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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal.

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Sie neue sächsische Gymnasial-Verordnung und die Überbürdungssrage.

In den obern Klassen wurde in früherer Zeit der Zweck verfolgt, daß die Schüler
des Gymnasiums die lateinische Sprache zum Organ für den Ausdruck ihrer
Gedanken machen könnten. Mag man nach verschiedner Ansicht darin bloß eine
Erbschaft aus einem Zeitalter sehen, in welchem das Latein die internationale
Sprache der Gebildeten war, oder mag man darin einen Ausdruck des Wertes
finden, welchen die selbständige Herrschaft über eine fremde, insbesondere eine
von der Muttersprache weit entfernte Sprache für die formale Gedankenbildung
besitzt: jedenfalls ist ein solches Ziel, von allen etwaigen Zweifeln an seinem
Werte abgesehen, nicht mehr erreichbar, seitdem selbst unter den Meistern der
Philologie diese Virtuosität nicht mehr Regel ist und daher diesem Teile des
Gymnasialunterrichts nicht selten die unerläßliche Bedingung des Erfolgs fehlt,
das eigne sichere und leichte Können des Lehrers." Mit dieser Darlegung scheint
uns die preußische Auffassung das Nichtige besser zu treffen als die sächsische.
Auch die preußische Zirkularverfügung will nicht auf schriftliche und mündliche
Übungen im Lateinischen verzichten, aber jene Beherrschung der Sprache, welche
die sächsische Verordnung bei allem Einlenken in eine bessere Bahn noch immer
als den Zweck des lateinischen Unterrichts bezeichnet, ist ihr nicht mehr Zweck,
sondern nur noch Mittel. Damit kehrt die preußische Zirkularverfügung er¬
freulicherweise zu jener Auffassung zurück, welche man am Ende des vorigen
und Anfang dieses Jahrhunderts vom Unterricht in den klassischen Sprachen
hatte. Man lernte freilich, und die alten Grammatiker geben uns ja den
Beweis, bei weitem nicht die Fülle von grammatischen Regeln und Ausnahmen
wie heutzutage, und das Latein, welches man damals schrieb, war nach der
Anschauung unsrer Tage nicht immer korrekt, aber man lebte dafür unstreitig
in der reichen Welt des Altertums und war voll von ihrer Literatur. Jetzt
möchte der Primaner Lübkers Reällexikvn des klassischen Altertums wälzen,
um eine Seite aus -- Lessing, Wieland, Herder zu verstehen. So wenig ist er
in der Mythologie, der Kunst und der Literatur der Alten zu Hause. Wer
könnte sich nicht ans jungen Jahren jener Pastoren, Gerichtsräte und Ärzte
entsinnen, die noch, in ihrem Alter die lernende Jugendzeit sich fröhlich
ins Gedächtnis zurückrufend, wacker ihre lateinischen Oden schmiedeten? Wie
selten sind jetzt selbst Philologen geworden, die auf solche Kunst sich verstehen!
Damals las noch der Dorfpfarrer neben der Bibel seinen Homer und Horaz.
Wer heutzutage das Gymnasium hinter sich hat, schüttelt so schnell als möglich
die Unmasse von grammatischen Regeln ab, die er gelernt hat, so schnell, daß er
schon nach wenigen Jahren nicht mehr imstande ist, einen lateinischen oder
griechischen Schriftsteller zu lesen. Und was ist von dem Inhalte der Geistes¬
werke der Alten geblieben? So verschwindend wenig, daß in den letzten Jahren
gerade aus diesem Grunde sich die Stimmen gegen die klassische Bildung ge¬
mehrt haben. Hier ist ein Zurückschrauben der Forderungen am dringendsten
notwendig, dieses Zurückgehen würde einen großen Fortschritt bedeuten.


Greiizlwlm I. 1383. 11
Sie neue sächsische Gymnasial-Verordnung und die Überbürdungssrage.

In den obern Klassen wurde in früherer Zeit der Zweck verfolgt, daß die Schüler
des Gymnasiums die lateinische Sprache zum Organ für den Ausdruck ihrer
Gedanken machen könnten. Mag man nach verschiedner Ansicht darin bloß eine
Erbschaft aus einem Zeitalter sehen, in welchem das Latein die internationale
Sprache der Gebildeten war, oder mag man darin einen Ausdruck des Wertes
finden, welchen die selbständige Herrschaft über eine fremde, insbesondere eine
von der Muttersprache weit entfernte Sprache für die formale Gedankenbildung
besitzt: jedenfalls ist ein solches Ziel, von allen etwaigen Zweifeln an seinem
Werte abgesehen, nicht mehr erreichbar, seitdem selbst unter den Meistern der
Philologie diese Virtuosität nicht mehr Regel ist und daher diesem Teile des
Gymnasialunterrichts nicht selten die unerläßliche Bedingung des Erfolgs fehlt,
das eigne sichere und leichte Können des Lehrers." Mit dieser Darlegung scheint
uns die preußische Auffassung das Nichtige besser zu treffen als die sächsische.
Auch die preußische Zirkularverfügung will nicht auf schriftliche und mündliche
Übungen im Lateinischen verzichten, aber jene Beherrschung der Sprache, welche
die sächsische Verordnung bei allem Einlenken in eine bessere Bahn noch immer
als den Zweck des lateinischen Unterrichts bezeichnet, ist ihr nicht mehr Zweck,
sondern nur noch Mittel. Damit kehrt die preußische Zirkularverfügung er¬
freulicherweise zu jener Auffassung zurück, welche man am Ende des vorigen
und Anfang dieses Jahrhunderts vom Unterricht in den klassischen Sprachen
hatte. Man lernte freilich, und die alten Grammatiker geben uns ja den
Beweis, bei weitem nicht die Fülle von grammatischen Regeln und Ausnahmen
wie heutzutage, und das Latein, welches man damals schrieb, war nach der
Anschauung unsrer Tage nicht immer korrekt, aber man lebte dafür unstreitig
in der reichen Welt des Altertums und war voll von ihrer Literatur. Jetzt
möchte der Primaner Lübkers Reällexikvn des klassischen Altertums wälzen,
um eine Seite aus — Lessing, Wieland, Herder zu verstehen. So wenig ist er
in der Mythologie, der Kunst und der Literatur der Alten zu Hause. Wer
könnte sich nicht ans jungen Jahren jener Pastoren, Gerichtsräte und Ärzte
entsinnen, die noch, in ihrem Alter die lernende Jugendzeit sich fröhlich
ins Gedächtnis zurückrufend, wacker ihre lateinischen Oden schmiedeten? Wie
selten sind jetzt selbst Philologen geworden, die auf solche Kunst sich verstehen!
Damals las noch der Dorfpfarrer neben der Bibel seinen Homer und Horaz.
Wer heutzutage das Gymnasium hinter sich hat, schüttelt so schnell als möglich
die Unmasse von grammatischen Regeln ab, die er gelernt hat, so schnell, daß er
schon nach wenigen Jahren nicht mehr imstande ist, einen lateinischen oder
griechischen Schriftsteller zu lesen. Und was ist von dem Inhalte der Geistes¬
werke der Alten geblieben? So verschwindend wenig, daß in den letzten Jahren
gerade aus diesem Grunde sich die Stimmen gegen die klassische Bildung ge¬
mehrt haben. Hier ist ein Zurückschrauben der Forderungen am dringendsten
notwendig, dieses Zurückgehen würde einen großen Fortschritt bedeuten.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_151310/89>, abgerufen am 23.07.2024.