Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Grafen von Altenschwerdt.

scheimmg, die unter den Pfarrangehörigen wie ein Paradiesvogel unter Krähen
gesessen haben mußte, schwerlich hätte unbemerkt bleiben können. In seiner
Verwunderung machte er kein Hehl aus diesem Gedanken,

Ich will es für ein Kompliment nehmen, daß Sie mich noch nicht in der
Kirche gesehen haben, entgegnete sie sanft und mit einem wehmütigen Lächeln,
als sei sie die letzte und bescheidenste der Jüngerinnen des Herrn, Dann aber
kam sie auf ihr Anliegen, wie sie es nannte. Sie sprach davon, daß ihr ganzes
Interesse der innern Mission geweiht sei, und daß sie wünsche, auch während
ihrer Badereise diesem Zwecke dienen zu können. Deshalb wende sie sich an
den hochwürdigen Pfarrer von Scholldorf.

Ich wende mich an Sie, sagte sie, weil ich überzeugt bin, daß Sie am
besten wissen werden, wo eine Wohlthat angebracht sein würde. Sowohl mit
Geld als mit Ermahnungen und Zurechtweisungen wünschte ich vorzugehen.
Und ich bin der Meinung, daß gerade diejenigen, welche am tiefsten gefallen
sind, am meisten der emporziehenden Hand bedürfen. Gewiß finden sich in
Ihrer Gemeinde verwahrloste Leute, unglückliche Familien, deren Ernährer ihrer
Pflicht nicht nachkommen. Solche Leute sind es, die ich aufzusuchen gedenke,
um nach meinen schwachen Kräften zu versuchen, sie aufzurichten.

Der Geistliche nickte. Gewiß giebt es deren und nur zu viele, sagte er.
Das Arbeitsfeld der innern Mission ist auch bei uns reich an Aufgaben, Wie
in den höhern Lebenskreisen die Freude am Mammon, so ertötet in den niedrigen
die Sorge um das tägliche Brod die Liebe zum Heiland, Großer Gott, wenn
wir uns im Geiste zurückversetzen in jene gesegnete Zeit, wo die Gestalt des
Erlösers leibhaftig auf Erden wandelte, so können wir es nicht glauben, daß
unter uns, wenn wir damals im jüdischen Lande gelebt hätten, auch nur einer
hätte sein können, der von ihm gehört und nicht Weib und Kind, Bruder und
Schwester, Haus und Hof, Äcker und Vieh verlassen haben sollte, um sein ge¬
heiligtes Antlitz zu sehen! Und ist der Herr nicht immer gegenwärtig, auch
noch jetzt? Und wir dulden nicht nur Weib und Kind, sondern allerhand er¬
bärmliche Dinge, Ehrgeiz und Eitelkeit, und Zorn und Haß, ja sogar die
niedrigsten Laster zwischen uns und dem Heil der Welt!

O wie wahr, mein Herr, o wie wahr! sagte Gräfin Sibylle.

Der Pfarrer trat an seinen Schreibtisch und nahm sein Verzeichnis der
aus öffentlichen Mitteln unterstützten Armen zur Hand. Sie werden keine an¬
genehmen Bekanntschaften machen, sagte er. Es ist ein rauher Schlag von
Menschen, der hier an der Küste lebt, und wahrhaftig, es hat uuter dem Ein-
flusse des unseligen Schnapses ein unbeschreibliches Unkraut in unserm armen
Dorfe unter dem Weizen gewundert, Da ist zum Beispiel der alte Jan Pieters,
der sich betrinkt, so oft er das Geld dazu hat, und der vor sechs Wochen aus
dem Zuchthause kam. Er hatte seiner Frau, die die Ernährerin der Familie ist,
den rechten Arm aus Bosheit zerschmettert. Ich möchte kaum raten, ihn zu


Die Grafen von Altenschwerdt.

scheimmg, die unter den Pfarrangehörigen wie ein Paradiesvogel unter Krähen
gesessen haben mußte, schwerlich hätte unbemerkt bleiben können. In seiner
Verwunderung machte er kein Hehl aus diesem Gedanken,

Ich will es für ein Kompliment nehmen, daß Sie mich noch nicht in der
Kirche gesehen haben, entgegnete sie sanft und mit einem wehmütigen Lächeln,
als sei sie die letzte und bescheidenste der Jüngerinnen des Herrn, Dann aber
kam sie auf ihr Anliegen, wie sie es nannte. Sie sprach davon, daß ihr ganzes
Interesse der innern Mission geweiht sei, und daß sie wünsche, auch während
ihrer Badereise diesem Zwecke dienen zu können. Deshalb wende sie sich an
den hochwürdigen Pfarrer von Scholldorf.

Ich wende mich an Sie, sagte sie, weil ich überzeugt bin, daß Sie am
besten wissen werden, wo eine Wohlthat angebracht sein würde. Sowohl mit
Geld als mit Ermahnungen und Zurechtweisungen wünschte ich vorzugehen.
Und ich bin der Meinung, daß gerade diejenigen, welche am tiefsten gefallen
sind, am meisten der emporziehenden Hand bedürfen. Gewiß finden sich in
Ihrer Gemeinde verwahrloste Leute, unglückliche Familien, deren Ernährer ihrer
Pflicht nicht nachkommen. Solche Leute sind es, die ich aufzusuchen gedenke,
um nach meinen schwachen Kräften zu versuchen, sie aufzurichten.

Der Geistliche nickte. Gewiß giebt es deren und nur zu viele, sagte er.
Das Arbeitsfeld der innern Mission ist auch bei uns reich an Aufgaben, Wie
in den höhern Lebenskreisen die Freude am Mammon, so ertötet in den niedrigen
die Sorge um das tägliche Brod die Liebe zum Heiland, Großer Gott, wenn
wir uns im Geiste zurückversetzen in jene gesegnete Zeit, wo die Gestalt des
Erlösers leibhaftig auf Erden wandelte, so können wir es nicht glauben, daß
unter uns, wenn wir damals im jüdischen Lande gelebt hätten, auch nur einer
hätte sein können, der von ihm gehört und nicht Weib und Kind, Bruder und
Schwester, Haus und Hof, Äcker und Vieh verlassen haben sollte, um sein ge¬
heiligtes Antlitz zu sehen! Und ist der Herr nicht immer gegenwärtig, auch
noch jetzt? Und wir dulden nicht nur Weib und Kind, sondern allerhand er¬
bärmliche Dinge, Ehrgeiz und Eitelkeit, und Zorn und Haß, ja sogar die
niedrigsten Laster zwischen uns und dem Heil der Welt!

O wie wahr, mein Herr, o wie wahr! sagte Gräfin Sibylle.

Der Pfarrer trat an seinen Schreibtisch und nahm sein Verzeichnis der
aus öffentlichen Mitteln unterstützten Armen zur Hand. Sie werden keine an¬
genehmen Bekanntschaften machen, sagte er. Es ist ein rauher Schlag von
Menschen, der hier an der Küste lebt, und wahrhaftig, es hat uuter dem Ein-
flusse des unseligen Schnapses ein unbeschreibliches Unkraut in unserm armen
Dorfe unter dem Weizen gewundert, Da ist zum Beispiel der alte Jan Pieters,
der sich betrinkt, so oft er das Geld dazu hat, und der vor sechs Wochen aus
dem Zuchthause kam. Er hatte seiner Frau, die die Ernährerin der Familie ist,
den rechten Arm aus Bosheit zerschmettert. Ich möchte kaum raten, ihn zu


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0660" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/152630"/>
            <fw type="header" place="top"> Die Grafen von Altenschwerdt.</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_2525" prev="#ID_2524"> scheimmg, die unter den Pfarrangehörigen wie ein Paradiesvogel unter Krähen<lb/>
gesessen haben mußte, schwerlich hätte unbemerkt bleiben können. In seiner<lb/>
Verwunderung machte er kein Hehl aus diesem Gedanken,</p><lb/>
            <p xml:id="ID_2526"> Ich will es für ein Kompliment nehmen, daß Sie mich noch nicht in der<lb/>
Kirche gesehen haben, entgegnete sie sanft und mit einem wehmütigen Lächeln,<lb/>
als sei sie die letzte und bescheidenste der Jüngerinnen des Herrn, Dann aber<lb/>
kam sie auf ihr Anliegen, wie sie es nannte. Sie sprach davon, daß ihr ganzes<lb/>
Interesse der innern Mission geweiht sei, und daß sie wünsche, auch während<lb/>
ihrer Badereise diesem Zwecke dienen zu können. Deshalb wende sie sich an<lb/>
den hochwürdigen Pfarrer von Scholldorf.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_2527"> Ich wende mich an Sie, sagte sie, weil ich überzeugt bin, daß Sie am<lb/>
besten wissen werden, wo eine Wohlthat angebracht sein würde. Sowohl mit<lb/>
Geld als mit Ermahnungen und Zurechtweisungen wünschte ich vorzugehen.<lb/>
Und ich bin der Meinung, daß gerade diejenigen, welche am tiefsten gefallen<lb/>
sind, am meisten der emporziehenden Hand bedürfen. Gewiß finden sich in<lb/>
Ihrer Gemeinde verwahrloste Leute, unglückliche Familien, deren Ernährer ihrer<lb/>
Pflicht nicht nachkommen. Solche Leute sind es, die ich aufzusuchen gedenke,<lb/>
um nach meinen schwachen Kräften zu versuchen, sie aufzurichten.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_2528"> Der Geistliche nickte. Gewiß giebt es deren und nur zu viele, sagte er.<lb/>
Das Arbeitsfeld der innern Mission ist auch bei uns reich an Aufgaben, Wie<lb/>
in den höhern Lebenskreisen die Freude am Mammon, so ertötet in den niedrigen<lb/>
die Sorge um das tägliche Brod die Liebe zum Heiland, Großer Gott, wenn<lb/>
wir uns im Geiste zurückversetzen in jene gesegnete Zeit, wo die Gestalt des<lb/>
Erlösers leibhaftig auf Erden wandelte, so können wir es nicht glauben, daß<lb/>
unter uns, wenn wir damals im jüdischen Lande gelebt hätten, auch nur einer<lb/>
hätte sein können, der von ihm gehört und nicht Weib und Kind, Bruder und<lb/>
Schwester, Haus und Hof, Äcker und Vieh verlassen haben sollte, um sein ge¬<lb/>
heiligtes Antlitz zu sehen! Und ist der Herr nicht immer gegenwärtig, auch<lb/>
noch jetzt? Und wir dulden nicht nur Weib und Kind, sondern allerhand er¬<lb/>
bärmliche Dinge, Ehrgeiz und Eitelkeit, und Zorn und Haß, ja sogar die<lb/>
niedrigsten Laster zwischen uns und dem Heil der Welt!</p><lb/>
            <p xml:id="ID_2529"> O wie wahr, mein Herr, o wie wahr! sagte Gräfin Sibylle.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_2530" next="#ID_2531"> Der Pfarrer trat an seinen Schreibtisch und nahm sein Verzeichnis der<lb/>
aus öffentlichen Mitteln unterstützten Armen zur Hand. Sie werden keine an¬<lb/>
genehmen Bekanntschaften machen, sagte er. Es ist ein rauher Schlag von<lb/>
Menschen, der hier an der Küste lebt, und wahrhaftig, es hat uuter dem Ein-<lb/>
flusse des unseligen Schnapses ein unbeschreibliches Unkraut in unserm armen<lb/>
Dorfe unter dem Weizen gewundert, Da ist zum Beispiel der alte Jan Pieters,<lb/>
der sich betrinkt, so oft er das Geld dazu hat, und der vor sechs Wochen aus<lb/>
dem Zuchthause kam. Er hatte seiner Frau, die die Ernährerin der Familie ist,<lb/>
den rechten Arm aus Bosheit zerschmettert. Ich möchte kaum raten, ihn zu</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0660] Die Grafen von Altenschwerdt. scheimmg, die unter den Pfarrangehörigen wie ein Paradiesvogel unter Krähen gesessen haben mußte, schwerlich hätte unbemerkt bleiben können. In seiner Verwunderung machte er kein Hehl aus diesem Gedanken, Ich will es für ein Kompliment nehmen, daß Sie mich noch nicht in der Kirche gesehen haben, entgegnete sie sanft und mit einem wehmütigen Lächeln, als sei sie die letzte und bescheidenste der Jüngerinnen des Herrn, Dann aber kam sie auf ihr Anliegen, wie sie es nannte. Sie sprach davon, daß ihr ganzes Interesse der innern Mission geweiht sei, und daß sie wünsche, auch während ihrer Badereise diesem Zwecke dienen zu können. Deshalb wende sie sich an den hochwürdigen Pfarrer von Scholldorf. Ich wende mich an Sie, sagte sie, weil ich überzeugt bin, daß Sie am besten wissen werden, wo eine Wohlthat angebracht sein würde. Sowohl mit Geld als mit Ermahnungen und Zurechtweisungen wünschte ich vorzugehen. Und ich bin der Meinung, daß gerade diejenigen, welche am tiefsten gefallen sind, am meisten der emporziehenden Hand bedürfen. Gewiß finden sich in Ihrer Gemeinde verwahrloste Leute, unglückliche Familien, deren Ernährer ihrer Pflicht nicht nachkommen. Solche Leute sind es, die ich aufzusuchen gedenke, um nach meinen schwachen Kräften zu versuchen, sie aufzurichten. Der Geistliche nickte. Gewiß giebt es deren und nur zu viele, sagte er. Das Arbeitsfeld der innern Mission ist auch bei uns reich an Aufgaben, Wie in den höhern Lebenskreisen die Freude am Mammon, so ertötet in den niedrigen die Sorge um das tägliche Brod die Liebe zum Heiland, Großer Gott, wenn wir uns im Geiste zurückversetzen in jene gesegnete Zeit, wo die Gestalt des Erlösers leibhaftig auf Erden wandelte, so können wir es nicht glauben, daß unter uns, wenn wir damals im jüdischen Lande gelebt hätten, auch nur einer hätte sein können, der von ihm gehört und nicht Weib und Kind, Bruder und Schwester, Haus und Hof, Äcker und Vieh verlassen haben sollte, um sein ge¬ heiligtes Antlitz zu sehen! Und ist der Herr nicht immer gegenwärtig, auch noch jetzt? Und wir dulden nicht nur Weib und Kind, sondern allerhand er¬ bärmliche Dinge, Ehrgeiz und Eitelkeit, und Zorn und Haß, ja sogar die niedrigsten Laster zwischen uns und dem Heil der Welt! O wie wahr, mein Herr, o wie wahr! sagte Gräfin Sibylle. Der Pfarrer trat an seinen Schreibtisch und nahm sein Verzeichnis der aus öffentlichen Mitteln unterstützten Armen zur Hand. Sie werden keine an¬ genehmen Bekanntschaften machen, sagte er. Es ist ein rauher Schlag von Menschen, der hier an der Küste lebt, und wahrhaftig, es hat uuter dem Ein- flusse des unseligen Schnapses ein unbeschreibliches Unkraut in unserm armen Dorfe unter dem Weizen gewundert, Da ist zum Beispiel der alte Jan Pieters, der sich betrinkt, so oft er das Geld dazu hat, und der vor sechs Wochen aus dem Zuchthause kam. Er hatte seiner Frau, die die Ernährerin der Familie ist, den rechten Arm aus Bosheit zerschmettert. Ich möchte kaum raten, ihn zu

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_151310
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_151310/660
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_151310/660>, abgerufen am 23.07.2024.