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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal.

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Der Entschädigungsanspruch wegen ungerechtfertigter Straf- und Untersuchungshaft,

tuirenden Ausnahmen von der Entschädigungspflicht war sie nicht vorhanden.
Eine eingehendere Betrachtung wird denn auch ergeben, daß, obwohl beide
Fragen aus demselben Prinzip zu entscheiden sind, doch der Beschluß des Ju-
ristcntags zur ersten Frage weit weniger Aussicht und Anspruch auf Berück¬
sichtigung seitens des Gesetzgebers hat als der Beschluß zur zweiten.

In beiden Beschlüssen des Juristentags ist nicht ausgesprochen, wer über
Existenz und Umfang des Entschädigungsanspruchs zu erkennen habe. Erörtert
wurde die Frage wiederholt, zwar nur nebenher, aber doch sehr lebhaft. Wäh¬
rend ein Teil der Redner für die Zuständigkeit des Zivilgerichts eintrat, er¬
klärten andre es für reine Thorheit, die Frage der Entscheidung des allein be¬
rufenen Strafrichters entziehen zu wollen. Es wurde vermieden, die Frage zur
Abstimmung zu bringen, wahrscheinlich weil man die wünschenswerte Einstimmig¬
keit der Beschlüsse nicht schädigen wollte. Diese Zurückhaltung ist aber zu be¬
dauern, denn mit der richtigen Beantwortung der Zuständigkeitsfrage wäre ein
erheblicher Schritt zur Lösung der Hauptfrage geschehen.

Was ist der Zweck -- was ist der Rechtsgrund -- was ist der Gegen¬
stand des Entschädigungsanspruchs bei den Untersuchungs- wie bei den Straf¬
gefangenen? Antwort: Der Zweck ist Schadenersatz oder Genugthuung, der
Rechtsgrund ungerechtfertigte, widerrechtliche Freiheitsentziehung, der Gegenstand
ein Geldäquivalent für die entzogene Freiheit und den durch die Entziehung ge¬
stifteten Schaden.

Ist diese Antwort auf die dreifache Frage richtig, so kann über die Zu¬
ständigkeit des Zivilrichters unsers Erachtens kein Zweifel obwalten: es handelt
sich um eine gegen den Fiskus anzustellende Deliktsklage, eine Klage wegen
widerrechtlicher Gefangenhaltung. Denn daß der rechtmäßig Gefangengehaltene
keinen Anspruch habe, darüber waren wohl alle Mitglieder des Juristentages
einig; die Streitfrage war nur: Wann ist die Gefangenhaltung, insbesondre die
Untersuchungshaft, eine rechtmäßige?

Muß aber die Zuständigkeit des Zivilrichters für den Entschädigungs¬
anspruch anerkannt werden, so ergiebt sich für die rein juristische Betrachtung
sofort die Hinfälligkeit der Klage gegen den Fiskus. Der Fiskus ist eine juristische
Person, und darüber, daß eine juristische Person nicht fähig ist, Delikte zu be¬
gehen, sollte doch unter deutschen (und österreichischen) Juristen seit Savignys
Ausführungen (System, Bd. 2, M 94, 95) kein Streit mehr möglich sein. Er
kann daher auch nicht für Delikte seiner Beamten belangt werden, sofern nicht
aus diesen Delikten ihm ein vermögensrechtlicher Vorteil zugeflossen ist. Wäre
jemand wegen eines Vergehens oder einer Übertretung zu einer Geldstrafe ver¬
urteilt worden, die er bezahlt hat, so könnte er, wenn es ihm gelingt, Wieder¬
aufnahme des Verfahrens und in diesem seine Freisprechung zu erwirken, ohne
allen Zweifel das zu Unrecht Bezahlte vom Fiskus zurückfordern; aber wie der
Staatftskus ersatzpflichtig werden soll, wenn ein Richter einen Beschuldigten,


Der Entschädigungsanspruch wegen ungerechtfertigter Straf- und Untersuchungshaft,

tuirenden Ausnahmen von der Entschädigungspflicht war sie nicht vorhanden.
Eine eingehendere Betrachtung wird denn auch ergeben, daß, obwohl beide
Fragen aus demselben Prinzip zu entscheiden sind, doch der Beschluß des Ju-
ristcntags zur ersten Frage weit weniger Aussicht und Anspruch auf Berück¬
sichtigung seitens des Gesetzgebers hat als der Beschluß zur zweiten.

In beiden Beschlüssen des Juristentags ist nicht ausgesprochen, wer über
Existenz und Umfang des Entschädigungsanspruchs zu erkennen habe. Erörtert
wurde die Frage wiederholt, zwar nur nebenher, aber doch sehr lebhaft. Wäh¬
rend ein Teil der Redner für die Zuständigkeit des Zivilgerichts eintrat, er¬
klärten andre es für reine Thorheit, die Frage der Entscheidung des allein be¬
rufenen Strafrichters entziehen zu wollen. Es wurde vermieden, die Frage zur
Abstimmung zu bringen, wahrscheinlich weil man die wünschenswerte Einstimmig¬
keit der Beschlüsse nicht schädigen wollte. Diese Zurückhaltung ist aber zu be¬
dauern, denn mit der richtigen Beantwortung der Zuständigkeitsfrage wäre ein
erheblicher Schritt zur Lösung der Hauptfrage geschehen.

Was ist der Zweck — was ist der Rechtsgrund — was ist der Gegen¬
stand des Entschädigungsanspruchs bei den Untersuchungs- wie bei den Straf¬
gefangenen? Antwort: Der Zweck ist Schadenersatz oder Genugthuung, der
Rechtsgrund ungerechtfertigte, widerrechtliche Freiheitsentziehung, der Gegenstand
ein Geldäquivalent für die entzogene Freiheit und den durch die Entziehung ge¬
stifteten Schaden.

Ist diese Antwort auf die dreifache Frage richtig, so kann über die Zu¬
ständigkeit des Zivilrichters unsers Erachtens kein Zweifel obwalten: es handelt
sich um eine gegen den Fiskus anzustellende Deliktsklage, eine Klage wegen
widerrechtlicher Gefangenhaltung. Denn daß der rechtmäßig Gefangengehaltene
keinen Anspruch habe, darüber waren wohl alle Mitglieder des Juristentages
einig; die Streitfrage war nur: Wann ist die Gefangenhaltung, insbesondre die
Untersuchungshaft, eine rechtmäßige?

Muß aber die Zuständigkeit des Zivilrichters für den Entschädigungs¬
anspruch anerkannt werden, so ergiebt sich für die rein juristische Betrachtung
sofort die Hinfälligkeit der Klage gegen den Fiskus. Der Fiskus ist eine juristische
Person, und darüber, daß eine juristische Person nicht fähig ist, Delikte zu be¬
gehen, sollte doch unter deutschen (und österreichischen) Juristen seit Savignys
Ausführungen (System, Bd. 2, M 94, 95) kein Streit mehr möglich sein. Er
kann daher auch nicht für Delikte seiner Beamten belangt werden, sofern nicht
aus diesen Delikten ihm ein vermögensrechtlicher Vorteil zugeflossen ist. Wäre
jemand wegen eines Vergehens oder einer Übertretung zu einer Geldstrafe ver¬
urteilt worden, die er bezahlt hat, so könnte er, wenn es ihm gelingt, Wieder¬
aufnahme des Verfahrens und in diesem seine Freisprechung zu erwirken, ohne
allen Zweifel das zu Unrecht Bezahlte vom Fiskus zurückfordern; aber wie der
Staatftskus ersatzpflichtig werden soll, wenn ein Richter einen Beschuldigten,


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[0615] Der Entschädigungsanspruch wegen ungerechtfertigter Straf- und Untersuchungshaft, tuirenden Ausnahmen von der Entschädigungspflicht war sie nicht vorhanden. Eine eingehendere Betrachtung wird denn auch ergeben, daß, obwohl beide Fragen aus demselben Prinzip zu entscheiden sind, doch der Beschluß des Ju- ristcntags zur ersten Frage weit weniger Aussicht und Anspruch auf Berück¬ sichtigung seitens des Gesetzgebers hat als der Beschluß zur zweiten. In beiden Beschlüssen des Juristentags ist nicht ausgesprochen, wer über Existenz und Umfang des Entschädigungsanspruchs zu erkennen habe. Erörtert wurde die Frage wiederholt, zwar nur nebenher, aber doch sehr lebhaft. Wäh¬ rend ein Teil der Redner für die Zuständigkeit des Zivilgerichts eintrat, er¬ klärten andre es für reine Thorheit, die Frage der Entscheidung des allein be¬ rufenen Strafrichters entziehen zu wollen. Es wurde vermieden, die Frage zur Abstimmung zu bringen, wahrscheinlich weil man die wünschenswerte Einstimmig¬ keit der Beschlüsse nicht schädigen wollte. Diese Zurückhaltung ist aber zu be¬ dauern, denn mit der richtigen Beantwortung der Zuständigkeitsfrage wäre ein erheblicher Schritt zur Lösung der Hauptfrage geschehen. Was ist der Zweck — was ist der Rechtsgrund — was ist der Gegen¬ stand des Entschädigungsanspruchs bei den Untersuchungs- wie bei den Straf¬ gefangenen? Antwort: Der Zweck ist Schadenersatz oder Genugthuung, der Rechtsgrund ungerechtfertigte, widerrechtliche Freiheitsentziehung, der Gegenstand ein Geldäquivalent für die entzogene Freiheit und den durch die Entziehung ge¬ stifteten Schaden. Ist diese Antwort auf die dreifache Frage richtig, so kann über die Zu¬ ständigkeit des Zivilrichters unsers Erachtens kein Zweifel obwalten: es handelt sich um eine gegen den Fiskus anzustellende Deliktsklage, eine Klage wegen widerrechtlicher Gefangenhaltung. Denn daß der rechtmäßig Gefangengehaltene keinen Anspruch habe, darüber waren wohl alle Mitglieder des Juristentages einig; die Streitfrage war nur: Wann ist die Gefangenhaltung, insbesondre die Untersuchungshaft, eine rechtmäßige? Muß aber die Zuständigkeit des Zivilrichters für den Entschädigungs¬ anspruch anerkannt werden, so ergiebt sich für die rein juristische Betrachtung sofort die Hinfälligkeit der Klage gegen den Fiskus. Der Fiskus ist eine juristische Person, und darüber, daß eine juristische Person nicht fähig ist, Delikte zu be¬ gehen, sollte doch unter deutschen (und österreichischen) Juristen seit Savignys Ausführungen (System, Bd. 2, M 94, 95) kein Streit mehr möglich sein. Er kann daher auch nicht für Delikte seiner Beamten belangt werden, sofern nicht aus diesen Delikten ihm ein vermögensrechtlicher Vorteil zugeflossen ist. Wäre jemand wegen eines Vergehens oder einer Übertretung zu einer Geldstrafe ver¬ urteilt worden, die er bezahlt hat, so könnte er, wenn es ihm gelingt, Wieder¬ aufnahme des Verfahrens und in diesem seine Freisprechung zu erwirken, ohne allen Zweifel das zu Unrecht Bezahlte vom Fiskus zurückfordern; aber wie der Staatftskus ersatzpflichtig werden soll, wenn ein Richter einen Beschuldigten,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_151310/615>, abgerufen am 23.07.2024.