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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal.

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Über nationale Geschichtschreibung.

dem geistigen Leben der Nation, das freilich während des großen Krieges arg
verkommen war. daß sie garnicht mehr die Absicht hat, zu dieser zu sprechen,
sondern sich in boruirter Vornehmheit auch sprachlich in die engen Schranken
der Gelehrsamkeit einschließt. Erregte doch noch Johann Jakob Mascov, als er
im dritten Jahrzehnt des achtzehnten Jahrhunderts ans Grund verdienstlicher kri¬
tischer Forschung dem deutschen Volke die Geschichte des Mittelalters in deutscher
Sprache zu erzählen unternahm, bei seinen Mitgelehrten so schweren Anstoß,
daß er, um seinem Werke wissenschaftlich nicht jeden Erfolg abzuschneiden, sich
entschließen mußte, die Kaisergeschichte in lateinischer Sprache fortzuführen.

Und als dann unter dem Einflüsse der Aufklärung auch in Deutschland
endlich el" neues geistiges Leben sich zu regen begann, da übertrug man die
Feindschaft, welche die Aufklärung gegen die Kirche im allgemeinen und gegen
das Papsttum im besondern predigte, auf das Mittelalter überhaupt. So kam
schließlich jene unwahre, auf Selbsttäuschung beruhende und auf Selbstvergöt-
terung hinauslaufende Richtung zur Herrschaft, die uns in den für philosophisch
ausgegebenen Phantastereien eines Jselin und Meiners entgegentritt. Ohne
jede Kenntnis des einzelnen brachen diese Leute den Stab über dem Mittel¬
alter im ganzen und stellten dasselbe dar als eine Zeit der Roheit, der Sünd¬
haftigkeit und der geistigen Nacht, um im Gegensatze dazu sich selbst pharisäisch
zu brüsten, wie sie es so herrlich weit gebracht, und die als Muster angestaunten
Franzosen als das erste Volk der Welt zu preisen.

Der Gegenschlag blieb nicht aus. Zuerst gab, im Gegensatz zu dem Franzosen¬
kultus der Aufklärung, der urdeutsche Justus Möser in seinen Osnabrückischen
Geschichten ein zwar nicht ganz historisch treues, aber lebenswahres Bild alt-
deutscheu Wesens. Dann entwarf Herder gleich in seiner Erstlingsschrift eine
gerechte, liebevolle Schilderung des bis dahin so völlig verkannten Mittelalters
in Rücksicht auf Verfassung, Kirche, Gesellschaft und Literatur, und gleichzeitig
gewann Schiller, der in seinen Leistungen als Historiker gewöhnlich ungerecht
unterschätzt wird, durch den Glanz seiner künstlerischen Darstellung und die
hinreißende Gewalt seines politischen Idealismus der Geschichte die Teilnahme
des großen Publikums und machte dieselbe zum erstenmale wieder aus einer
Schulsache der Gelehrten zu einer lebendigen Volkssache.

Die folgenden Ereignisse, die Zeit der Knechtschaft und des Kampfes um
die Freiheit, steigerten zugleich mit dem nationalen Gefühl den historischen Sinn
und die Vorliebe für das national Deutsche, und von der Verdammung und
Verhöhnung des Mittelalters ging man allmählich über zu jenem unverständigen
Mittelalterkultus, den die Romantik in Schwang brachte. Auf diesem Boden erwuchs
Friedrich von Raumers Geschichte der Hohenstaufen, welche ohne hervorragenden
wissenschaftlichen Wert doch eine so weit reichende und nachhaltige Einwirkung auf
die Literatur überhaupt ausgeübt hat, wie kaum noch ein andres Geschichtswerk;
auf demselben Boden erwuchsen schließlich die Raupachschen Hohenstaufentragödien.


Grenzboten I. 1883. 85
Über nationale Geschichtschreibung.

dem geistigen Leben der Nation, das freilich während des großen Krieges arg
verkommen war. daß sie garnicht mehr die Absicht hat, zu dieser zu sprechen,
sondern sich in boruirter Vornehmheit auch sprachlich in die engen Schranken
der Gelehrsamkeit einschließt. Erregte doch noch Johann Jakob Mascov, als er
im dritten Jahrzehnt des achtzehnten Jahrhunderts ans Grund verdienstlicher kri¬
tischer Forschung dem deutschen Volke die Geschichte des Mittelalters in deutscher
Sprache zu erzählen unternahm, bei seinen Mitgelehrten so schweren Anstoß,
daß er, um seinem Werke wissenschaftlich nicht jeden Erfolg abzuschneiden, sich
entschließen mußte, die Kaisergeschichte in lateinischer Sprache fortzuführen.

Und als dann unter dem Einflüsse der Aufklärung auch in Deutschland
endlich el» neues geistiges Leben sich zu regen begann, da übertrug man die
Feindschaft, welche die Aufklärung gegen die Kirche im allgemeinen und gegen
das Papsttum im besondern predigte, auf das Mittelalter überhaupt. So kam
schließlich jene unwahre, auf Selbsttäuschung beruhende und auf Selbstvergöt-
terung hinauslaufende Richtung zur Herrschaft, die uns in den für philosophisch
ausgegebenen Phantastereien eines Jselin und Meiners entgegentritt. Ohne
jede Kenntnis des einzelnen brachen diese Leute den Stab über dem Mittel¬
alter im ganzen und stellten dasselbe dar als eine Zeit der Roheit, der Sünd¬
haftigkeit und der geistigen Nacht, um im Gegensatze dazu sich selbst pharisäisch
zu brüsten, wie sie es so herrlich weit gebracht, und die als Muster angestaunten
Franzosen als das erste Volk der Welt zu preisen.

Der Gegenschlag blieb nicht aus. Zuerst gab, im Gegensatz zu dem Franzosen¬
kultus der Aufklärung, der urdeutsche Justus Möser in seinen Osnabrückischen
Geschichten ein zwar nicht ganz historisch treues, aber lebenswahres Bild alt-
deutscheu Wesens. Dann entwarf Herder gleich in seiner Erstlingsschrift eine
gerechte, liebevolle Schilderung des bis dahin so völlig verkannten Mittelalters
in Rücksicht auf Verfassung, Kirche, Gesellschaft und Literatur, und gleichzeitig
gewann Schiller, der in seinen Leistungen als Historiker gewöhnlich ungerecht
unterschätzt wird, durch den Glanz seiner künstlerischen Darstellung und die
hinreißende Gewalt seines politischen Idealismus der Geschichte die Teilnahme
des großen Publikums und machte dieselbe zum erstenmale wieder aus einer
Schulsache der Gelehrten zu einer lebendigen Volkssache.

Die folgenden Ereignisse, die Zeit der Knechtschaft und des Kampfes um
die Freiheit, steigerten zugleich mit dem nationalen Gefühl den historischen Sinn
und die Vorliebe für das national Deutsche, und von der Verdammung und
Verhöhnung des Mittelalters ging man allmählich über zu jenem unverständigen
Mittelalterkultus, den die Romantik in Schwang brachte. Auf diesem Boden erwuchs
Friedrich von Raumers Geschichte der Hohenstaufen, welche ohne hervorragenden
wissenschaftlichen Wert doch eine so weit reichende und nachhaltige Einwirkung auf
die Literatur überhaupt ausgeübt hat, wie kaum noch ein andres Geschichtswerk;
auf demselben Boden erwuchsen schließlich die Raupachschen Hohenstaufentragödien.


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[0681] Über nationale Geschichtschreibung. dem geistigen Leben der Nation, das freilich während des großen Krieges arg verkommen war. daß sie garnicht mehr die Absicht hat, zu dieser zu sprechen, sondern sich in boruirter Vornehmheit auch sprachlich in die engen Schranken der Gelehrsamkeit einschließt. Erregte doch noch Johann Jakob Mascov, als er im dritten Jahrzehnt des achtzehnten Jahrhunderts ans Grund verdienstlicher kri¬ tischer Forschung dem deutschen Volke die Geschichte des Mittelalters in deutscher Sprache zu erzählen unternahm, bei seinen Mitgelehrten so schweren Anstoß, daß er, um seinem Werke wissenschaftlich nicht jeden Erfolg abzuschneiden, sich entschließen mußte, die Kaisergeschichte in lateinischer Sprache fortzuführen. Und als dann unter dem Einflüsse der Aufklärung auch in Deutschland endlich el» neues geistiges Leben sich zu regen begann, da übertrug man die Feindschaft, welche die Aufklärung gegen die Kirche im allgemeinen und gegen das Papsttum im besondern predigte, auf das Mittelalter überhaupt. So kam schließlich jene unwahre, auf Selbsttäuschung beruhende und auf Selbstvergöt- terung hinauslaufende Richtung zur Herrschaft, die uns in den für philosophisch ausgegebenen Phantastereien eines Jselin und Meiners entgegentritt. Ohne jede Kenntnis des einzelnen brachen diese Leute den Stab über dem Mittel¬ alter im ganzen und stellten dasselbe dar als eine Zeit der Roheit, der Sünd¬ haftigkeit und der geistigen Nacht, um im Gegensatze dazu sich selbst pharisäisch zu brüsten, wie sie es so herrlich weit gebracht, und die als Muster angestaunten Franzosen als das erste Volk der Welt zu preisen. Der Gegenschlag blieb nicht aus. Zuerst gab, im Gegensatz zu dem Franzosen¬ kultus der Aufklärung, der urdeutsche Justus Möser in seinen Osnabrückischen Geschichten ein zwar nicht ganz historisch treues, aber lebenswahres Bild alt- deutscheu Wesens. Dann entwarf Herder gleich in seiner Erstlingsschrift eine gerechte, liebevolle Schilderung des bis dahin so völlig verkannten Mittelalters in Rücksicht auf Verfassung, Kirche, Gesellschaft und Literatur, und gleichzeitig gewann Schiller, der in seinen Leistungen als Historiker gewöhnlich ungerecht unterschätzt wird, durch den Glanz seiner künstlerischen Darstellung und die hinreißende Gewalt seines politischen Idealismus der Geschichte die Teilnahme des großen Publikums und machte dieselbe zum erstenmale wieder aus einer Schulsache der Gelehrten zu einer lebendigen Volkssache. Die folgenden Ereignisse, die Zeit der Knechtschaft und des Kampfes um die Freiheit, steigerten zugleich mit dem nationalen Gefühl den historischen Sinn und die Vorliebe für das national Deutsche, und von der Verdammung und Verhöhnung des Mittelalters ging man allmählich über zu jenem unverständigen Mittelalterkultus, den die Romantik in Schwang brachte. Auf diesem Boden erwuchs Friedrich von Raumers Geschichte der Hohenstaufen, welche ohne hervorragenden wissenschaftlichen Wert doch eine so weit reichende und nachhaltige Einwirkung auf die Literatur überhaupt ausgeübt hat, wie kaum noch ein andres Geschichtswerk; auf demselben Boden erwuchsen schließlich die Raupachschen Hohenstaufentragödien. Grenzboten I. 1883. 85

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_151310/681>, abgerufen am 23.07.2024.