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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal.

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Über nationale Geschichtschreibung,

stammen, erst sehr spät werden sie zu wirklich objektiver Behandlung geeignet.
Mit Vorliebe dagegen wird die nationale Geschichtschreibung sich solchen Stoffen
zuwenden, für welche die ganze Nation ohne Rücksicht auf die Kontroversen
der Gegenwart gleich warm empfindet, welche alle in gleicher Weise als eine
Zierde und als einen Segen der nationalen Vergangenheit ansehen und ehren.
So standen vor den Augen aller Hellenen die Perserkriege, so standen und
stehen vor denen aller Franzosen die Kreuzzüge und die hundertjährigen Kämpfe
gegen England, vor denen aller Engländer die grundlegenden Verfassungskämpfe
und die glorreiche Revolution. Wie auch immer der Einzelne zu den seine
Zeit beschäftigenden Kontroversen stehen mag, einig sind sie alle darin, daß jene
Ereignisse einen Grenz- und Denkstein in dem Werden ihrer Nation bezeichnen,
eine Epoche, ohne die alles Folgende nicht möglich gewesen wäre und an der
daher alle nachlebenden Geschlechter sich gleichmäßig freuen und erheben sollten.
Ohne diese Liebe einer Nation zu ihrer Vergangenheit ist eine nationale Ge¬
schichtschreibung überhaupt nicht möglich. Sie kann nicht entstehen, wo die
Vergangenheit von dem Standpunkte des Parteikampfes der Gegenwart aus
immer von neuem in Frage gestellt und bestritten wird, wo man, sie sich gegen¬
seitig zum Vorwurfe machend, in ihr vornehmlich die Waffen sucht zur Verdäch¬
tigung oder zur Niederwerfung politischer Gegner.

Wie -- so frage ich nun -- steht es in dieser Beziehung mit Deutschland
und der deutschen Geschichtschreibung?

Ohne Frage bietet die Vergangenheit unsres Volkes herrliche Stoffe natio¬
naler Geschichtschreibung in reicher Fülle. Und doch haben wir eine nationale
Geschichtschreibung noch nicht bei uns entstehen sehen. Wohin wir uns in der
deutschen Geschichte wenden, überall finden wir die prinzipiell entgegengesetzten
Ansichten im Streite um allgemeine Anerkennung. Es giebt nicht eine einzige
unter den großen Epochen der deutschen Geschichte, als deren Ergebnis,
während die einen durch sie einen großen und heilsamen Fortschritt bewirkt sein
lassen, die andern nicht mit noch viel größerm Nachdruck einen bedauernswerten
Rückschritt zu erweisen suchen.

Da haben wir zuerst die Großthaten unsres mittelalterlichen Kaisertums,
an deren Erforschung die Geschichtschreibung unsrer Tage ihre beste Kraft gesetzt,
an der sie ihre Methode fortschreitend vervollkommnet und sich erst wahrhaft
zum Range einer Wissenschaft erhoben hat. Die deutsche Kaiserzeit selbst,
während deren Deutschlands Geschicke die des Abendlandes bedingten, hat
eine nationale Geschichtschreibung nicht hervorgebracht. Denn in dem Wider¬
streit zwischen dem mächtigen Zuge nach einem Weltstaat und einer Weltkirche
und dem zähen Beharrungsvermögen der natürlich begründeten und historisch
ausgebildeten Stammessonderung erhob man sich damals noch garnicht zum
Begriff einer Nation. Wie in Sprache und Dichtkunst, so herrscht auch in der
Geschichtschreibung jener Zeit durchaus der landschaftliche Charakter vor. Nicht


Über nationale Geschichtschreibung,

stammen, erst sehr spät werden sie zu wirklich objektiver Behandlung geeignet.
Mit Vorliebe dagegen wird die nationale Geschichtschreibung sich solchen Stoffen
zuwenden, für welche die ganze Nation ohne Rücksicht auf die Kontroversen
der Gegenwart gleich warm empfindet, welche alle in gleicher Weise als eine
Zierde und als einen Segen der nationalen Vergangenheit ansehen und ehren.
So standen vor den Augen aller Hellenen die Perserkriege, so standen und
stehen vor denen aller Franzosen die Kreuzzüge und die hundertjährigen Kämpfe
gegen England, vor denen aller Engländer die grundlegenden Verfassungskämpfe
und die glorreiche Revolution. Wie auch immer der Einzelne zu den seine
Zeit beschäftigenden Kontroversen stehen mag, einig sind sie alle darin, daß jene
Ereignisse einen Grenz- und Denkstein in dem Werden ihrer Nation bezeichnen,
eine Epoche, ohne die alles Folgende nicht möglich gewesen wäre und an der
daher alle nachlebenden Geschlechter sich gleichmäßig freuen und erheben sollten.
Ohne diese Liebe einer Nation zu ihrer Vergangenheit ist eine nationale Ge¬
schichtschreibung überhaupt nicht möglich. Sie kann nicht entstehen, wo die
Vergangenheit von dem Standpunkte des Parteikampfes der Gegenwart aus
immer von neuem in Frage gestellt und bestritten wird, wo man, sie sich gegen¬
seitig zum Vorwurfe machend, in ihr vornehmlich die Waffen sucht zur Verdäch¬
tigung oder zur Niederwerfung politischer Gegner.

Wie — so frage ich nun — steht es in dieser Beziehung mit Deutschland
und der deutschen Geschichtschreibung?

Ohne Frage bietet die Vergangenheit unsres Volkes herrliche Stoffe natio¬
naler Geschichtschreibung in reicher Fülle. Und doch haben wir eine nationale
Geschichtschreibung noch nicht bei uns entstehen sehen. Wohin wir uns in der
deutschen Geschichte wenden, überall finden wir die prinzipiell entgegengesetzten
Ansichten im Streite um allgemeine Anerkennung. Es giebt nicht eine einzige
unter den großen Epochen der deutschen Geschichte, als deren Ergebnis,
während die einen durch sie einen großen und heilsamen Fortschritt bewirkt sein
lassen, die andern nicht mit noch viel größerm Nachdruck einen bedauernswerten
Rückschritt zu erweisen suchen.

Da haben wir zuerst die Großthaten unsres mittelalterlichen Kaisertums,
an deren Erforschung die Geschichtschreibung unsrer Tage ihre beste Kraft gesetzt,
an der sie ihre Methode fortschreitend vervollkommnet und sich erst wahrhaft
zum Range einer Wissenschaft erhoben hat. Die deutsche Kaiserzeit selbst,
während deren Deutschlands Geschicke die des Abendlandes bedingten, hat
eine nationale Geschichtschreibung nicht hervorgebracht. Denn in dem Wider¬
streit zwischen dem mächtigen Zuge nach einem Weltstaat und einer Weltkirche
und dem zähen Beharrungsvermögen der natürlich begründeten und historisch
ausgebildeten Stammessonderung erhob man sich damals noch garnicht zum
Begriff einer Nation. Wie in Sprache und Dichtkunst, so herrscht auch in der
Geschichtschreibung jener Zeit durchaus der landschaftliche Charakter vor. Nicht


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[0679] Über nationale Geschichtschreibung, stammen, erst sehr spät werden sie zu wirklich objektiver Behandlung geeignet. Mit Vorliebe dagegen wird die nationale Geschichtschreibung sich solchen Stoffen zuwenden, für welche die ganze Nation ohne Rücksicht auf die Kontroversen der Gegenwart gleich warm empfindet, welche alle in gleicher Weise als eine Zierde und als einen Segen der nationalen Vergangenheit ansehen und ehren. So standen vor den Augen aller Hellenen die Perserkriege, so standen und stehen vor denen aller Franzosen die Kreuzzüge und die hundertjährigen Kämpfe gegen England, vor denen aller Engländer die grundlegenden Verfassungskämpfe und die glorreiche Revolution. Wie auch immer der Einzelne zu den seine Zeit beschäftigenden Kontroversen stehen mag, einig sind sie alle darin, daß jene Ereignisse einen Grenz- und Denkstein in dem Werden ihrer Nation bezeichnen, eine Epoche, ohne die alles Folgende nicht möglich gewesen wäre und an der daher alle nachlebenden Geschlechter sich gleichmäßig freuen und erheben sollten. Ohne diese Liebe einer Nation zu ihrer Vergangenheit ist eine nationale Ge¬ schichtschreibung überhaupt nicht möglich. Sie kann nicht entstehen, wo die Vergangenheit von dem Standpunkte des Parteikampfes der Gegenwart aus immer von neuem in Frage gestellt und bestritten wird, wo man, sie sich gegen¬ seitig zum Vorwurfe machend, in ihr vornehmlich die Waffen sucht zur Verdäch¬ tigung oder zur Niederwerfung politischer Gegner. Wie — so frage ich nun — steht es in dieser Beziehung mit Deutschland und der deutschen Geschichtschreibung? Ohne Frage bietet die Vergangenheit unsres Volkes herrliche Stoffe natio¬ naler Geschichtschreibung in reicher Fülle. Und doch haben wir eine nationale Geschichtschreibung noch nicht bei uns entstehen sehen. Wohin wir uns in der deutschen Geschichte wenden, überall finden wir die prinzipiell entgegengesetzten Ansichten im Streite um allgemeine Anerkennung. Es giebt nicht eine einzige unter den großen Epochen der deutschen Geschichte, als deren Ergebnis, während die einen durch sie einen großen und heilsamen Fortschritt bewirkt sein lassen, die andern nicht mit noch viel größerm Nachdruck einen bedauernswerten Rückschritt zu erweisen suchen. Da haben wir zuerst die Großthaten unsres mittelalterlichen Kaisertums, an deren Erforschung die Geschichtschreibung unsrer Tage ihre beste Kraft gesetzt, an der sie ihre Methode fortschreitend vervollkommnet und sich erst wahrhaft zum Range einer Wissenschaft erhoben hat. Die deutsche Kaiserzeit selbst, während deren Deutschlands Geschicke die des Abendlandes bedingten, hat eine nationale Geschichtschreibung nicht hervorgebracht. Denn in dem Wider¬ streit zwischen dem mächtigen Zuge nach einem Weltstaat und einer Weltkirche und dem zähen Beharrungsvermögen der natürlich begründeten und historisch ausgebildeten Stammessonderung erhob man sich damals noch garnicht zum Begriff einer Nation. Wie in Sprache und Dichtkunst, so herrscht auch in der Geschichtschreibung jener Zeit durchaus der landschaftliche Charakter vor. Nicht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_151310/679>, abgerufen am 23.07.2024.