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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal.

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Das Ministerium Ferry und die verfaffungsrevision.

Jm Senate kam am 1. März die von der Rechten angekündigte Jnter¬
pellation in Betreff der Entfernung der orleanistischen Prinzen aus dem aktiven
Militärdienste zur Verhandlung, und man beklagte sich, daß die Regierung das
bezügliche Gesetz falsch gedeutet und ungehörig angewendet habe. Der Kriegs¬
minister entgegnete, dieser Vorwurf sei grundlos; denn die Regierung habe das
Eigentumsrecht der Gemaßregelteu an ihren Graden nicht verletzt, es stehe ihr
aber die Befugnis zu, über die dienstliche Stellung der Prinzen zu verfügen,
und sie habe dieselben aus der Armee entfernen müssen, da ihre Stellung hier
gegen die Verfassung verstoße. Der streng orleanistische Herzog d'Audiffre-
Pasquier bestritt die Erklärungen des Ministers als ungenügend, vermochte
den Unterschied zwischen den Graden und der dienstlichen Stellung der Prinzen
nicht anzuerkennen, behauptete, daß alle Offiziere künftig von dem Belieben des
Kriegsministers abhängen würden, und forderte schließlich seine Kollegen auf,
sich gegen den "Despotismus der Republik" und die Dekrete auszusprechen,
durch welche die drei Prinzen in Ruhestand versetzt worden waren. Der
Senat aber, der bis dahin das Interesse der Armee und das Prinzip
der Gerechtigkeit vertreten hatte, glaubte, den Bogen nicht zu straff spannen
zu dürfen, er fürchtete einen bedenklichen Zusammenstoß mit der Er¬
regung, die im andern Hause die Mehrheit ergriffen hatte, und so handelte
er politisch, indem er der Aufforderung des orleanistischen Redners nicht nach¬
gab, sondern die vom Ministerpräsidenten Ferry beantragte einfache Tages¬
ordnung mit 154 gegen 110 Stimmen annahm, womit der Gegenstand er¬
ledigt war.

Schwer gelang es dem neuen Kabinet, sich vor der Linken in der Depu-
tirtenkammer im Sattel zu erhalten, und vielleicht war es nur der Indisposition
Clemenceaus, welcher die Sache der letztern führte, zu danken, wenn Ferry hier
keine Niederlage erlitt. Es handelte sich in diesem Falle um die Frage, ob
man ohne Verzug an die Umgestaltung der Verfassung gehen oder die Sache
vertagen solle. Die Umgestaltung der Verfassung der Republik bedeutet erstens
Einführung der Listenwahlen statt der Wahlen nach Arrondissements, zweitens,
und das ist gegenwärtig das nächste Ziel der Radikalen und Gambettisten, eine
"Reform" des Senats, die denselben weniger einflußreich und von der jeweiligen
Strömung der öffentlichen Meinung abhängiger machen (so die Gambettisten)
oder (so die Radikalen) ihn ganz und gar beseitigen soll. Die Leute von den
beiden Gruppen der Linken wollen Unbeschränktheit der Deputirtenkammer, einen
souveränen Konvent, dessen Willensäußerungen durch keine andre Körperschaft
kontrolirt, dessen Beschlüsse von keinem Senat umgestoßen werden können, sie
verlangen, daß der Parlamentarismus bis zu seinen äußersten Konsequenzen
durchgeführt werde, und die Opposition der Senatoren gegen die von der Mehr¬
heit der Deputirten beschlossenen Proskriptionsgesetze hat dieses Begehren ver¬
stärkt. Ist erst der Senat aus dem Wege geschafft, so kann auch die Regie-


Grenzboten I. 1383. 81
Das Ministerium Ferry und die verfaffungsrevision.

Jm Senate kam am 1. März die von der Rechten angekündigte Jnter¬
pellation in Betreff der Entfernung der orleanistischen Prinzen aus dem aktiven
Militärdienste zur Verhandlung, und man beklagte sich, daß die Regierung das
bezügliche Gesetz falsch gedeutet und ungehörig angewendet habe. Der Kriegs¬
minister entgegnete, dieser Vorwurf sei grundlos; denn die Regierung habe das
Eigentumsrecht der Gemaßregelteu an ihren Graden nicht verletzt, es stehe ihr
aber die Befugnis zu, über die dienstliche Stellung der Prinzen zu verfügen,
und sie habe dieselben aus der Armee entfernen müssen, da ihre Stellung hier
gegen die Verfassung verstoße. Der streng orleanistische Herzog d'Audiffre-
Pasquier bestritt die Erklärungen des Ministers als ungenügend, vermochte
den Unterschied zwischen den Graden und der dienstlichen Stellung der Prinzen
nicht anzuerkennen, behauptete, daß alle Offiziere künftig von dem Belieben des
Kriegsministers abhängen würden, und forderte schließlich seine Kollegen auf,
sich gegen den „Despotismus der Republik" und die Dekrete auszusprechen,
durch welche die drei Prinzen in Ruhestand versetzt worden waren. Der
Senat aber, der bis dahin das Interesse der Armee und das Prinzip
der Gerechtigkeit vertreten hatte, glaubte, den Bogen nicht zu straff spannen
zu dürfen, er fürchtete einen bedenklichen Zusammenstoß mit der Er¬
regung, die im andern Hause die Mehrheit ergriffen hatte, und so handelte
er politisch, indem er der Aufforderung des orleanistischen Redners nicht nach¬
gab, sondern die vom Ministerpräsidenten Ferry beantragte einfache Tages¬
ordnung mit 154 gegen 110 Stimmen annahm, womit der Gegenstand er¬
ledigt war.

Schwer gelang es dem neuen Kabinet, sich vor der Linken in der Depu-
tirtenkammer im Sattel zu erhalten, und vielleicht war es nur der Indisposition
Clemenceaus, welcher die Sache der letztern führte, zu danken, wenn Ferry hier
keine Niederlage erlitt. Es handelte sich in diesem Falle um die Frage, ob
man ohne Verzug an die Umgestaltung der Verfassung gehen oder die Sache
vertagen solle. Die Umgestaltung der Verfassung der Republik bedeutet erstens
Einführung der Listenwahlen statt der Wahlen nach Arrondissements, zweitens,
und das ist gegenwärtig das nächste Ziel der Radikalen und Gambettisten, eine
„Reform" des Senats, die denselben weniger einflußreich und von der jeweiligen
Strömung der öffentlichen Meinung abhängiger machen (so die Gambettisten)
oder (so die Radikalen) ihn ganz und gar beseitigen soll. Die Leute von den
beiden Gruppen der Linken wollen Unbeschränktheit der Deputirtenkammer, einen
souveränen Konvent, dessen Willensäußerungen durch keine andre Körperschaft
kontrolirt, dessen Beschlüsse von keinem Senat umgestoßen werden können, sie
verlangen, daß der Parlamentarismus bis zu seinen äußersten Konsequenzen
durchgeführt werde, und die Opposition der Senatoren gegen die von der Mehr¬
heit der Deputirten beschlossenen Proskriptionsgesetze hat dieses Begehren ver¬
stärkt. Ist erst der Senat aus dem Wege geschafft, so kann auch die Regie-


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[0649] Das Ministerium Ferry und die verfaffungsrevision. Jm Senate kam am 1. März die von der Rechten angekündigte Jnter¬ pellation in Betreff der Entfernung der orleanistischen Prinzen aus dem aktiven Militärdienste zur Verhandlung, und man beklagte sich, daß die Regierung das bezügliche Gesetz falsch gedeutet und ungehörig angewendet habe. Der Kriegs¬ minister entgegnete, dieser Vorwurf sei grundlos; denn die Regierung habe das Eigentumsrecht der Gemaßregelteu an ihren Graden nicht verletzt, es stehe ihr aber die Befugnis zu, über die dienstliche Stellung der Prinzen zu verfügen, und sie habe dieselben aus der Armee entfernen müssen, da ihre Stellung hier gegen die Verfassung verstoße. Der streng orleanistische Herzog d'Audiffre- Pasquier bestritt die Erklärungen des Ministers als ungenügend, vermochte den Unterschied zwischen den Graden und der dienstlichen Stellung der Prinzen nicht anzuerkennen, behauptete, daß alle Offiziere künftig von dem Belieben des Kriegsministers abhängen würden, und forderte schließlich seine Kollegen auf, sich gegen den „Despotismus der Republik" und die Dekrete auszusprechen, durch welche die drei Prinzen in Ruhestand versetzt worden waren. Der Senat aber, der bis dahin das Interesse der Armee und das Prinzip der Gerechtigkeit vertreten hatte, glaubte, den Bogen nicht zu straff spannen zu dürfen, er fürchtete einen bedenklichen Zusammenstoß mit der Er¬ regung, die im andern Hause die Mehrheit ergriffen hatte, und so handelte er politisch, indem er der Aufforderung des orleanistischen Redners nicht nach¬ gab, sondern die vom Ministerpräsidenten Ferry beantragte einfache Tages¬ ordnung mit 154 gegen 110 Stimmen annahm, womit der Gegenstand er¬ ledigt war. Schwer gelang es dem neuen Kabinet, sich vor der Linken in der Depu- tirtenkammer im Sattel zu erhalten, und vielleicht war es nur der Indisposition Clemenceaus, welcher die Sache der letztern führte, zu danken, wenn Ferry hier keine Niederlage erlitt. Es handelte sich in diesem Falle um die Frage, ob man ohne Verzug an die Umgestaltung der Verfassung gehen oder die Sache vertagen solle. Die Umgestaltung der Verfassung der Republik bedeutet erstens Einführung der Listenwahlen statt der Wahlen nach Arrondissements, zweitens, und das ist gegenwärtig das nächste Ziel der Radikalen und Gambettisten, eine „Reform" des Senats, die denselben weniger einflußreich und von der jeweiligen Strömung der öffentlichen Meinung abhängiger machen (so die Gambettisten) oder (so die Radikalen) ihn ganz und gar beseitigen soll. Die Leute von den beiden Gruppen der Linken wollen Unbeschränktheit der Deputirtenkammer, einen souveränen Konvent, dessen Willensäußerungen durch keine andre Körperschaft kontrolirt, dessen Beschlüsse von keinem Senat umgestoßen werden können, sie verlangen, daß der Parlamentarismus bis zu seinen äußersten Konsequenzen durchgeführt werde, und die Opposition der Senatoren gegen die von der Mehr¬ heit der Deputirten beschlossenen Proskriptionsgesetze hat dieses Begehren ver¬ stärkt. Ist erst der Senat aus dem Wege geschafft, so kann auch die Regie- Grenzboten I. 1383. 81

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_151310/649>, abgerufen am 25.08.2024.