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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal.

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Rieme pädagogische Ketzereien.

mit der Aufschrift "Schreibntensilien" --- ein Wort, das für die vorbeigehende
Schuljugend einen umso größeren Zauber hat, je weniger sie sich darunter
denken können; meine Kleine, die gern über die Bedeutung der Wörter grübelt,
fragte mich neulich, ob Utensilic wohl mit Petersilie zusammenhinge.)

Zwei Tage später hat wieder einer sein Rechenbuch ausgeschrieben, den
dritten Tag sein "Diarium," und den vierten quälen sie wieder um ein paar
Pfennige, um bei Mitscherlichs Stahlfedern zu kaufen. Zwar habe ich auch
davon mindestens noch dreiviertel Groß im Schreibtische liegen, eine weiche,
leicht ansprechende Feder mit breitem Schnabel. Aber die Jungen verschmähen
sie stets mit angsterfülltem Gesicht, wenn ich ihnen eine aufreden will: Ach
bitte nein. Papa, wir dürfen nur mit der Alfredfeder ^ schreiben, die ganze
Klasse schreibt damit, Herr Bretschneider zankt, wenn einer eine andre Feder
hat. (Zur Erläuterung bemerke ich wieder, daß die Alfredfeder ? ein abscheulich
hartes und spitzes Instrument ist, mit dem ich nicht imstande wäre eine Zeile
zu schreiben.)

Ich bin ein harmloser Familienvater und kann mich an pädagogischer Ein¬
sicht natürlich nicht entfernt mit den wackern jungen Männern messen, die drei
Jahre lang das Seminar besucht haben. Alles, was ich thun kann, um meine
pädagogische Einsicht zu erhöhen, ist das, daß ich gewissenhaft alle die Artikel
lese, in denen in der Tagespresse heutzutage Schulfragen erörtert werden, vor
allem die Berichte über Versammlungen und Vorträge, welche im Lehrervcrein,
im Pädagogischen Verein und in der Pädagogischen Gesellschaft unsrer Stadt
gehalten worden sind. Leider habe ich dabei über die Schreibebücher- und
Stahlfederfrage, die mir ganz besonders am Herzen liegt, nie etwas erfahren können,
bin also zur Zeit noch darauf angewiesen, mir meine eignen Gedanken darüber
zu machen. Und da denke ich denn so. Es ist doch seltsam, daß die Schule, die
jetzt so viel davon redet, wie notwendig es sei, die "Individualität" der Kinder,
soweit sie eine gute Individualität ist, sich ungestört entwickeln zu lassen, doch
in Dingen, in denen diese Individualität sich zeigen und aufs unschuldigste
sich aussprechen könnte, in überflüssiger Weise unifvrmirt und schablonisirt; es
ist ferner doch seltsam, daß die Schule, die ihre Zöglinge auf der einen Seite
durch die epochemachende Errungenschaft der "Schnlsparkassen" zum Sparen an¬
leiten möchte, sie auf der andern Seite geradezu zur Verschwendung nötigt;
es ist endlich doch seltsam, daß eine Zeit, die es für nötig hält, durch besondern
"Handfertigkeitsunterricht" -- ein herrliches Wort, mindestens ebenso schön wie
"Kleinkinderbewahranstalt"! -- für die Ausbildung praktischen Geschickes bei der
Jugend zu sorgen, doch die Gelegenheit unbenutzt läßt, welche die Schule ganz
von selbst zur Bethätigung der gewünschten Handfertigkeit bietet.

Als ich in die Schule ging, fiel es keinem Menschen ein, fertige Schreibe¬
bücher zu kaufein geheftet, beschnitten, liniirt, mit einem roten Löschblatt und
mit einem weißen Schildchen auf dein Umschlage versehen, und der Umschlag


Rieme pädagogische Ketzereien.

mit der Aufschrift „Schreibntensilien" —- ein Wort, das für die vorbeigehende
Schuljugend einen umso größeren Zauber hat, je weniger sie sich darunter
denken können; meine Kleine, die gern über die Bedeutung der Wörter grübelt,
fragte mich neulich, ob Utensilic wohl mit Petersilie zusammenhinge.)

Zwei Tage später hat wieder einer sein Rechenbuch ausgeschrieben, den
dritten Tag sein „Diarium," und den vierten quälen sie wieder um ein paar
Pfennige, um bei Mitscherlichs Stahlfedern zu kaufen. Zwar habe ich auch
davon mindestens noch dreiviertel Groß im Schreibtische liegen, eine weiche,
leicht ansprechende Feder mit breitem Schnabel. Aber die Jungen verschmähen
sie stets mit angsterfülltem Gesicht, wenn ich ihnen eine aufreden will: Ach
bitte nein. Papa, wir dürfen nur mit der Alfredfeder ^ schreiben, die ganze
Klasse schreibt damit, Herr Bretschneider zankt, wenn einer eine andre Feder
hat. (Zur Erläuterung bemerke ich wieder, daß die Alfredfeder ? ein abscheulich
hartes und spitzes Instrument ist, mit dem ich nicht imstande wäre eine Zeile
zu schreiben.)

Ich bin ein harmloser Familienvater und kann mich an pädagogischer Ein¬
sicht natürlich nicht entfernt mit den wackern jungen Männern messen, die drei
Jahre lang das Seminar besucht haben. Alles, was ich thun kann, um meine
pädagogische Einsicht zu erhöhen, ist das, daß ich gewissenhaft alle die Artikel
lese, in denen in der Tagespresse heutzutage Schulfragen erörtert werden, vor
allem die Berichte über Versammlungen und Vorträge, welche im Lehrervcrein,
im Pädagogischen Verein und in der Pädagogischen Gesellschaft unsrer Stadt
gehalten worden sind. Leider habe ich dabei über die Schreibebücher- und
Stahlfederfrage, die mir ganz besonders am Herzen liegt, nie etwas erfahren können,
bin also zur Zeit noch darauf angewiesen, mir meine eignen Gedanken darüber
zu machen. Und da denke ich denn so. Es ist doch seltsam, daß die Schule, die
jetzt so viel davon redet, wie notwendig es sei, die „Individualität" der Kinder,
soweit sie eine gute Individualität ist, sich ungestört entwickeln zu lassen, doch
in Dingen, in denen diese Individualität sich zeigen und aufs unschuldigste
sich aussprechen könnte, in überflüssiger Weise unifvrmirt und schablonisirt; es
ist ferner doch seltsam, daß die Schule, die ihre Zöglinge auf der einen Seite
durch die epochemachende Errungenschaft der „Schnlsparkassen" zum Sparen an¬
leiten möchte, sie auf der andern Seite geradezu zur Verschwendung nötigt;
es ist endlich doch seltsam, daß eine Zeit, die es für nötig hält, durch besondern
„Handfertigkeitsunterricht" — ein herrliches Wort, mindestens ebenso schön wie
„Kleinkinderbewahranstalt"! — für die Ausbildung praktischen Geschickes bei der
Jugend zu sorgen, doch die Gelegenheit unbenutzt läßt, welche die Schule ganz
von selbst zur Bethätigung der gewünschten Handfertigkeit bietet.

Als ich in die Schule ging, fiel es keinem Menschen ein, fertige Schreibe¬
bücher zu kaufein geheftet, beschnitten, liniirt, mit einem roten Löschblatt und
mit einem weißen Schildchen auf dein Umschlage versehen, und der Umschlag


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[0699] Rieme pädagogische Ketzereien. mit der Aufschrift „Schreibntensilien" —- ein Wort, das für die vorbeigehende Schuljugend einen umso größeren Zauber hat, je weniger sie sich darunter denken können; meine Kleine, die gern über die Bedeutung der Wörter grübelt, fragte mich neulich, ob Utensilic wohl mit Petersilie zusammenhinge.) Zwei Tage später hat wieder einer sein Rechenbuch ausgeschrieben, den dritten Tag sein „Diarium," und den vierten quälen sie wieder um ein paar Pfennige, um bei Mitscherlichs Stahlfedern zu kaufen. Zwar habe ich auch davon mindestens noch dreiviertel Groß im Schreibtische liegen, eine weiche, leicht ansprechende Feder mit breitem Schnabel. Aber die Jungen verschmähen sie stets mit angsterfülltem Gesicht, wenn ich ihnen eine aufreden will: Ach bitte nein. Papa, wir dürfen nur mit der Alfredfeder ^ schreiben, die ganze Klasse schreibt damit, Herr Bretschneider zankt, wenn einer eine andre Feder hat. (Zur Erläuterung bemerke ich wieder, daß die Alfredfeder ? ein abscheulich hartes und spitzes Instrument ist, mit dem ich nicht imstande wäre eine Zeile zu schreiben.) Ich bin ein harmloser Familienvater und kann mich an pädagogischer Ein¬ sicht natürlich nicht entfernt mit den wackern jungen Männern messen, die drei Jahre lang das Seminar besucht haben. Alles, was ich thun kann, um meine pädagogische Einsicht zu erhöhen, ist das, daß ich gewissenhaft alle die Artikel lese, in denen in der Tagespresse heutzutage Schulfragen erörtert werden, vor allem die Berichte über Versammlungen und Vorträge, welche im Lehrervcrein, im Pädagogischen Verein und in der Pädagogischen Gesellschaft unsrer Stadt gehalten worden sind. Leider habe ich dabei über die Schreibebücher- und Stahlfederfrage, die mir ganz besonders am Herzen liegt, nie etwas erfahren können, bin also zur Zeit noch darauf angewiesen, mir meine eignen Gedanken darüber zu machen. Und da denke ich denn so. Es ist doch seltsam, daß die Schule, die jetzt so viel davon redet, wie notwendig es sei, die „Individualität" der Kinder, soweit sie eine gute Individualität ist, sich ungestört entwickeln zu lassen, doch in Dingen, in denen diese Individualität sich zeigen und aufs unschuldigste sich aussprechen könnte, in überflüssiger Weise unifvrmirt und schablonisirt; es ist ferner doch seltsam, daß die Schule, die ihre Zöglinge auf der einen Seite durch die epochemachende Errungenschaft der „Schnlsparkassen" zum Sparen an¬ leiten möchte, sie auf der andern Seite geradezu zur Verschwendung nötigt; es ist endlich doch seltsam, daß eine Zeit, die es für nötig hält, durch besondern „Handfertigkeitsunterricht" — ein herrliches Wort, mindestens ebenso schön wie „Kleinkinderbewahranstalt"! — für die Ausbildung praktischen Geschickes bei der Jugend zu sorgen, doch die Gelegenheit unbenutzt läßt, welche die Schule ganz von selbst zur Bethätigung der gewünschten Handfertigkeit bietet. Als ich in die Schule ging, fiel es keinem Menschen ein, fertige Schreibe¬ bücher zu kaufein geheftet, beschnitten, liniirt, mit einem roten Löschblatt und mit einem weißen Schildchen auf dein Umschlage versehen, und der Umschlag

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_151310/699>, abgerufen am 23.07.2024.