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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal.

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Entstehungsgeschichte und Stil des Lgmont.

festzuhalten und, bald rechts, bald links, vom Steine hier, vom Sturze da, die
Räder wegzulenken. Wohin es geht, wer weiß es? Erinnert er sich doch kaum,
woher er kam!" Dem widerspricht es nicht, daß Goethe diese Worte, welche
auch der rhythmische Ton nach Weimar verweist, an den Schluß von "Dichtung
und Wahrheit," also scheinbar in die Frankfurter Zeit, gesetzt hat; denn er folgt
hierbei dem künstlerischen Drauge, das Leben in die Dichtung auslaufen zu lassen
und den Leser damit gleichsam auf eine Fortsetzung seiner Lebensbekenntnisse
zu verweisen; wie er ja in einem spätern Zusatz der italienischen Reise auch
seinen Schmerz um den Verlust Italiens in die Qualen des Tasso ausklingen läßt.

Ein untrügliches Kennzeichen aber ist der Rhythmus. In der Weimn-
rischeu Zeit stellt sich wiederholt in Goethes prosaischen Dichtungen, selbst in
den Maskenzügen, weder gesucht noch gemieden, der iambische Rhythmus ein.
Die Iphigenie, die zwei erste" Akte des Tasso, den Elpenor hat er um diese
Zeit in rhythmischer Prosa geschrieben; auch die Proserpina hat er erst später
in Verse abgeteilt, und selbst in den Maskenzüge" findet man iambische Verse
eingestreut. Man lese nur die Prosa der besprochenen Szene wie folgt:


Ich stehe hoch und kann und muß noch höher steigen;

ich fühle
'

mir Hoffnung, Muth und Kraft. Noch hab

ich meines Wachsthums Gipfel nicht erreicht.
'

Und steh ich droben einst, so will ich fest,

Nicht ängstlich stehen. Soll ich fallen,

So mag ein Dmmerschlag, ein Sturmwind, ja,

Ein selbstverfehlter Schritt mich abwärts (in die Tiefe) stürzen.


Und dazu vergleiche mau inhaltlich das bekannte: "Sehe jeder wie ers treibe,
sehe jeder wo er bleibe und wer steht, daß er nicht falle." Dagegen verlassen
uns in der folgenden Szene zwischen Egmont und Oranien alle Anhaltepunkte:
einzelne iambische Anklänge können leicht auch einer spätern Umarbeitung an¬
gehöre", und nur etwa der politische Inhalt, welcher Schulung in Stnntsge-
schcifte" voraussetzt, spricht für die Weimarer Zeit.

Währelid die Szene zwischen Margarete und Macchiavell ganz im Stile
der Frankfurter Zeit gehalten ist und nirgends ländischen Rhythmus aufweist,
stellt uns die folgende Szene zwischen Klärchen und Egmont ein Schwierigeres
Problem. Der kritische Herausgeber von "Dichtung und Wahrheit" meint,
Goethe habe in der Darstellung des Verhältnisses zwischen Egmont und einem
ihm und seiner Größe (ein unglückliches Wort!) ganz hingegebenen Mädchen
aus dem Volke ein Gegenbild zu seinem eignen abgebrochenen mit Lilli sich
schaffen wollen; hier sollte alles vorhanden sein, was er vermißt, alles beseitigt,
was ihn gequält habe. Auch auf Modelle hat von Loeper hingewiesen: etwa
die Christel, auf welche Goethe das Gedicht "Hab' oft einen dumpfen, düstern
Sinn" gedichtet hat; oder das Offeubacher Mädchen, zu welchem Goethe mit


Entstehungsgeschichte und Stil des Lgmont.

festzuhalten und, bald rechts, bald links, vom Steine hier, vom Sturze da, die
Räder wegzulenken. Wohin es geht, wer weiß es? Erinnert er sich doch kaum,
woher er kam!" Dem widerspricht es nicht, daß Goethe diese Worte, welche
auch der rhythmische Ton nach Weimar verweist, an den Schluß von „Dichtung
und Wahrheit," also scheinbar in die Frankfurter Zeit, gesetzt hat; denn er folgt
hierbei dem künstlerischen Drauge, das Leben in die Dichtung auslaufen zu lassen
und den Leser damit gleichsam auf eine Fortsetzung seiner Lebensbekenntnisse
zu verweisen; wie er ja in einem spätern Zusatz der italienischen Reise auch
seinen Schmerz um den Verlust Italiens in die Qualen des Tasso ausklingen läßt.

Ein untrügliches Kennzeichen aber ist der Rhythmus. In der Weimn-
rischeu Zeit stellt sich wiederholt in Goethes prosaischen Dichtungen, selbst in
den Maskenzügen, weder gesucht noch gemieden, der iambische Rhythmus ein.
Die Iphigenie, die zwei erste» Akte des Tasso, den Elpenor hat er um diese
Zeit in rhythmischer Prosa geschrieben; auch die Proserpina hat er erst später
in Verse abgeteilt, und selbst in den Maskenzüge» findet man iambische Verse
eingestreut. Man lese nur die Prosa der besprochenen Szene wie folgt:


Ich stehe hoch und kann und muß noch höher steigen;

ich fühle
'

mir Hoffnung, Muth und Kraft. Noch hab

ich meines Wachsthums Gipfel nicht erreicht.
'

Und steh ich droben einst, so will ich fest,

Nicht ängstlich stehen. Soll ich fallen,

So mag ein Dmmerschlag, ein Sturmwind, ja,

Ein selbstverfehlter Schritt mich abwärts (in die Tiefe) stürzen.


Und dazu vergleiche mau inhaltlich das bekannte: „Sehe jeder wie ers treibe,
sehe jeder wo er bleibe und wer steht, daß er nicht falle." Dagegen verlassen
uns in der folgenden Szene zwischen Egmont und Oranien alle Anhaltepunkte:
einzelne iambische Anklänge können leicht auch einer spätern Umarbeitung an¬
gehöre», und nur etwa der politische Inhalt, welcher Schulung in Stnntsge-
schcifte» voraussetzt, spricht für die Weimarer Zeit.

Währelid die Szene zwischen Margarete und Macchiavell ganz im Stile
der Frankfurter Zeit gehalten ist und nirgends ländischen Rhythmus aufweist,
stellt uns die folgende Szene zwischen Klärchen und Egmont ein Schwierigeres
Problem. Der kritische Herausgeber von „Dichtung und Wahrheit" meint,
Goethe habe in der Darstellung des Verhältnisses zwischen Egmont und einem
ihm und seiner Größe (ein unglückliches Wort!) ganz hingegebenen Mädchen
aus dem Volke ein Gegenbild zu seinem eignen abgebrochenen mit Lilli sich
schaffen wollen; hier sollte alles vorhanden sein, was er vermißt, alles beseitigt,
was ihn gequält habe. Auch auf Modelle hat von Loeper hingewiesen: etwa
die Christel, auf welche Goethe das Gedicht „Hab' oft einen dumpfen, düstern
Sinn" gedichtet hat; oder das Offeubacher Mädchen, zu welchem Goethe mit


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[0375] Entstehungsgeschichte und Stil des Lgmont. festzuhalten und, bald rechts, bald links, vom Steine hier, vom Sturze da, die Räder wegzulenken. Wohin es geht, wer weiß es? Erinnert er sich doch kaum, woher er kam!" Dem widerspricht es nicht, daß Goethe diese Worte, welche auch der rhythmische Ton nach Weimar verweist, an den Schluß von „Dichtung und Wahrheit," also scheinbar in die Frankfurter Zeit, gesetzt hat; denn er folgt hierbei dem künstlerischen Drauge, das Leben in die Dichtung auslaufen zu lassen und den Leser damit gleichsam auf eine Fortsetzung seiner Lebensbekenntnisse zu verweisen; wie er ja in einem spätern Zusatz der italienischen Reise auch seinen Schmerz um den Verlust Italiens in die Qualen des Tasso ausklingen läßt. Ein untrügliches Kennzeichen aber ist der Rhythmus. In der Weimn- rischeu Zeit stellt sich wiederholt in Goethes prosaischen Dichtungen, selbst in den Maskenzügen, weder gesucht noch gemieden, der iambische Rhythmus ein. Die Iphigenie, die zwei erste» Akte des Tasso, den Elpenor hat er um diese Zeit in rhythmischer Prosa geschrieben; auch die Proserpina hat er erst später in Verse abgeteilt, und selbst in den Maskenzüge» findet man iambische Verse eingestreut. Man lese nur die Prosa der besprochenen Szene wie folgt: Ich stehe hoch und kann und muß noch höher steigen; ich fühle ' mir Hoffnung, Muth und Kraft. Noch hab ich meines Wachsthums Gipfel nicht erreicht. ' Und steh ich droben einst, so will ich fest, Nicht ängstlich stehen. Soll ich fallen, So mag ein Dmmerschlag, ein Sturmwind, ja, Ein selbstverfehlter Schritt mich abwärts (in die Tiefe) stürzen. Und dazu vergleiche mau inhaltlich das bekannte: „Sehe jeder wie ers treibe, sehe jeder wo er bleibe und wer steht, daß er nicht falle." Dagegen verlassen uns in der folgenden Szene zwischen Egmont und Oranien alle Anhaltepunkte: einzelne iambische Anklänge können leicht auch einer spätern Umarbeitung an¬ gehöre», und nur etwa der politische Inhalt, welcher Schulung in Stnntsge- schcifte» voraussetzt, spricht für die Weimarer Zeit. Währelid die Szene zwischen Margarete und Macchiavell ganz im Stile der Frankfurter Zeit gehalten ist und nirgends ländischen Rhythmus aufweist, stellt uns die folgende Szene zwischen Klärchen und Egmont ein Schwierigeres Problem. Der kritische Herausgeber von „Dichtung und Wahrheit" meint, Goethe habe in der Darstellung des Verhältnisses zwischen Egmont und einem ihm und seiner Größe (ein unglückliches Wort!) ganz hingegebenen Mädchen aus dem Volke ein Gegenbild zu seinem eignen abgebrochenen mit Lilli sich schaffen wollen; hier sollte alles vorhanden sein, was er vermißt, alles beseitigt, was ihn gequält habe. Auch auf Modelle hat von Loeper hingewiesen: etwa die Christel, auf welche Goethe das Gedicht „Hab' oft einen dumpfen, düstern Sinn" gedichtet hat; oder das Offeubacher Mädchen, zu welchem Goethe mit

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_151310/375>, abgerufen am 23.07.2024.