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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal.

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Kleine pädagogische Ketzereien.

nochmals in ein graues Papier eingeschlagen. Alles dies machte sich vor dreißig
Jahren ein richtiger Junge selber zurecht und hatte dabei mannichfache Gelegen¬
heit, Handfertigkeit zu entwickeln und sich anzueignen. Ich denke noch mit
Vergnügen daran, wie wir durch Ausschneiden zierlich geränderter Buchschildchen
einander zu überbieten suchten. Heute stehen die Kinder dabei und staunen den
Vater wie einen Tausendkünstler an, wenn er ein Buch heftet, ein Briefkouvert
bricht und schneidet, ein gedrucktes Buch zur Schonung des Einbandes mit
einem kunstgerechten Papierumschlage versieht. Solche Dinge haben wir in
früherer Zeit in der Schule gelernt; das war unser "Handfertigkeitsunterricht."

Wir waren aber dabei früher auch sparsamer als die heutige Jugend, die
ihre Hefte mit unglaublicher Geschwindigkeit vollschreibt. Durch übermäßig
breiten Rand und weitabstehende Zeilen in den Schreibebüchern, in den Rechen¬
büchern durch die Einrichtung, daß jedes einzelne Zahlzeichen in ein besondres
Kästchen gesetzt wird und infolge dessen auf einer Quartseite zwei solcher Divisions¬
exempel Platz finden, deren wir früher mindestens acht auf die Seite schrieben,
wird erreicht, daß die Besuche bei Mitscherlichs das ganze Jahr über nicht abreißen.
ZuM Überfluß hat der brave Herr Mitscherlich noch ein Mittel, durch das er
eine ganz besondre Anziehungskraft auf die Kinder ausübt. Er hat unter seiner
Ladentafel eine Pappschachtel stehen, worin allerhand Ausschuß von jenem
nichtsnutzigen kleinen Plunder liegt, der in Gestalt von bunten und in Relief
gepreßten Blumensträußchen, Vögeln, Männchen, Häuschen u. s. w. jetzt die
Schaukästen aller Papier- und Schreibwaarentrödler füllt. So oft sich nun
ein Junge ein neues Schreibeheft oder ein paar neue Alfredfedern holt, greift
Herr Mitscherlich in besagte Schachtel und giebt ihm einen Papagei oder einen
Ulanen oder ein Schweizerhäuschen zu, und das ist für den Jungen natürlich
der Glanzpunkt bei dem ganzen Geschäft. Um dieses Bildchens willen kann
er's nicht erwarten, bis er in seinem Heft wieder auf der letzten Seite ange¬
langt ist.

Noch schlimmer aber als die Bequemlichkeit und die Verschwendung, zu
der die Jugend durch diesen Trödel mit "Schreibutensilien" gewöhnt wird, ist
der Umstand, daß die Schule selbst die Kinder hierzu nicht bloß anleitet, sondern
geradezu nötigt, indem sie sie alle über einen Kamm scheert. Es ist mir
unbegreiflich, wie man vierzig verschiedne Kinderhände dazu zwingen kann, mit
ein und derselben Feder, und noch dazu mit einem solchen Martcrinstrument,
zu schreiben! Jeder Erwachsene sucht sich doch die Feder aus, die ihm bequem
ist, und hier verdirbt man von vornherein eine bildungsfähige Hand durch ein
hartes, kritzliches Instrument -- vermutlich nur unsrer heutigen, nach meinem
Geschmack völlig charakterlosen Schulkalligraphie zu liebe, die sich in ihrer glatten,
kraftlosen Eleganz gegen den alten markigen Kanzleiduktus ausnimmt, wie
ein geschniegelter Zierbengel gegen einen einfachen, tüchtigen Mann. Es ist
mir ferner unbegreiflich, wie man vierzig Kindern der verschiedensten Art und


Kleine pädagogische Ketzereien.

nochmals in ein graues Papier eingeschlagen. Alles dies machte sich vor dreißig
Jahren ein richtiger Junge selber zurecht und hatte dabei mannichfache Gelegen¬
heit, Handfertigkeit zu entwickeln und sich anzueignen. Ich denke noch mit
Vergnügen daran, wie wir durch Ausschneiden zierlich geränderter Buchschildchen
einander zu überbieten suchten. Heute stehen die Kinder dabei und staunen den
Vater wie einen Tausendkünstler an, wenn er ein Buch heftet, ein Briefkouvert
bricht und schneidet, ein gedrucktes Buch zur Schonung des Einbandes mit
einem kunstgerechten Papierumschlage versieht. Solche Dinge haben wir in
früherer Zeit in der Schule gelernt; das war unser „Handfertigkeitsunterricht."

Wir waren aber dabei früher auch sparsamer als die heutige Jugend, die
ihre Hefte mit unglaublicher Geschwindigkeit vollschreibt. Durch übermäßig
breiten Rand und weitabstehende Zeilen in den Schreibebüchern, in den Rechen¬
büchern durch die Einrichtung, daß jedes einzelne Zahlzeichen in ein besondres
Kästchen gesetzt wird und infolge dessen auf einer Quartseite zwei solcher Divisions¬
exempel Platz finden, deren wir früher mindestens acht auf die Seite schrieben,
wird erreicht, daß die Besuche bei Mitscherlichs das ganze Jahr über nicht abreißen.
ZuM Überfluß hat der brave Herr Mitscherlich noch ein Mittel, durch das er
eine ganz besondre Anziehungskraft auf die Kinder ausübt. Er hat unter seiner
Ladentafel eine Pappschachtel stehen, worin allerhand Ausschuß von jenem
nichtsnutzigen kleinen Plunder liegt, der in Gestalt von bunten und in Relief
gepreßten Blumensträußchen, Vögeln, Männchen, Häuschen u. s. w. jetzt die
Schaukästen aller Papier- und Schreibwaarentrödler füllt. So oft sich nun
ein Junge ein neues Schreibeheft oder ein paar neue Alfredfedern holt, greift
Herr Mitscherlich in besagte Schachtel und giebt ihm einen Papagei oder einen
Ulanen oder ein Schweizerhäuschen zu, und das ist für den Jungen natürlich
der Glanzpunkt bei dem ganzen Geschäft. Um dieses Bildchens willen kann
er's nicht erwarten, bis er in seinem Heft wieder auf der letzten Seite ange¬
langt ist.

Noch schlimmer aber als die Bequemlichkeit und die Verschwendung, zu
der die Jugend durch diesen Trödel mit „Schreibutensilien" gewöhnt wird, ist
der Umstand, daß die Schule selbst die Kinder hierzu nicht bloß anleitet, sondern
geradezu nötigt, indem sie sie alle über einen Kamm scheert. Es ist mir
unbegreiflich, wie man vierzig verschiedne Kinderhände dazu zwingen kann, mit
ein und derselben Feder, und noch dazu mit einem solchen Martcrinstrument,
zu schreiben! Jeder Erwachsene sucht sich doch die Feder aus, die ihm bequem
ist, und hier verdirbt man von vornherein eine bildungsfähige Hand durch ein
hartes, kritzliches Instrument — vermutlich nur unsrer heutigen, nach meinem
Geschmack völlig charakterlosen Schulkalligraphie zu liebe, die sich in ihrer glatten,
kraftlosen Eleganz gegen den alten markigen Kanzleiduktus ausnimmt, wie
ein geschniegelter Zierbengel gegen einen einfachen, tüchtigen Mann. Es ist
mir ferner unbegreiflich, wie man vierzig Kindern der verschiedensten Art und


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_151310/700>, abgerufen am 23.07.2024.