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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal.

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Der Entschädigungsanspruch wegen ungerechtfertigter Straf- und Untersuchungshaft.

durfte auch nicht als verdächtig in Untersuchungshaft genommen werden. Der
erstere Satz enthält eine Halbwahrheit, der zweite ist positiv falsch.

Allerdings ist im deutschen Strafprozeß die "Entbindung von der Instanz"
schon lange und mit Recht aufgegeben. Ein Urteil kann nur auf Schuldig oder
auf Nichtschuldig lauten, nur verurteilen oder freisprechen. Der Freigesprochene
hat das Recht, zu verlangen, daß er vom Staate als nichtschuldig behandelt,
in Ausübung seiner staatsbürgerlichen Rechte nicht ferner wegen der gegen ihn
erhobenen Anklage beschränkt werde. Formell steht er dem wirklich Unschuldigen
gleich. Aber daß er wirklich unschuldig sei, das folgt aus der Freisprechung
noch keineswegs; im Gegenteil, in den meisten Fällen erfolgt die Freisprechung
nur wegen unzureichenden Beweises der Schuld, und da, wo die Urteile mit
wirklichen Gründen versehen sind, wird aus diesen auch oft genug zu entnehmen
sein, daß der Richter keineswegs von der Unschuld des freigesprochenen Ange¬
klagten überzeugt war. In solchen Fällen begründet die Freisprechung also nur
die Fiktion der Unschuld, und auf Grund dieser Fiktion dem Freigesprochenen,
der in Wirklichkeit immer noch sehr verdächtig sein kann, einen Entschädigungs¬
anspruch gegen den Fiskus zu gewähren, dagegen wird sich ein gesundes Rechts¬
gefühl stets empören. Diese Beleidigung des Rechtsgefühls könnte der Sache
der Angeklagten, deren Schuld zweifelhaft ist, leicht gefährlich werden. Wenn
jetzt ein Mensch von bedenklichem Vorleben eines Verbrechens oder Vergehens
angeklagt ist, so wird ein gewissenhafter Richter, auch wenn schwere Vcrdachts-
gründe vorliegen, dennoch lieber freisprechen als verurteilen, wenn er irgend ein
Glied in der Kette der vorgebrachten Beweise unzuverlässig findet; wird er aber,
namentlich ein Geschworner, ganz dasselbe Maß der wünschenswerten Strenge
in Prüfung der Beweise anlegen, wird er nicht vielmehr -- ihm selbst unbe¬
wußt -- gegen den Angeklagten beeinflußt werden, wenn er sich sagen muß:
Im Falle der Freisprechung erhält der Angeklagte einen unanfechtbaren Rechts¬
anspruch auf Entschädigung wegen der Untersuchungshaft, die doch mit allem
Grunde gegen ihn verhängt worden ist?

Denn trotz der Freisprechung kann die Haft mit Grund verhängt gewesen
sein. Wir kommen damit zu dem zweiten Satze, der dem Beschlusse des Juristen¬
tages zu Grunde liegt: Wer nicht schuldig ist, der durfte nicht verhaftet werden;
oder genauer ausgedrückt: Wer durch die Freisprechung für nichtschuldig erklärt
ist, für den ist rückwärts festgestellt, daß die verhängte Haft nicht gerechtfertigt
war. Keineswegs! Wir haben allerdings oben bei der Freisprechung im Falle
des wiederaufgenommenen Verfahrens gesagt, durch das neue Urteil werde fest¬
gestellt, daß die Gefangenhaltung, die Strafhaft des nunmehr Freigesprochenen
unrechtmäßig war, denn das neue Urteil sagt, daß der Angeklagte im ersten Ver¬
fahren nicht hätte verurteilt werden sollen. Mit der Untersuchungshaft des
Freigesprochenen verhält es sich ganz anders; das freisprechende Urteil sagt nur:
Es liegt kein Grund vor, über den Angeklagten eine Strafhaft zu verhängen;


Der Entschädigungsanspruch wegen ungerechtfertigter Straf- und Untersuchungshaft.

durfte auch nicht als verdächtig in Untersuchungshaft genommen werden. Der
erstere Satz enthält eine Halbwahrheit, der zweite ist positiv falsch.

Allerdings ist im deutschen Strafprozeß die „Entbindung von der Instanz"
schon lange und mit Recht aufgegeben. Ein Urteil kann nur auf Schuldig oder
auf Nichtschuldig lauten, nur verurteilen oder freisprechen. Der Freigesprochene
hat das Recht, zu verlangen, daß er vom Staate als nichtschuldig behandelt,
in Ausübung seiner staatsbürgerlichen Rechte nicht ferner wegen der gegen ihn
erhobenen Anklage beschränkt werde. Formell steht er dem wirklich Unschuldigen
gleich. Aber daß er wirklich unschuldig sei, das folgt aus der Freisprechung
noch keineswegs; im Gegenteil, in den meisten Fällen erfolgt die Freisprechung
nur wegen unzureichenden Beweises der Schuld, und da, wo die Urteile mit
wirklichen Gründen versehen sind, wird aus diesen auch oft genug zu entnehmen
sein, daß der Richter keineswegs von der Unschuld des freigesprochenen Ange¬
klagten überzeugt war. In solchen Fällen begründet die Freisprechung also nur
die Fiktion der Unschuld, und auf Grund dieser Fiktion dem Freigesprochenen,
der in Wirklichkeit immer noch sehr verdächtig sein kann, einen Entschädigungs¬
anspruch gegen den Fiskus zu gewähren, dagegen wird sich ein gesundes Rechts¬
gefühl stets empören. Diese Beleidigung des Rechtsgefühls könnte der Sache
der Angeklagten, deren Schuld zweifelhaft ist, leicht gefährlich werden. Wenn
jetzt ein Mensch von bedenklichem Vorleben eines Verbrechens oder Vergehens
angeklagt ist, so wird ein gewissenhafter Richter, auch wenn schwere Vcrdachts-
gründe vorliegen, dennoch lieber freisprechen als verurteilen, wenn er irgend ein
Glied in der Kette der vorgebrachten Beweise unzuverlässig findet; wird er aber,
namentlich ein Geschworner, ganz dasselbe Maß der wünschenswerten Strenge
in Prüfung der Beweise anlegen, wird er nicht vielmehr — ihm selbst unbe¬
wußt — gegen den Angeklagten beeinflußt werden, wenn er sich sagen muß:
Im Falle der Freisprechung erhält der Angeklagte einen unanfechtbaren Rechts¬
anspruch auf Entschädigung wegen der Untersuchungshaft, die doch mit allem
Grunde gegen ihn verhängt worden ist?

Denn trotz der Freisprechung kann die Haft mit Grund verhängt gewesen
sein. Wir kommen damit zu dem zweiten Satze, der dem Beschlusse des Juristen¬
tages zu Grunde liegt: Wer nicht schuldig ist, der durfte nicht verhaftet werden;
oder genauer ausgedrückt: Wer durch die Freisprechung für nichtschuldig erklärt
ist, für den ist rückwärts festgestellt, daß die verhängte Haft nicht gerechtfertigt
war. Keineswegs! Wir haben allerdings oben bei der Freisprechung im Falle
des wiederaufgenommenen Verfahrens gesagt, durch das neue Urteil werde fest¬
gestellt, daß die Gefangenhaltung, die Strafhaft des nunmehr Freigesprochenen
unrechtmäßig war, denn das neue Urteil sagt, daß der Angeklagte im ersten Ver¬
fahren nicht hätte verurteilt werden sollen. Mit der Untersuchungshaft des
Freigesprochenen verhält es sich ganz anders; das freisprechende Urteil sagt nur:
Es liegt kein Grund vor, über den Angeklagten eine Strafhaft zu verhängen;


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[0623] Der Entschädigungsanspruch wegen ungerechtfertigter Straf- und Untersuchungshaft. durfte auch nicht als verdächtig in Untersuchungshaft genommen werden. Der erstere Satz enthält eine Halbwahrheit, der zweite ist positiv falsch. Allerdings ist im deutschen Strafprozeß die „Entbindung von der Instanz" schon lange und mit Recht aufgegeben. Ein Urteil kann nur auf Schuldig oder auf Nichtschuldig lauten, nur verurteilen oder freisprechen. Der Freigesprochene hat das Recht, zu verlangen, daß er vom Staate als nichtschuldig behandelt, in Ausübung seiner staatsbürgerlichen Rechte nicht ferner wegen der gegen ihn erhobenen Anklage beschränkt werde. Formell steht er dem wirklich Unschuldigen gleich. Aber daß er wirklich unschuldig sei, das folgt aus der Freisprechung noch keineswegs; im Gegenteil, in den meisten Fällen erfolgt die Freisprechung nur wegen unzureichenden Beweises der Schuld, und da, wo die Urteile mit wirklichen Gründen versehen sind, wird aus diesen auch oft genug zu entnehmen sein, daß der Richter keineswegs von der Unschuld des freigesprochenen Ange¬ klagten überzeugt war. In solchen Fällen begründet die Freisprechung also nur die Fiktion der Unschuld, und auf Grund dieser Fiktion dem Freigesprochenen, der in Wirklichkeit immer noch sehr verdächtig sein kann, einen Entschädigungs¬ anspruch gegen den Fiskus zu gewähren, dagegen wird sich ein gesundes Rechts¬ gefühl stets empören. Diese Beleidigung des Rechtsgefühls könnte der Sache der Angeklagten, deren Schuld zweifelhaft ist, leicht gefährlich werden. Wenn jetzt ein Mensch von bedenklichem Vorleben eines Verbrechens oder Vergehens angeklagt ist, so wird ein gewissenhafter Richter, auch wenn schwere Vcrdachts- gründe vorliegen, dennoch lieber freisprechen als verurteilen, wenn er irgend ein Glied in der Kette der vorgebrachten Beweise unzuverlässig findet; wird er aber, namentlich ein Geschworner, ganz dasselbe Maß der wünschenswerten Strenge in Prüfung der Beweise anlegen, wird er nicht vielmehr — ihm selbst unbe¬ wußt — gegen den Angeklagten beeinflußt werden, wenn er sich sagen muß: Im Falle der Freisprechung erhält der Angeklagte einen unanfechtbaren Rechts¬ anspruch auf Entschädigung wegen der Untersuchungshaft, die doch mit allem Grunde gegen ihn verhängt worden ist? Denn trotz der Freisprechung kann die Haft mit Grund verhängt gewesen sein. Wir kommen damit zu dem zweiten Satze, der dem Beschlusse des Juristen¬ tages zu Grunde liegt: Wer nicht schuldig ist, der durfte nicht verhaftet werden; oder genauer ausgedrückt: Wer durch die Freisprechung für nichtschuldig erklärt ist, für den ist rückwärts festgestellt, daß die verhängte Haft nicht gerechtfertigt war. Keineswegs! Wir haben allerdings oben bei der Freisprechung im Falle des wiederaufgenommenen Verfahrens gesagt, durch das neue Urteil werde fest¬ gestellt, daß die Gefangenhaltung, die Strafhaft des nunmehr Freigesprochenen unrechtmäßig war, denn das neue Urteil sagt, daß der Angeklagte im ersten Ver¬ fahren nicht hätte verurteilt werden sollen. Mit der Untersuchungshaft des Freigesprochenen verhält es sich ganz anders; das freisprechende Urteil sagt nur: Es liegt kein Grund vor, über den Angeklagten eine Strafhaft zu verhängen;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_151310/623>, abgerufen am 23.07.2024.