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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal.

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Die Franzosen am Kongo und in Madagaskar.

Recht darauf zu haben, mit den Sakalavas, einem untergeordneten Stamme
auf der Nordwestseite der Insel, direkt zu unterhandeln, und ihr jetziger Streit
mit der Königin entspringt zum Teil aus der Weigerung der letztern, die Un¬
abhängigkeit von Leuten anzuerkennen, die sich einst ihrer Obmacht unterwerfen
mußten. Allerdings ist diese Unterwerfung von verhältnismäßig neuem Datum.
Sie erfolgte unter Radama I., Madagaskars Peter dem Großen. Bei seinem
Regierungsantritt fand er ein barbarisches Volk vor, bei seinem Tode hinterließ
er ein vielfach zivilisirtes. Er förderte Missionäre und Gewerbsunternehmer,
höhere und niedere Schulen, übte seine Kriegsleute nach europäischem Muster
und versah sie mit guten Waffen, schickte talentvolle Malagassen nach Mauritius
und selbst nach Europa, um sich in den Wissenschaften und Künsten des Westens
auszubilden und sie dann in der Heimat zu lehren. Der genannte Stamm im Nord¬
westen, auf dessen Freundschaft die Franzosen sich jetzt stützen, zeichnete sich damals
durch Seeraub und Sklavenhandel aus. Der König unterdrückte beides im
Einklange mit einer Übereinkunft, die er mit den Engländern abgeschlossen hatte,
und zwang die Sakalavas, seine Oberherrlichkeit anzuerkennen. Seine Laufbahn
bot für alle Freunde des Fortschritts hohes Interesse, es war der erste Versuch,
Madagaskar der Familie der zivilisirten Völker und Länder zu nähern. In
dieser Beziehung erstrebte und erreichte er, wenigstens zum Teil, auf seiner
fernen Insel, was Mehemed Ali in Ägypten im Auge hatte und leistete. Nach
seinem Tode nahm das zwar ein jähes Ende, indem unter seiner Nachfolgerin
das Christentum und die Gesittung wieder vom Götzendienst und der einstigen
Roheit und Unwissenheit überwuchert wurden, aber nach Verlauf von drei
Jahrzehnten erhob sich ein zweiter Radama, unter dem und dessen Erben
Madagaskar vielfach wiedergewonnen wurde, wenn nicht überall für das Christen¬
tum, so doch für Duldung und Menschlichkeit. Die wieder zugelassenen Missio¬
näre haben die große Masse des Hovavolkes noch nicht bekehrt, aber immerhin
auf viele Eindruck gemacht, und sie sind im Lande geblieben als Vorposten
westlicher Bildung und Denkart und als Vorbereiter besserer Zustände. Es
scheint darum ein grausames Verhängnis zu sein, wenn bloßer Landhunger jetzt
einen Kampf zwischen einer großen europäischen Nation und diesem halb zivili¬
sirten, aber fortschreitenden Volke entzündet hat.

Madagaskar ist ein Land, dessen Besitz wirklich begehrenswert ist. Da man
Australien als eiuen Weltteil zu betrachten hat, so ist die Insel der Hovas wohl
die größte der Erde; denn sie ist ungefähr so ausgedehnt wie Frankreich selbst.
Ungleich Australien, zeigt sie ein prächtiges Netz von Flüssen und Strömen,
die von dem Zentralgebirge, von dessen Höhen mehrere die Schneegrenze dieser
Breiten überragen, indem sie über zwölftausend Fuß hoch sind, nach der öst¬
lichen und der westlichen Küste hinabfließen. Das Innere ist durchaus gesund,
aber am Meere zieht sich fast allenthalben wie am afrikanischen Festlande ein
mehr oder minder breiter Gürtel von Sümpfen und Marschen hin, deren Luft


Grenzboten I. Is8S. 84
Die Franzosen am Kongo und in Madagaskar.

Recht darauf zu haben, mit den Sakalavas, einem untergeordneten Stamme
auf der Nordwestseite der Insel, direkt zu unterhandeln, und ihr jetziger Streit
mit der Königin entspringt zum Teil aus der Weigerung der letztern, die Un¬
abhängigkeit von Leuten anzuerkennen, die sich einst ihrer Obmacht unterwerfen
mußten. Allerdings ist diese Unterwerfung von verhältnismäßig neuem Datum.
Sie erfolgte unter Radama I., Madagaskars Peter dem Großen. Bei seinem
Regierungsantritt fand er ein barbarisches Volk vor, bei seinem Tode hinterließ
er ein vielfach zivilisirtes. Er förderte Missionäre und Gewerbsunternehmer,
höhere und niedere Schulen, übte seine Kriegsleute nach europäischem Muster
und versah sie mit guten Waffen, schickte talentvolle Malagassen nach Mauritius
und selbst nach Europa, um sich in den Wissenschaften und Künsten des Westens
auszubilden und sie dann in der Heimat zu lehren. Der genannte Stamm im Nord¬
westen, auf dessen Freundschaft die Franzosen sich jetzt stützen, zeichnete sich damals
durch Seeraub und Sklavenhandel aus. Der König unterdrückte beides im
Einklange mit einer Übereinkunft, die er mit den Engländern abgeschlossen hatte,
und zwang die Sakalavas, seine Oberherrlichkeit anzuerkennen. Seine Laufbahn
bot für alle Freunde des Fortschritts hohes Interesse, es war der erste Versuch,
Madagaskar der Familie der zivilisirten Völker und Länder zu nähern. In
dieser Beziehung erstrebte und erreichte er, wenigstens zum Teil, auf seiner
fernen Insel, was Mehemed Ali in Ägypten im Auge hatte und leistete. Nach
seinem Tode nahm das zwar ein jähes Ende, indem unter seiner Nachfolgerin
das Christentum und die Gesittung wieder vom Götzendienst und der einstigen
Roheit und Unwissenheit überwuchert wurden, aber nach Verlauf von drei
Jahrzehnten erhob sich ein zweiter Radama, unter dem und dessen Erben
Madagaskar vielfach wiedergewonnen wurde, wenn nicht überall für das Christen¬
tum, so doch für Duldung und Menschlichkeit. Die wieder zugelassenen Missio¬
näre haben die große Masse des Hovavolkes noch nicht bekehrt, aber immerhin
auf viele Eindruck gemacht, und sie sind im Lande geblieben als Vorposten
westlicher Bildung und Denkart und als Vorbereiter besserer Zustände. Es
scheint darum ein grausames Verhängnis zu sein, wenn bloßer Landhunger jetzt
einen Kampf zwischen einer großen europäischen Nation und diesem halb zivili¬
sirten, aber fortschreitenden Volke entzündet hat.

Madagaskar ist ein Land, dessen Besitz wirklich begehrenswert ist. Da man
Australien als eiuen Weltteil zu betrachten hat, so ist die Insel der Hovas wohl
die größte der Erde; denn sie ist ungefähr so ausgedehnt wie Frankreich selbst.
Ungleich Australien, zeigt sie ein prächtiges Netz von Flüssen und Strömen,
die von dem Zentralgebirge, von dessen Höhen mehrere die Schneegrenze dieser
Breiten überragen, indem sie über zwölftausend Fuß hoch sind, nach der öst¬
lichen und der westlichen Küste hinabfließen. Das Innere ist durchaus gesund,
aber am Meere zieht sich fast allenthalben wie am afrikanischen Festlande ein
mehr oder minder breiter Gürtel von Sümpfen und Marschen hin, deren Luft


Grenzboten I. Is8S. 84
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[0673] Die Franzosen am Kongo und in Madagaskar. Recht darauf zu haben, mit den Sakalavas, einem untergeordneten Stamme auf der Nordwestseite der Insel, direkt zu unterhandeln, und ihr jetziger Streit mit der Königin entspringt zum Teil aus der Weigerung der letztern, die Un¬ abhängigkeit von Leuten anzuerkennen, die sich einst ihrer Obmacht unterwerfen mußten. Allerdings ist diese Unterwerfung von verhältnismäßig neuem Datum. Sie erfolgte unter Radama I., Madagaskars Peter dem Großen. Bei seinem Regierungsantritt fand er ein barbarisches Volk vor, bei seinem Tode hinterließ er ein vielfach zivilisirtes. Er förderte Missionäre und Gewerbsunternehmer, höhere und niedere Schulen, übte seine Kriegsleute nach europäischem Muster und versah sie mit guten Waffen, schickte talentvolle Malagassen nach Mauritius und selbst nach Europa, um sich in den Wissenschaften und Künsten des Westens auszubilden und sie dann in der Heimat zu lehren. Der genannte Stamm im Nord¬ westen, auf dessen Freundschaft die Franzosen sich jetzt stützen, zeichnete sich damals durch Seeraub und Sklavenhandel aus. Der König unterdrückte beides im Einklange mit einer Übereinkunft, die er mit den Engländern abgeschlossen hatte, und zwang die Sakalavas, seine Oberherrlichkeit anzuerkennen. Seine Laufbahn bot für alle Freunde des Fortschritts hohes Interesse, es war der erste Versuch, Madagaskar der Familie der zivilisirten Völker und Länder zu nähern. In dieser Beziehung erstrebte und erreichte er, wenigstens zum Teil, auf seiner fernen Insel, was Mehemed Ali in Ägypten im Auge hatte und leistete. Nach seinem Tode nahm das zwar ein jähes Ende, indem unter seiner Nachfolgerin das Christentum und die Gesittung wieder vom Götzendienst und der einstigen Roheit und Unwissenheit überwuchert wurden, aber nach Verlauf von drei Jahrzehnten erhob sich ein zweiter Radama, unter dem und dessen Erben Madagaskar vielfach wiedergewonnen wurde, wenn nicht überall für das Christen¬ tum, so doch für Duldung und Menschlichkeit. Die wieder zugelassenen Missio¬ näre haben die große Masse des Hovavolkes noch nicht bekehrt, aber immerhin auf viele Eindruck gemacht, und sie sind im Lande geblieben als Vorposten westlicher Bildung und Denkart und als Vorbereiter besserer Zustände. Es scheint darum ein grausames Verhängnis zu sein, wenn bloßer Landhunger jetzt einen Kampf zwischen einer großen europäischen Nation und diesem halb zivili¬ sirten, aber fortschreitenden Volke entzündet hat. Madagaskar ist ein Land, dessen Besitz wirklich begehrenswert ist. Da man Australien als eiuen Weltteil zu betrachten hat, so ist die Insel der Hovas wohl die größte der Erde; denn sie ist ungefähr so ausgedehnt wie Frankreich selbst. Ungleich Australien, zeigt sie ein prächtiges Netz von Flüssen und Strömen, die von dem Zentralgebirge, von dessen Höhen mehrere die Schneegrenze dieser Breiten überragen, indem sie über zwölftausend Fuß hoch sind, nach der öst¬ lichen und der westlichen Küste hinabfließen. Das Innere ist durchaus gesund, aber am Meere zieht sich fast allenthalben wie am afrikanischen Festlande ein mehr oder minder breiter Gürtel von Sümpfen und Marschen hin, deren Luft Grenzboten I. Is8S. 84

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_151310/673>, abgerufen am 23.07.2024.