Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Das Ministerium Ferry und die verfassungsrevifion.

rung leidenschaftlichen Bestrebungen des Abgeordnetenhauses keinen Widerstand
mehr leisten. Sträubt sie sich, so beseitigt man sie durch Votiren gegen ihre
Vorschläge oder durch ein Mißtrauensvotum, sie macht einer andern und diese
wieder einer andern Platz, und der schönste Despotismus ist hergestellt, wenn
die Wahlen uicht einmal den Gemäßigten die Oberhand in der allmächtig ge¬
wordenen Versammlung verschaffen. Dies das Ideal aller Radikalen in Frank¬
reich, wie es, wenn auch nicht gerade das Ideal, aber sicher unbewußt das Ziel
und Ende der Bestrebungen unsrer Fortschrittsdemokraten ist.

Für jetzt sind aber in Frankreich die Bäume doch noch nicht in den Himmel
gewachsen, obwohl es einen Augenblick so scheinen konnte, und die Minorität
auf der linken Seite fast fortdauernd gewachsen ist. Unmittelbar nach dem
Amtsantritt der neuen Minister stellte Ferry, wie in voriger Nummer berichtet
wurde, dreimal mittelbar die Vertrauensfrage, und jedesmal erklärte sich eine
bedeutende Majorität der Deputirten für ihn und seine Kollegen. Dann aber
schien sich das Blatt zu wenden, und das Kabinet des Präsidenten Grevy wurde
deutlich daran erinnert, daß es auf unsicherem Boden gehe und sterblich sei wie
seine Vorgänger. Am 5. März erlitt Ferry in der Frage der Verfassungs¬
revision eine Niederlage, allerdings nicht in einer förmlichen parlamentarischen
Schlacht, sondern bei einem Antrage auf Vertagung einer Debatte, indeß prägte
die Stellung, die der Ministerpräsident bei dieser Gelegenheit einnahm, der Ab¬
stimmung einen gegen das Kabinet gerichteten Zug auf. Der Ausgangspunkt
war die Frage, ob gewisse Vorschläge wegen einer Umbildung der Verfassung
der Republik "in Betracht genommen werden sollten." Der Premier erklärte,
daß er dem Senate keine derartigen Pläne vorlegen werde. Zu geeigneter Zeit
werde er die Sache in die Hand nehmen, aber jetzt würde eine Anregung der¬
selben unzeitgemäß sein, da sie einen scharfen Konflikt zwischen den beiden ge¬
setzgebenden Körperschaften zur Folge habe" und das Land, welches vor allen
Dingen Frieden verlange, in heftige Aufregung versetzen werde. Wenn das
Volk sähe, daß die Republik Unsicherheit und Wühlerei bedeute, so würde es
ihr seine Unterstützung entziehen. Das waren starke und, wie man meinen sollte,
überzeugende Gründe. Aber die Mehrheit der Kammer ließ sich von ihnen nicht
überzeugen. Als Clemenceau den Minister um weitere Erklärungen ersuchte und
den Antrag stellte, die Debatte zu vertagen, erreichte er das damit von ihm ins
Auge gefaßte Ziel, indem sein Antrag mit 69 Stimmen über die Hälfte der
Mitglieder des Hauses Annahme fand. Mit andern Worten: er brachte der
Regierung eine Niederlage bei und zeigte wieder einmal, wie wenig Verlaß in
Frankreich auf ministerielle Majoritäten ist. Natürlich war nun noch die Haupt¬
frage zu entscheiden, und man konnte hoffen, daß Ferry hier über seinen Gegner
siegen werde, wie dies denn in der That am nächsten Tage geschah. Aber es
war immerhin merkwürdig, daß ein Ministerpräsident, nachdem er kurz zuvor
wiederholt die Mehrheit für sich gehabt und nachdem er erst zehn Tage am


Das Ministerium Ferry und die verfassungsrevifion.

rung leidenschaftlichen Bestrebungen des Abgeordnetenhauses keinen Widerstand
mehr leisten. Sträubt sie sich, so beseitigt man sie durch Votiren gegen ihre
Vorschläge oder durch ein Mißtrauensvotum, sie macht einer andern und diese
wieder einer andern Platz, und der schönste Despotismus ist hergestellt, wenn
die Wahlen uicht einmal den Gemäßigten die Oberhand in der allmächtig ge¬
wordenen Versammlung verschaffen. Dies das Ideal aller Radikalen in Frank¬
reich, wie es, wenn auch nicht gerade das Ideal, aber sicher unbewußt das Ziel
und Ende der Bestrebungen unsrer Fortschrittsdemokraten ist.

Für jetzt sind aber in Frankreich die Bäume doch noch nicht in den Himmel
gewachsen, obwohl es einen Augenblick so scheinen konnte, und die Minorität
auf der linken Seite fast fortdauernd gewachsen ist. Unmittelbar nach dem
Amtsantritt der neuen Minister stellte Ferry, wie in voriger Nummer berichtet
wurde, dreimal mittelbar die Vertrauensfrage, und jedesmal erklärte sich eine
bedeutende Majorität der Deputirten für ihn und seine Kollegen. Dann aber
schien sich das Blatt zu wenden, und das Kabinet des Präsidenten Grevy wurde
deutlich daran erinnert, daß es auf unsicherem Boden gehe und sterblich sei wie
seine Vorgänger. Am 5. März erlitt Ferry in der Frage der Verfassungs¬
revision eine Niederlage, allerdings nicht in einer förmlichen parlamentarischen
Schlacht, sondern bei einem Antrage auf Vertagung einer Debatte, indeß prägte
die Stellung, die der Ministerpräsident bei dieser Gelegenheit einnahm, der Ab¬
stimmung einen gegen das Kabinet gerichteten Zug auf. Der Ausgangspunkt
war die Frage, ob gewisse Vorschläge wegen einer Umbildung der Verfassung
der Republik „in Betracht genommen werden sollten." Der Premier erklärte,
daß er dem Senate keine derartigen Pläne vorlegen werde. Zu geeigneter Zeit
werde er die Sache in die Hand nehmen, aber jetzt würde eine Anregung der¬
selben unzeitgemäß sein, da sie einen scharfen Konflikt zwischen den beiden ge¬
setzgebenden Körperschaften zur Folge habe» und das Land, welches vor allen
Dingen Frieden verlange, in heftige Aufregung versetzen werde. Wenn das
Volk sähe, daß die Republik Unsicherheit und Wühlerei bedeute, so würde es
ihr seine Unterstützung entziehen. Das waren starke und, wie man meinen sollte,
überzeugende Gründe. Aber die Mehrheit der Kammer ließ sich von ihnen nicht
überzeugen. Als Clemenceau den Minister um weitere Erklärungen ersuchte und
den Antrag stellte, die Debatte zu vertagen, erreichte er das damit von ihm ins
Auge gefaßte Ziel, indem sein Antrag mit 69 Stimmen über die Hälfte der
Mitglieder des Hauses Annahme fand. Mit andern Worten: er brachte der
Regierung eine Niederlage bei und zeigte wieder einmal, wie wenig Verlaß in
Frankreich auf ministerielle Majoritäten ist. Natürlich war nun noch die Haupt¬
frage zu entscheiden, und man konnte hoffen, daß Ferry hier über seinen Gegner
siegen werde, wie dies denn in der That am nächsten Tage geschah. Aber es
war immerhin merkwürdig, daß ein Ministerpräsident, nachdem er kurz zuvor
wiederholt die Mehrheit für sich gehabt und nachdem er erst zehn Tage am


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0650" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/152610"/>
          <fw type="header" place="top"> Das Ministerium Ferry und die verfassungsrevifion.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2473" prev="#ID_2472"> rung leidenschaftlichen Bestrebungen des Abgeordnetenhauses keinen Widerstand<lb/>
mehr leisten. Sträubt sie sich, so beseitigt man sie durch Votiren gegen ihre<lb/>
Vorschläge oder durch ein Mißtrauensvotum, sie macht einer andern und diese<lb/>
wieder einer andern Platz, und der schönste Despotismus ist hergestellt, wenn<lb/>
die Wahlen uicht einmal den Gemäßigten die Oberhand in der allmächtig ge¬<lb/>
wordenen Versammlung verschaffen. Dies das Ideal aller Radikalen in Frank¬<lb/>
reich, wie es, wenn auch nicht gerade das Ideal, aber sicher unbewußt das Ziel<lb/>
und Ende der Bestrebungen unsrer Fortschrittsdemokraten ist.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2474" next="#ID_2475"> Für jetzt sind aber in Frankreich die Bäume doch noch nicht in den Himmel<lb/>
gewachsen, obwohl es einen Augenblick so scheinen konnte, und die Minorität<lb/>
auf der linken Seite fast fortdauernd gewachsen ist. Unmittelbar nach dem<lb/>
Amtsantritt der neuen Minister stellte Ferry, wie in voriger Nummer berichtet<lb/>
wurde, dreimal mittelbar die Vertrauensfrage, und jedesmal erklärte sich eine<lb/>
bedeutende Majorität der Deputirten für ihn und seine Kollegen. Dann aber<lb/>
schien sich das Blatt zu wenden, und das Kabinet des Präsidenten Grevy wurde<lb/>
deutlich daran erinnert, daß es auf unsicherem Boden gehe und sterblich sei wie<lb/>
seine Vorgänger. Am 5. März erlitt Ferry in der Frage der Verfassungs¬<lb/>
revision eine Niederlage, allerdings nicht in einer förmlichen parlamentarischen<lb/>
Schlacht, sondern bei einem Antrage auf Vertagung einer Debatte, indeß prägte<lb/>
die Stellung, die der Ministerpräsident bei dieser Gelegenheit einnahm, der Ab¬<lb/>
stimmung einen gegen das Kabinet gerichteten Zug auf. Der Ausgangspunkt<lb/>
war die Frage, ob gewisse Vorschläge wegen einer Umbildung der Verfassung<lb/>
der Republik &#x201E;in Betracht genommen werden sollten." Der Premier erklärte,<lb/>
daß er dem Senate keine derartigen Pläne vorlegen werde. Zu geeigneter Zeit<lb/>
werde er die Sache in die Hand nehmen, aber jetzt würde eine Anregung der¬<lb/>
selben unzeitgemäß sein, da sie einen scharfen Konflikt zwischen den beiden ge¬<lb/>
setzgebenden Körperschaften zur Folge habe» und das Land, welches vor allen<lb/>
Dingen Frieden verlange, in heftige Aufregung versetzen werde. Wenn das<lb/>
Volk sähe, daß die Republik Unsicherheit und Wühlerei bedeute, so würde es<lb/>
ihr seine Unterstützung entziehen. Das waren starke und, wie man meinen sollte,<lb/>
überzeugende Gründe. Aber die Mehrheit der Kammer ließ sich von ihnen nicht<lb/>
überzeugen. Als Clemenceau den Minister um weitere Erklärungen ersuchte und<lb/>
den Antrag stellte, die Debatte zu vertagen, erreichte er das damit von ihm ins<lb/>
Auge gefaßte Ziel, indem sein Antrag mit 69 Stimmen über die Hälfte der<lb/>
Mitglieder des Hauses Annahme fand. Mit andern Worten: er brachte der<lb/>
Regierung eine Niederlage bei und zeigte wieder einmal, wie wenig Verlaß in<lb/>
Frankreich auf ministerielle Majoritäten ist. Natürlich war nun noch die Haupt¬<lb/>
frage zu entscheiden, und man konnte hoffen, daß Ferry hier über seinen Gegner<lb/>
siegen werde, wie dies denn in der That am nächsten Tage geschah. Aber es<lb/>
war immerhin merkwürdig, daß ein Ministerpräsident, nachdem er kurz zuvor<lb/>
wiederholt die Mehrheit für sich gehabt und nachdem er erst zehn Tage am</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0650] Das Ministerium Ferry und die verfassungsrevifion. rung leidenschaftlichen Bestrebungen des Abgeordnetenhauses keinen Widerstand mehr leisten. Sträubt sie sich, so beseitigt man sie durch Votiren gegen ihre Vorschläge oder durch ein Mißtrauensvotum, sie macht einer andern und diese wieder einer andern Platz, und der schönste Despotismus ist hergestellt, wenn die Wahlen uicht einmal den Gemäßigten die Oberhand in der allmächtig ge¬ wordenen Versammlung verschaffen. Dies das Ideal aller Radikalen in Frank¬ reich, wie es, wenn auch nicht gerade das Ideal, aber sicher unbewußt das Ziel und Ende der Bestrebungen unsrer Fortschrittsdemokraten ist. Für jetzt sind aber in Frankreich die Bäume doch noch nicht in den Himmel gewachsen, obwohl es einen Augenblick so scheinen konnte, und die Minorität auf der linken Seite fast fortdauernd gewachsen ist. Unmittelbar nach dem Amtsantritt der neuen Minister stellte Ferry, wie in voriger Nummer berichtet wurde, dreimal mittelbar die Vertrauensfrage, und jedesmal erklärte sich eine bedeutende Majorität der Deputirten für ihn und seine Kollegen. Dann aber schien sich das Blatt zu wenden, und das Kabinet des Präsidenten Grevy wurde deutlich daran erinnert, daß es auf unsicherem Boden gehe und sterblich sei wie seine Vorgänger. Am 5. März erlitt Ferry in der Frage der Verfassungs¬ revision eine Niederlage, allerdings nicht in einer förmlichen parlamentarischen Schlacht, sondern bei einem Antrage auf Vertagung einer Debatte, indeß prägte die Stellung, die der Ministerpräsident bei dieser Gelegenheit einnahm, der Ab¬ stimmung einen gegen das Kabinet gerichteten Zug auf. Der Ausgangspunkt war die Frage, ob gewisse Vorschläge wegen einer Umbildung der Verfassung der Republik „in Betracht genommen werden sollten." Der Premier erklärte, daß er dem Senate keine derartigen Pläne vorlegen werde. Zu geeigneter Zeit werde er die Sache in die Hand nehmen, aber jetzt würde eine Anregung der¬ selben unzeitgemäß sein, da sie einen scharfen Konflikt zwischen den beiden ge¬ setzgebenden Körperschaften zur Folge habe» und das Land, welches vor allen Dingen Frieden verlange, in heftige Aufregung versetzen werde. Wenn das Volk sähe, daß die Republik Unsicherheit und Wühlerei bedeute, so würde es ihr seine Unterstützung entziehen. Das waren starke und, wie man meinen sollte, überzeugende Gründe. Aber die Mehrheit der Kammer ließ sich von ihnen nicht überzeugen. Als Clemenceau den Minister um weitere Erklärungen ersuchte und den Antrag stellte, die Debatte zu vertagen, erreichte er das damit von ihm ins Auge gefaßte Ziel, indem sein Antrag mit 69 Stimmen über die Hälfte der Mitglieder des Hauses Annahme fand. Mit andern Worten: er brachte der Regierung eine Niederlage bei und zeigte wieder einmal, wie wenig Verlaß in Frankreich auf ministerielle Majoritäten ist. Natürlich war nun noch die Haupt¬ frage zu entscheiden, und man konnte hoffen, daß Ferry hier über seinen Gegner siegen werde, wie dies denn in der That am nächsten Tage geschah. Aber es war immerhin merkwürdig, daß ein Ministerpräsident, nachdem er kurz zuvor wiederholt die Mehrheit für sich gehabt und nachdem er erst zehn Tage am

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_151310
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_151310/650
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_151310/650>, abgerufen am 25.08.2024.