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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal.

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lyrische Dichtungen und Dichter.

muß. Die Abenteuer des "Bruder Rausch" treten anspruchslos genug vor das
deutsche Publikum, aber sie bergen einen Anspruch in sich, den liebenswürdigsten
und erquicklichsten Schöpfungen des letzten Jahrzehnts beigezählt zu werden.

Minder unbedingt läßt sich ein größeres erzählendes Gedicht Die Historia
von Herrn Hartwig und der treuen Else von Johann von Wilden-
radt (Hamburg, Otto Meißner) rühme", welches nach Ausdehnung und Anlage
schon ein Epos genannt werden könnte. Den historischen Hintergrund zur Er¬
findung des Dichters bildet der letzte siegreiche Kampf der Dithmarschen um
ihre uralte Bauernfreiheit, die vielgefeierte und vielbesungene Schlacht von
Hemmingsted. Der Stoff verträgt eine öftere Behandlung ,und es kommt nur
darauf an, wie der Dichter die historischen Ereignisse mit seiner Erzählung und
seinen Gestalten verflicht. Das Wildenradtsche Gedicht zeugt sicher von Talent,
einzelne Situationen treten mit plastischer Kraft hervor, andre sind dnrch stim¬
mungsvolle Schilderung ausgezeichnet, und unter den eingeflochtenen lyrischen
Dichtungen entkeimen wenigstens einzelne einem tiefern Empfinden. Im ganzen
aber ist der Roman, welcher die Schlußhandlung des Gedichts, den Kampf und
Sieg bei Hemmiugstcd, einleitet, viel zu breit ausgesponnen. Die ganze Historie
von Herrn Hartwig und der treuen Else würde gedrängter, knapper und ein¬
facher gehalten eine tiefere Wirkung hervorbringen. Die Rolle, welche Herrn
Hartwig in Leben und Tod zugewiesen ist, erscheint dem Leser doch als eine
gar zu leidende; die Übergänge im ganzen Gedicht erscheinen gegenüber der
Detaillirung, namentlich der Einleitung, oft genug jäh und unvermittelt. Dazu
ist das Versmaß, die dnrch Scheffels "Trompeter von Säckingen" vielbeliebt
gewordnen reimlosen vierfüßigen Trochäen, dem gewählten Stoffe keineswegs
verwandt, zerstört an vielen Stellen die Illusion und wirkt sür die Schlacht¬
darstellung im letzten Teile des Gedichts besonders ungünstig. Eine bemerkens¬
werte Ungleichheit der sprachliche" Gesamthaltung des Gedichts, in der sich
frischer Schwung, stimmungsvolle Würde und dann wieder eine gewisse All¬
täglichkeit und Plattheit begegnen, erweckt den Eindruck, als ob der Verfasser
gut thu" würde, seine Kraft zunächst einmal i" kleinerem Rahmen zu erproben.
Vor allem aber möge er sich hüten, in einem so ernst gemeinten, im große"
und ganzen völlig realistisch gehaltene" Gedicht plötzlich eine Göttermaschineric
eigner Erfindung einzufügen -- dergleichen stört den Anteil, den er mit seiner
Anlage erweckt, empfindlich und verstärkt den Eindruck der Ungleichheit, welchen
die poetische "Historie" hinterläßt.

Eine poetische Gabe voll bedeutenden selbständigen Inhalts sind ohne Frage
die Gedichte von Conrad Ferdinand Meyer (Leipzig, H. Hässel). Der
Dichter des "Georg Jenatsch" und der farbenreichen Novelle "Der Heilige"
verleugnet auch in seinen lyrischen Produktionen seine Eigentümlichkeit nicht.
Die Gedichte C. F. Meyers haben nur selten einen musikalischen Gang, es sind


Grenzboten I. 1883. 40
lyrische Dichtungen und Dichter.

muß. Die Abenteuer des „Bruder Rausch" treten anspruchslos genug vor das
deutsche Publikum, aber sie bergen einen Anspruch in sich, den liebenswürdigsten
und erquicklichsten Schöpfungen des letzten Jahrzehnts beigezählt zu werden.

Minder unbedingt läßt sich ein größeres erzählendes Gedicht Die Historia
von Herrn Hartwig und der treuen Else von Johann von Wilden-
radt (Hamburg, Otto Meißner) rühme», welches nach Ausdehnung und Anlage
schon ein Epos genannt werden könnte. Den historischen Hintergrund zur Er¬
findung des Dichters bildet der letzte siegreiche Kampf der Dithmarschen um
ihre uralte Bauernfreiheit, die vielgefeierte und vielbesungene Schlacht von
Hemmingsted. Der Stoff verträgt eine öftere Behandlung ,und es kommt nur
darauf an, wie der Dichter die historischen Ereignisse mit seiner Erzählung und
seinen Gestalten verflicht. Das Wildenradtsche Gedicht zeugt sicher von Talent,
einzelne Situationen treten mit plastischer Kraft hervor, andre sind dnrch stim¬
mungsvolle Schilderung ausgezeichnet, und unter den eingeflochtenen lyrischen
Dichtungen entkeimen wenigstens einzelne einem tiefern Empfinden. Im ganzen
aber ist der Roman, welcher die Schlußhandlung des Gedichts, den Kampf und
Sieg bei Hemmiugstcd, einleitet, viel zu breit ausgesponnen. Die ganze Historie
von Herrn Hartwig und der treuen Else würde gedrängter, knapper und ein¬
facher gehalten eine tiefere Wirkung hervorbringen. Die Rolle, welche Herrn
Hartwig in Leben und Tod zugewiesen ist, erscheint dem Leser doch als eine
gar zu leidende; die Übergänge im ganzen Gedicht erscheinen gegenüber der
Detaillirung, namentlich der Einleitung, oft genug jäh und unvermittelt. Dazu
ist das Versmaß, die dnrch Scheffels „Trompeter von Säckingen" vielbeliebt
gewordnen reimlosen vierfüßigen Trochäen, dem gewählten Stoffe keineswegs
verwandt, zerstört an vielen Stellen die Illusion und wirkt sür die Schlacht¬
darstellung im letzten Teile des Gedichts besonders ungünstig. Eine bemerkens¬
werte Ungleichheit der sprachliche» Gesamthaltung des Gedichts, in der sich
frischer Schwung, stimmungsvolle Würde und dann wieder eine gewisse All¬
täglichkeit und Plattheit begegnen, erweckt den Eindruck, als ob der Verfasser
gut thu» würde, seine Kraft zunächst einmal i» kleinerem Rahmen zu erproben.
Vor allem aber möge er sich hüten, in einem so ernst gemeinten, im große»
und ganzen völlig realistisch gehaltene» Gedicht plötzlich eine Göttermaschineric
eigner Erfindung einzufügen — dergleichen stört den Anteil, den er mit seiner
Anlage erweckt, empfindlich und verstärkt den Eindruck der Ungleichheit, welchen
die poetische „Historie" hinterläßt.

Eine poetische Gabe voll bedeutenden selbständigen Inhalts sind ohne Frage
die Gedichte von Conrad Ferdinand Meyer (Leipzig, H. Hässel). Der
Dichter des „Georg Jenatsch" und der farbenreichen Novelle „Der Heilige"
verleugnet auch in seinen lyrischen Produktionen seine Eigentümlichkeit nicht.
Die Gedichte C. F. Meyers haben nur selten einen musikalischen Gang, es sind


Grenzboten I. 1883. 40
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[0321] lyrische Dichtungen und Dichter. muß. Die Abenteuer des „Bruder Rausch" treten anspruchslos genug vor das deutsche Publikum, aber sie bergen einen Anspruch in sich, den liebenswürdigsten und erquicklichsten Schöpfungen des letzten Jahrzehnts beigezählt zu werden. Minder unbedingt läßt sich ein größeres erzählendes Gedicht Die Historia von Herrn Hartwig und der treuen Else von Johann von Wilden- radt (Hamburg, Otto Meißner) rühme», welches nach Ausdehnung und Anlage schon ein Epos genannt werden könnte. Den historischen Hintergrund zur Er¬ findung des Dichters bildet der letzte siegreiche Kampf der Dithmarschen um ihre uralte Bauernfreiheit, die vielgefeierte und vielbesungene Schlacht von Hemmingsted. Der Stoff verträgt eine öftere Behandlung ,und es kommt nur darauf an, wie der Dichter die historischen Ereignisse mit seiner Erzählung und seinen Gestalten verflicht. Das Wildenradtsche Gedicht zeugt sicher von Talent, einzelne Situationen treten mit plastischer Kraft hervor, andre sind dnrch stim¬ mungsvolle Schilderung ausgezeichnet, und unter den eingeflochtenen lyrischen Dichtungen entkeimen wenigstens einzelne einem tiefern Empfinden. Im ganzen aber ist der Roman, welcher die Schlußhandlung des Gedichts, den Kampf und Sieg bei Hemmiugstcd, einleitet, viel zu breit ausgesponnen. Die ganze Historie von Herrn Hartwig und der treuen Else würde gedrängter, knapper und ein¬ facher gehalten eine tiefere Wirkung hervorbringen. Die Rolle, welche Herrn Hartwig in Leben und Tod zugewiesen ist, erscheint dem Leser doch als eine gar zu leidende; die Übergänge im ganzen Gedicht erscheinen gegenüber der Detaillirung, namentlich der Einleitung, oft genug jäh und unvermittelt. Dazu ist das Versmaß, die dnrch Scheffels „Trompeter von Säckingen" vielbeliebt gewordnen reimlosen vierfüßigen Trochäen, dem gewählten Stoffe keineswegs verwandt, zerstört an vielen Stellen die Illusion und wirkt sür die Schlacht¬ darstellung im letzten Teile des Gedichts besonders ungünstig. Eine bemerkens¬ werte Ungleichheit der sprachliche» Gesamthaltung des Gedichts, in der sich frischer Schwung, stimmungsvolle Würde und dann wieder eine gewisse All¬ täglichkeit und Plattheit begegnen, erweckt den Eindruck, als ob der Verfasser gut thu» würde, seine Kraft zunächst einmal i» kleinerem Rahmen zu erproben. Vor allem aber möge er sich hüten, in einem so ernst gemeinten, im große» und ganzen völlig realistisch gehaltene» Gedicht plötzlich eine Göttermaschineric eigner Erfindung einzufügen — dergleichen stört den Anteil, den er mit seiner Anlage erweckt, empfindlich und verstärkt den Eindruck der Ungleichheit, welchen die poetische „Historie" hinterläßt. Eine poetische Gabe voll bedeutenden selbständigen Inhalts sind ohne Frage die Gedichte von Conrad Ferdinand Meyer (Leipzig, H. Hässel). Der Dichter des „Georg Jenatsch" und der farbenreichen Novelle „Der Heilige" verleugnet auch in seinen lyrischen Produktionen seine Eigentümlichkeit nicht. Die Gedichte C. F. Meyers haben nur selten einen musikalischen Gang, es sind Grenzboten I. 1883. 40

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_151310/321>, abgerufen am 23.07.2024.