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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal.

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Goethe und die Koryphäen der heutigen Naturwissenschaft.

zu einem Ganzen annähernd erschließen, nachdenken oder "nachstammeln" könne,
daß es aber thöricht sei, diesen innern Zweck mit dem äußern Nutzen zu ver¬
wechseln, den eine Pflanze oder ein Tier dem andern Tiere oder dem Menschen
bringe. Virchow behauptet, daß auch jede Zelle, die zum Bau der Pflanze
oder des tierischen Leibes dient, ein solches selbständiges Individuum sei. Und
doch ist das Verhältnis des organischen Formelementes zur organischen Form
des Ganzen genau dasselbe, wie das eines Mauersteins zum architektonischen Ge¬
bäude. Die Idee des Architekten wird uns nicht durch das Studium der Ele¬
mente des Baues begreiflich. Die Zelle hat gar keine selbständige Bedeutung
und erfüllt durchaus keinen andern Zweck, als im Dienste des Mechanismus
zu stehen, der die Form des Ganzen zustande kommen läßt. Dadurch sollen
die Verdienste Virchows um die medizinische Wissenschaft nicht geschmälert werden,
aber es soll doch angedeutet sein, daß dieselben sicher nicht aus seiner Überein¬
stimmung mit Goethe zu folgern sind.

Am schlimmsten wird Goethe von Dubois-Reymond behandelt in seiner
Berliner Rektoratsantrittsrede vom 15. Oktober 1882, die er unter dem Titel
"Goethe und kein Ende" veröffentlicht hat. Sei es, daß Haeckel durch die un¬
ablässig wiederholten Berufungen auf Goethes morphologische Anschauungen,
sei es, daß Herman Grimm durch seine überzeugende Darstellung von Goethes
Verdiensten um die Naturwissenschaft in seinen Vorlesungen (1877), oder sei es,
daß ein alter Ingrimm des mechanischen Naturforschers gegen den Vertreter
einer subjektiven Farbenlehre ihn nicht ruhen ließen, genug, der berühmte Ber¬
liner Professor hielt es für angemessen, einmal gründlich ein Ende zu macheu
mit dem thörichten Wahn, als ob die Naturwissenschaft nicht auch ohne Goethes
Beteiligung gerade so weit gekommen wäre, wie sie jetzt ist, und zu zeigen, daß mehr,
als was seine einzelnen Erfolge auf morphologischen Gebiete genützt haben, die
falsche Richtung geschadet habe, "welche er der damals durch die sogenannte
Naturphilosophie schon hinlänglich bethörten deutschen Wissenschaft einprägte."
Wenn wir die unglaublich philisterhafte Beurteilung des Faust im Anfang des¬
selben Vortrags, der "besser gethan hätte, statt an Hof zu gehen, ungedecktes
Papiergeld auszugeben und zu den Müttern in die vierte Dimension zu steige",
Gretchen zu heiraten, sein Kind ehrlich zu machen und Elektrisirmaschine und
Luftpumpe zu erfinden," zusammenhalten mit der Beurteilung der Farbenlehre,
so ist das Resultat ungefähr dahin zusammenzufassen, daß es schade sei, daß
dieser Schuster nicht bei seinem Leisten geblieben. Er hatte ja einen so deut¬
lich vorgezeichneten Beruf als großer Dichter, wobei er sich ja auch hinreichend
ernähren konnte, warum mußte er sich noch in Dinge mischen, die er garnicht
verstand, und für die er gar kein Talent hatte? Es fehlte ihm der Begriff der
mechanischen Kausalität, sagt der Professor, darum war er als Tragödiendichter
nicht besonders geschickt in der künstlichen Verschlingung dramatisch spannender
Motive, darum hatte er als Naturforscher eine unberechtigte Abneigung gegen


Goethe und die Koryphäen der heutigen Naturwissenschaft.

zu einem Ganzen annähernd erschließen, nachdenken oder „nachstammeln" könne,
daß es aber thöricht sei, diesen innern Zweck mit dem äußern Nutzen zu ver¬
wechseln, den eine Pflanze oder ein Tier dem andern Tiere oder dem Menschen
bringe. Virchow behauptet, daß auch jede Zelle, die zum Bau der Pflanze
oder des tierischen Leibes dient, ein solches selbständiges Individuum sei. Und
doch ist das Verhältnis des organischen Formelementes zur organischen Form
des Ganzen genau dasselbe, wie das eines Mauersteins zum architektonischen Ge¬
bäude. Die Idee des Architekten wird uns nicht durch das Studium der Ele¬
mente des Baues begreiflich. Die Zelle hat gar keine selbständige Bedeutung
und erfüllt durchaus keinen andern Zweck, als im Dienste des Mechanismus
zu stehen, der die Form des Ganzen zustande kommen läßt. Dadurch sollen
die Verdienste Virchows um die medizinische Wissenschaft nicht geschmälert werden,
aber es soll doch angedeutet sein, daß dieselben sicher nicht aus seiner Überein¬
stimmung mit Goethe zu folgern sind.

Am schlimmsten wird Goethe von Dubois-Reymond behandelt in seiner
Berliner Rektoratsantrittsrede vom 15. Oktober 1882, die er unter dem Titel
„Goethe und kein Ende" veröffentlicht hat. Sei es, daß Haeckel durch die un¬
ablässig wiederholten Berufungen auf Goethes morphologische Anschauungen,
sei es, daß Herman Grimm durch seine überzeugende Darstellung von Goethes
Verdiensten um die Naturwissenschaft in seinen Vorlesungen (1877), oder sei es,
daß ein alter Ingrimm des mechanischen Naturforschers gegen den Vertreter
einer subjektiven Farbenlehre ihn nicht ruhen ließen, genug, der berühmte Ber¬
liner Professor hielt es für angemessen, einmal gründlich ein Ende zu macheu
mit dem thörichten Wahn, als ob die Naturwissenschaft nicht auch ohne Goethes
Beteiligung gerade so weit gekommen wäre, wie sie jetzt ist, und zu zeigen, daß mehr,
als was seine einzelnen Erfolge auf morphologischen Gebiete genützt haben, die
falsche Richtung geschadet habe, „welche er der damals durch die sogenannte
Naturphilosophie schon hinlänglich bethörten deutschen Wissenschaft einprägte."
Wenn wir die unglaublich philisterhafte Beurteilung des Faust im Anfang des¬
selben Vortrags, der „besser gethan hätte, statt an Hof zu gehen, ungedecktes
Papiergeld auszugeben und zu den Müttern in die vierte Dimension zu steige»,
Gretchen zu heiraten, sein Kind ehrlich zu machen und Elektrisirmaschine und
Luftpumpe zu erfinden," zusammenhalten mit der Beurteilung der Farbenlehre,
so ist das Resultat ungefähr dahin zusammenzufassen, daß es schade sei, daß
dieser Schuster nicht bei seinem Leisten geblieben. Er hatte ja einen so deut¬
lich vorgezeichneten Beruf als großer Dichter, wobei er sich ja auch hinreichend
ernähren konnte, warum mußte er sich noch in Dinge mischen, die er garnicht
verstand, und für die er gar kein Talent hatte? Es fehlte ihm der Begriff der
mechanischen Kausalität, sagt der Professor, darum war er als Tragödiendichter
nicht besonders geschickt in der künstlichen Verschlingung dramatisch spannender
Motive, darum hatte er als Naturforscher eine unberechtigte Abneigung gegen


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[0632] Goethe und die Koryphäen der heutigen Naturwissenschaft. zu einem Ganzen annähernd erschließen, nachdenken oder „nachstammeln" könne, daß es aber thöricht sei, diesen innern Zweck mit dem äußern Nutzen zu ver¬ wechseln, den eine Pflanze oder ein Tier dem andern Tiere oder dem Menschen bringe. Virchow behauptet, daß auch jede Zelle, die zum Bau der Pflanze oder des tierischen Leibes dient, ein solches selbständiges Individuum sei. Und doch ist das Verhältnis des organischen Formelementes zur organischen Form des Ganzen genau dasselbe, wie das eines Mauersteins zum architektonischen Ge¬ bäude. Die Idee des Architekten wird uns nicht durch das Studium der Ele¬ mente des Baues begreiflich. Die Zelle hat gar keine selbständige Bedeutung und erfüllt durchaus keinen andern Zweck, als im Dienste des Mechanismus zu stehen, der die Form des Ganzen zustande kommen läßt. Dadurch sollen die Verdienste Virchows um die medizinische Wissenschaft nicht geschmälert werden, aber es soll doch angedeutet sein, daß dieselben sicher nicht aus seiner Überein¬ stimmung mit Goethe zu folgern sind. Am schlimmsten wird Goethe von Dubois-Reymond behandelt in seiner Berliner Rektoratsantrittsrede vom 15. Oktober 1882, die er unter dem Titel „Goethe und kein Ende" veröffentlicht hat. Sei es, daß Haeckel durch die un¬ ablässig wiederholten Berufungen auf Goethes morphologische Anschauungen, sei es, daß Herman Grimm durch seine überzeugende Darstellung von Goethes Verdiensten um die Naturwissenschaft in seinen Vorlesungen (1877), oder sei es, daß ein alter Ingrimm des mechanischen Naturforschers gegen den Vertreter einer subjektiven Farbenlehre ihn nicht ruhen ließen, genug, der berühmte Ber¬ liner Professor hielt es für angemessen, einmal gründlich ein Ende zu macheu mit dem thörichten Wahn, als ob die Naturwissenschaft nicht auch ohne Goethes Beteiligung gerade so weit gekommen wäre, wie sie jetzt ist, und zu zeigen, daß mehr, als was seine einzelnen Erfolge auf morphologischen Gebiete genützt haben, die falsche Richtung geschadet habe, „welche er der damals durch die sogenannte Naturphilosophie schon hinlänglich bethörten deutschen Wissenschaft einprägte." Wenn wir die unglaublich philisterhafte Beurteilung des Faust im Anfang des¬ selben Vortrags, der „besser gethan hätte, statt an Hof zu gehen, ungedecktes Papiergeld auszugeben und zu den Müttern in die vierte Dimension zu steige», Gretchen zu heiraten, sein Kind ehrlich zu machen und Elektrisirmaschine und Luftpumpe zu erfinden," zusammenhalten mit der Beurteilung der Farbenlehre, so ist das Resultat ungefähr dahin zusammenzufassen, daß es schade sei, daß dieser Schuster nicht bei seinem Leisten geblieben. Er hatte ja einen so deut¬ lich vorgezeichneten Beruf als großer Dichter, wobei er sich ja auch hinreichend ernähren konnte, warum mußte er sich noch in Dinge mischen, die er garnicht verstand, und für die er gar kein Talent hatte? Es fehlte ihm der Begriff der mechanischen Kausalität, sagt der Professor, darum war er als Tragödiendichter nicht besonders geschickt in der künstlichen Verschlingung dramatisch spannender Motive, darum hatte er als Naturforscher eine unberechtigte Abneigung gegen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_151310/632>, abgerufen am 23.07.2024.