Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal.Goethe und die Koryphäen der heutigen Naturwissenschaft. Hauptstütze und Hebel seiner Zellentheorie und ging darin sogar soweit, daß er Die genetische Methode sucht die organischen Formen durch ihre Entwick¬ Goethe und die Koryphäen der heutigen Naturwissenschaft. Hauptstütze und Hebel seiner Zellentheorie und ging darin sogar soweit, daß er Die genetische Methode sucht die organischen Formen durch ihre Entwick¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0631" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/152572"/> <fw type="header" place="top"> Goethe und die Koryphäen der heutigen Naturwissenschaft.</fw><lb/> <p xml:id="ID_2421" prev="#ID_2420"> Hauptstütze und Hebel seiner Zellentheorie und ging darin sogar soweit, daß er<lb/> ihr die Hauptursache für die Fortschritte der Naturwissenschaften in diesem<lb/> Jahrhundert zuschreibt. (Vergl. seine Rede auf der Naturforscherversammlung<lb/> in Rostock.) Er sagt sogar von Goethes Untersuchungen über die Zusammen¬<lb/> setzung der Pflanzen aus gleichartigen Teilen, von denen jeder eine Art Indi¬<lb/> viduum für sich bildet, daß Goethe wohl herangetreten sei an das Geheimnis<lb/> der organischen Individualität, ihm aber nicht vergönnt gewesen sei, es zu<lb/> entschleiern, „da das Mikroskop erst nach ihm die Wunder des Zellenlebens<lb/> enthüllt hat."</p><lb/> <p xml:id="ID_2422" next="#ID_2423"> Die genetische Methode sucht die organischen Formen durch ihre Entwick¬<lb/> lung aus andern Formen, von denen die erstem abstammen sollen, zu erklären,<lb/> ohne sich dabei sonderlich um den Mechanismus der Materie zu kümmern,<lb/> ohne viel nach den mechanischen Kräften zu fragen, durch welche die Entwicklung<lb/> zustande kommt, und dadurch ist offenbar die nahe Verwandtschaft zwischen<lb/> dieser Methode und der Betrachtungsweise Goethes gegenüber der organischen<lb/> Natur gegeben. Die Verschiedenheit tritt erst dann ein, wenn Virchow die<lb/> Methode auf die Zellen anwendete, die Schwann als die kleinsten Formelemente<lb/> der pflanzlichen und tierischen Gewebe erkannt hatte, wenn er diese zu unteil¬<lb/> baren Einheiten erhebt, die uns erst das Geheimnis organischer Individualität<lb/> entschleiern. Wenn Goethe von dem großen Geheimnis in der Natur spricht,<lb/> so bezeichnet er damit etwas, wofür der menschliche Verstand überhaupt unzu¬<lb/> länglich ist und bleibt, um es kurz zu sagen, die Gedanken des Schöpfers, die<lb/> bestimmende Macht, welche die Materie benutzt, um sinnvoll konstruirte Indi¬<lb/> viduen entstehen zu lassen, jenen über aller Erscheinung als deren notwendige<lb/> Voraussetzung zu fordernden Urgrund der Natur, den wir uns nicht als von<lb/> der Materie abhängig denken können, weil unser Verstand die Materie nur als<lb/> Erscheinung begreift und schlechterdings nicht verstehen kann, wie aus mecha¬<lb/> nischen Gesetzen ein Organismus entstehen soll, d. h. ein nach einem zusammen¬<lb/> hängenden Plan zweckmäßig konstruirtes Individuum, dessen einzelne Teile alle<lb/> dem Ganzen untergeordnet sind. Goethe ließ dies Geheimnis ruhig bestehen<lb/> und wußte sich darin völlig einig mit Kant. Er kämpfte nur, ebenso wie dieser,<lb/> gegen eine bornirte teleologische Naturauffassung, welche den Schöpfer der Welt<lb/> alles zum Nutzen der Menschen einrichten ließ. Diese Richtung, die freilich<lb/> immer noch nicht ganz ausgestorben ist, war schon von ältern Philosophen, wie<lb/> Hume, verspottet worden, und Goethe war gewiß ihr populärster Gegner, da<lb/> Kant "doch immer nur von wenigen gelesen und von noch weniger» verstanden<lb/> wurde. Wenn also Virchow in den Wundern der Zellenwelt und Haeckel in<lb/> den Konsequenzen des Darwinismus das große Geheimnis entschleiert sehen, so<lb/> hat das nichts mit Goethes Denkart zu thun, obwohl ihn beide für sich ins<lb/> Gefecht führen. Goethe behauptete, daß jedes Individuum für sich selbst eine»<lb/> Zweck erfülle, den man wohl aus der Anlage der Teile und ihrer Verbindung</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0631]
Goethe und die Koryphäen der heutigen Naturwissenschaft.
Hauptstütze und Hebel seiner Zellentheorie und ging darin sogar soweit, daß er
ihr die Hauptursache für die Fortschritte der Naturwissenschaften in diesem
Jahrhundert zuschreibt. (Vergl. seine Rede auf der Naturforscherversammlung
in Rostock.) Er sagt sogar von Goethes Untersuchungen über die Zusammen¬
setzung der Pflanzen aus gleichartigen Teilen, von denen jeder eine Art Indi¬
viduum für sich bildet, daß Goethe wohl herangetreten sei an das Geheimnis
der organischen Individualität, ihm aber nicht vergönnt gewesen sei, es zu
entschleiern, „da das Mikroskop erst nach ihm die Wunder des Zellenlebens
enthüllt hat."
Die genetische Methode sucht die organischen Formen durch ihre Entwick¬
lung aus andern Formen, von denen die erstem abstammen sollen, zu erklären,
ohne sich dabei sonderlich um den Mechanismus der Materie zu kümmern,
ohne viel nach den mechanischen Kräften zu fragen, durch welche die Entwicklung
zustande kommt, und dadurch ist offenbar die nahe Verwandtschaft zwischen
dieser Methode und der Betrachtungsweise Goethes gegenüber der organischen
Natur gegeben. Die Verschiedenheit tritt erst dann ein, wenn Virchow die
Methode auf die Zellen anwendete, die Schwann als die kleinsten Formelemente
der pflanzlichen und tierischen Gewebe erkannt hatte, wenn er diese zu unteil¬
baren Einheiten erhebt, die uns erst das Geheimnis organischer Individualität
entschleiern. Wenn Goethe von dem großen Geheimnis in der Natur spricht,
so bezeichnet er damit etwas, wofür der menschliche Verstand überhaupt unzu¬
länglich ist und bleibt, um es kurz zu sagen, die Gedanken des Schöpfers, die
bestimmende Macht, welche die Materie benutzt, um sinnvoll konstruirte Indi¬
viduen entstehen zu lassen, jenen über aller Erscheinung als deren notwendige
Voraussetzung zu fordernden Urgrund der Natur, den wir uns nicht als von
der Materie abhängig denken können, weil unser Verstand die Materie nur als
Erscheinung begreift und schlechterdings nicht verstehen kann, wie aus mecha¬
nischen Gesetzen ein Organismus entstehen soll, d. h. ein nach einem zusammen¬
hängenden Plan zweckmäßig konstruirtes Individuum, dessen einzelne Teile alle
dem Ganzen untergeordnet sind. Goethe ließ dies Geheimnis ruhig bestehen
und wußte sich darin völlig einig mit Kant. Er kämpfte nur, ebenso wie dieser,
gegen eine bornirte teleologische Naturauffassung, welche den Schöpfer der Welt
alles zum Nutzen der Menschen einrichten ließ. Diese Richtung, die freilich
immer noch nicht ganz ausgestorben ist, war schon von ältern Philosophen, wie
Hume, verspottet worden, und Goethe war gewiß ihr populärster Gegner, da
Kant "doch immer nur von wenigen gelesen und von noch weniger» verstanden
wurde. Wenn also Virchow in den Wundern der Zellenwelt und Haeckel in
den Konsequenzen des Darwinismus das große Geheimnis entschleiert sehen, so
hat das nichts mit Goethes Denkart zu thun, obwohl ihn beide für sich ins
Gefecht führen. Goethe behauptete, daß jedes Individuum für sich selbst eine»
Zweck erfülle, den man wohl aus der Anlage der Teile und ihrer Verbindung
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