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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal.

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Die Grafen von Altcnschwerdt.

machen. Nennen Sie mir, bitte, einige Familien, die zwar vom Laster berührt,
aber noch nicht ganz dem Trunke anheimgefallen sind.

Nun denn, sagte der Pfarrer, ich will Ihnen derer nennen, und ich freue
mich ungemein Ihrer echt christlichen Gesinnung, gnädige Gräfin. Doch machen
Sie sich darauf gefaßt: Trinken thun sie alle. Zwei Laster sind es, die hier
ganz allgemein unter dem niedrigen Volke herrschen, das ist erstlich das Stehlen
und zweitens das Trinken. Es ist nicht bei allen so schlimm wie bei Jan Me¬
ters und einigen seiner Gesinnungsgenossen, die längst am Delirium verstorben
wären, wenn sie nicht zeitweise Gelegenheit hätten, sich im Zuchthause zu er¬
holen, und die, wie man zu sagen pflegt, nur das liegen lassen, was zu heiß
oder zu schwer ist. Diese besseren will ich Ihnen aufschreiben.

Er machte einige Notizen und reichte der Gräfin das beschriebene Blatt.

Darunter ist ein Mann, sagte er, bei dem ich in der That noch nicht alle
Hoffnung aufgeben möchte, weil er ein geweckter Bursche ist, der manches wohl
mehr aus Leichtsinn verübt hat. Es ist ein Schiffer namens Claus Harmsen.

Die Gräfin nahm dankend das Papier.

Und nun, sagte sie, habe ich noch den Wunsch, Sie möchten mir einen
Führer mitgeben.

Wenn ich selbst Sie begleiten --

O nein, nein, auf keinen Fall! rief die Gräfin. Ich bitte um ein Mädchen
oder einen Burschen, der im Orte bekannt ist.

Der Pfarrer zog die Schelle, und mit Hilfe der Dienstmagd ward ein
Bursche herbeigeschafft, dem die Verpflichtung oblag, den Garten zu bestellen
und der sich irgendwo in der Nähe frühstückend umhertrieb.

So verließ die Gräfin mit freundlichem Gruß das Studirzimmer des
Pfarrers, und er blieb träumend auf dem Flecke stehen, wo sie sich von ihm
verabschiedet hatte. Er dachte an die Jahre zurück, welche er als Hauslehrer
in einer vornehmen Familie verlebt hatte, und an seine Bekanntschaft mit Schloß
Eichhausen. Welch ein Glück mußte es sein, unter so herrlichen Leuten wie
diese Gräfin und das Fräulein von Sextus, in einer Gemeinde gebildeter Men¬
schen, in einer großen Stadt des Predigtamtes zu warten!

Während dessen durchschritt Gräfin Sibylle die Dorfgasse und begab sich
nach dem ärmsten Teile des Ortes, wo ihre feinen Stiefel mit den schmalen
Sohlen und spitzen Absätzen sich tief in den Erdboden einwühlten, sodaß der
mit Muschelstücken und Fischgräten durchsetzte Sand oft über ihrem Spann
zusammenschlug. Ihr Führer, bedächtig den Rest seines Frühbrots kauend,
schritt neben ihr und warf kritische Blicke seitwärts auf die elegante Erscheinung,
während er bei Begegnung einer befreundeten und geistesverwandten Natur mit
dieser ein listiges Blinzeln austauschte.

Gräfin Sibylle besuchte nacheinander drei Hütten, die ihr wenig Interes¬
santes zu bieten schienen. Wenigstens zeigte sie, im Gegenteil zu ihrem Ve-


Die Grafen von Altcnschwerdt.

machen. Nennen Sie mir, bitte, einige Familien, die zwar vom Laster berührt,
aber noch nicht ganz dem Trunke anheimgefallen sind.

Nun denn, sagte der Pfarrer, ich will Ihnen derer nennen, und ich freue
mich ungemein Ihrer echt christlichen Gesinnung, gnädige Gräfin. Doch machen
Sie sich darauf gefaßt: Trinken thun sie alle. Zwei Laster sind es, die hier
ganz allgemein unter dem niedrigen Volke herrschen, das ist erstlich das Stehlen
und zweitens das Trinken. Es ist nicht bei allen so schlimm wie bei Jan Me¬
ters und einigen seiner Gesinnungsgenossen, die längst am Delirium verstorben
wären, wenn sie nicht zeitweise Gelegenheit hätten, sich im Zuchthause zu er¬
holen, und die, wie man zu sagen pflegt, nur das liegen lassen, was zu heiß
oder zu schwer ist. Diese besseren will ich Ihnen aufschreiben.

Er machte einige Notizen und reichte der Gräfin das beschriebene Blatt.

Darunter ist ein Mann, sagte er, bei dem ich in der That noch nicht alle
Hoffnung aufgeben möchte, weil er ein geweckter Bursche ist, der manches wohl
mehr aus Leichtsinn verübt hat. Es ist ein Schiffer namens Claus Harmsen.

Die Gräfin nahm dankend das Papier.

Und nun, sagte sie, habe ich noch den Wunsch, Sie möchten mir einen
Führer mitgeben.

Wenn ich selbst Sie begleiten —

O nein, nein, auf keinen Fall! rief die Gräfin. Ich bitte um ein Mädchen
oder einen Burschen, der im Orte bekannt ist.

Der Pfarrer zog die Schelle, und mit Hilfe der Dienstmagd ward ein
Bursche herbeigeschafft, dem die Verpflichtung oblag, den Garten zu bestellen
und der sich irgendwo in der Nähe frühstückend umhertrieb.

So verließ die Gräfin mit freundlichem Gruß das Studirzimmer des
Pfarrers, und er blieb träumend auf dem Flecke stehen, wo sie sich von ihm
verabschiedet hatte. Er dachte an die Jahre zurück, welche er als Hauslehrer
in einer vornehmen Familie verlebt hatte, und an seine Bekanntschaft mit Schloß
Eichhausen. Welch ein Glück mußte es sein, unter so herrlichen Leuten wie
diese Gräfin und das Fräulein von Sextus, in einer Gemeinde gebildeter Men¬
schen, in einer großen Stadt des Predigtamtes zu warten!

Während dessen durchschritt Gräfin Sibylle die Dorfgasse und begab sich
nach dem ärmsten Teile des Ortes, wo ihre feinen Stiefel mit den schmalen
Sohlen und spitzen Absätzen sich tief in den Erdboden einwühlten, sodaß der
mit Muschelstücken und Fischgräten durchsetzte Sand oft über ihrem Spann
zusammenschlug. Ihr Führer, bedächtig den Rest seines Frühbrots kauend,
schritt neben ihr und warf kritische Blicke seitwärts auf die elegante Erscheinung,
während er bei Begegnung einer befreundeten und geistesverwandten Natur mit
dieser ein listiges Blinzeln austauschte.

Gräfin Sibylle besuchte nacheinander drei Hütten, die ihr wenig Interes¬
santes zu bieten schienen. Wenigstens zeigte sie, im Gegenteil zu ihrem Ve-


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[0662] Die Grafen von Altcnschwerdt. machen. Nennen Sie mir, bitte, einige Familien, die zwar vom Laster berührt, aber noch nicht ganz dem Trunke anheimgefallen sind. Nun denn, sagte der Pfarrer, ich will Ihnen derer nennen, und ich freue mich ungemein Ihrer echt christlichen Gesinnung, gnädige Gräfin. Doch machen Sie sich darauf gefaßt: Trinken thun sie alle. Zwei Laster sind es, die hier ganz allgemein unter dem niedrigen Volke herrschen, das ist erstlich das Stehlen und zweitens das Trinken. Es ist nicht bei allen so schlimm wie bei Jan Me¬ ters und einigen seiner Gesinnungsgenossen, die längst am Delirium verstorben wären, wenn sie nicht zeitweise Gelegenheit hätten, sich im Zuchthause zu er¬ holen, und die, wie man zu sagen pflegt, nur das liegen lassen, was zu heiß oder zu schwer ist. Diese besseren will ich Ihnen aufschreiben. Er machte einige Notizen und reichte der Gräfin das beschriebene Blatt. Darunter ist ein Mann, sagte er, bei dem ich in der That noch nicht alle Hoffnung aufgeben möchte, weil er ein geweckter Bursche ist, der manches wohl mehr aus Leichtsinn verübt hat. Es ist ein Schiffer namens Claus Harmsen. Die Gräfin nahm dankend das Papier. Und nun, sagte sie, habe ich noch den Wunsch, Sie möchten mir einen Führer mitgeben. Wenn ich selbst Sie begleiten — O nein, nein, auf keinen Fall! rief die Gräfin. Ich bitte um ein Mädchen oder einen Burschen, der im Orte bekannt ist. Der Pfarrer zog die Schelle, und mit Hilfe der Dienstmagd ward ein Bursche herbeigeschafft, dem die Verpflichtung oblag, den Garten zu bestellen und der sich irgendwo in der Nähe frühstückend umhertrieb. So verließ die Gräfin mit freundlichem Gruß das Studirzimmer des Pfarrers, und er blieb träumend auf dem Flecke stehen, wo sie sich von ihm verabschiedet hatte. Er dachte an die Jahre zurück, welche er als Hauslehrer in einer vornehmen Familie verlebt hatte, und an seine Bekanntschaft mit Schloß Eichhausen. Welch ein Glück mußte es sein, unter so herrlichen Leuten wie diese Gräfin und das Fräulein von Sextus, in einer Gemeinde gebildeter Men¬ schen, in einer großen Stadt des Predigtamtes zu warten! Während dessen durchschritt Gräfin Sibylle die Dorfgasse und begab sich nach dem ärmsten Teile des Ortes, wo ihre feinen Stiefel mit den schmalen Sohlen und spitzen Absätzen sich tief in den Erdboden einwühlten, sodaß der mit Muschelstücken und Fischgräten durchsetzte Sand oft über ihrem Spann zusammenschlug. Ihr Führer, bedächtig den Rest seines Frühbrots kauend, schritt neben ihr und warf kritische Blicke seitwärts auf die elegante Erscheinung, während er bei Begegnung einer befreundeten und geistesverwandten Natur mit dieser ein listiges Blinzeln austauschte. Gräfin Sibylle besuchte nacheinander drei Hütten, die ihr wenig Interes¬ santes zu bieten schienen. Wenigstens zeigte sie, im Gegenteil zu ihrem Ve-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_151310/662>, abgerufen am 23.07.2024.