möchte, da bestellte Mendel für Basel neu», Usteri für Zürich elf Exemplare! Wenn heute der erste der gegen¬ wärtig lebenden Kunsthistoriker ein 150 Franks kostendes Werk in italienischer Sprache, worin in streng wissenschaftlich gelehrter Weise antike Denkmäler ab¬ gebildet und erklärt werden, herausgäbe, wieviel Exemplare davon würden heute selbst in einer Stadt wie Berlin abgesetzt werden? Schwerlich elf, wenn man

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_151310/93>, abgerufen am 25.08.2024.