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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal.

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Frug oder fragte?

Ich liegte, fliegle, single! -- Wie das klingt!
So schön als wenn: lag, flog und sang! ich sagte,
Doch ist's grammatikalisch recht gesingt!

Wäre die Verteidigung in der Form nicht ebenso zierlich wie der Angriff,
wir würden sie ganz mit Stillschweigen übergehen. Denn in der Sache ist sie
so verfehlt wie möglich. Wir müssen also unsern Gegner in aller Kürze über
die Sache aufklären, auf die Gefahr hin, einen großen Teil der Leser dieser
Blätter zu beleidigen durch Vorführung von Dingen, die heutzutage jedem leid¬
lichen sekundärer eines deutschen Gymnasiums geläufig sind.

Die deutsche Sprache hat zwei Arten von Thätigkeitswörtern, die so¬
genannten starkei? und die sogenannten schwachen. Die starken heißen stark, weil
sie die Triebkraft haben, ihr Präteritum und ihr Partizip aus dem eigne"
Stamm heraus zu entwickeln, wobei nur die Stammvokale gewisse Veränderungen
erleiden. Solche starke Verba sind: singe, sang, gesungen -- stehle, stahl, ge¬
stohlen -- liege, lag, gelegen -- fliege, flog, geflogen -- trage, trug getragen --
schlage, schlug, geschlagen. Die schwachen Verba heißen schwach, weil sie jene
Triebkraft nicht besitzen, sondern zur Bildung ihres Präteritums und ihres
Partizips fremder Hilfe bedürfen: sie fügen an den Stamm das Zeitwort thun
an. Nichts andres nämlich als ein kümmerlicher Nest dieses Zeitwortes sind
die Endungen te und t in Formen wie: lobe, lobte, gelobt -- suche, suchte,
gesucht -- plage, plagte, geplagt -- wage, wagte, gewagt. Dies sind schwache
Verba,

Wollte nun jemand die Frage aufwerfen: Warum sind denn manche Verba
schwach und manche stark? so würde das eine ganz ähnliche Frage sein wie die:
Warum blüht denn die eine Rose rot und die andre weiß? Alle Sprachformen
sind Naturerzeugnisse, und kein Engel im Himmel kann sagen, warum die einen
nach dem, die andern nach jenem Bildungsgesetze entstanden sind.

Wie der Mensch aber imstande ist, in der Pflanzenwelt in den natürlichen
Entwicklungsgang störend einzugreifen und Bildungen zu veranlassen, welche die
Natur von selbst nie und nimmermehr schaffen würde, so ist er auch imstande,
die natürlichen Entwicklungsgesetze der Sprache zu stören und ihnen eine andre
Richtung zu geben. Dies geschieht nun zwar niemals ganz ohne Sinn und
Verstand, etwa so, daß sprachliche Formen ohne alle Gesetzmäßigkeit gebildet
würden -- wie denn auch eine künstlich gezüchtete Nosenart immer noch nach
natürlichen Bildungsgesetzen entsteht --, wohl aber so, daß die neuen Formen
"nach falscher Analogie," wie die wissenschaftliche Grammatik sagt, gebildet
werden. Kinder, welche erst reden lernen, bilden anfangs unzählige Formen
nach falscher Analogie.

In der Verbalbildung liegt nun am allernächsten die Gefahr, die beiden
Hauptklassen der starken und schwachen Zeitwörter zu verwirren, ein starkes
Verbum nach einem zufällig ähnlich klingenden schwachen - also eben nach


Frug oder fragte?

Ich liegte, fliegle, single! — Wie das klingt!
So schön als wenn: lag, flog und sang! ich sagte,
Doch ist's grammatikalisch recht gesingt!

Wäre die Verteidigung in der Form nicht ebenso zierlich wie der Angriff,
wir würden sie ganz mit Stillschweigen übergehen. Denn in der Sache ist sie
so verfehlt wie möglich. Wir müssen also unsern Gegner in aller Kürze über
die Sache aufklären, auf die Gefahr hin, einen großen Teil der Leser dieser
Blätter zu beleidigen durch Vorführung von Dingen, die heutzutage jedem leid¬
lichen sekundärer eines deutschen Gymnasiums geläufig sind.

Die deutsche Sprache hat zwei Arten von Thätigkeitswörtern, die so¬
genannten starkei? und die sogenannten schwachen. Die starken heißen stark, weil
sie die Triebkraft haben, ihr Präteritum und ihr Partizip aus dem eigne»
Stamm heraus zu entwickeln, wobei nur die Stammvokale gewisse Veränderungen
erleiden. Solche starke Verba sind: singe, sang, gesungen — stehle, stahl, ge¬
stohlen — liege, lag, gelegen — fliege, flog, geflogen — trage, trug getragen —
schlage, schlug, geschlagen. Die schwachen Verba heißen schwach, weil sie jene
Triebkraft nicht besitzen, sondern zur Bildung ihres Präteritums und ihres
Partizips fremder Hilfe bedürfen: sie fügen an den Stamm das Zeitwort thun
an. Nichts andres nämlich als ein kümmerlicher Nest dieses Zeitwortes sind
die Endungen te und t in Formen wie: lobe, lobte, gelobt — suche, suchte,
gesucht — plage, plagte, geplagt — wage, wagte, gewagt. Dies sind schwache
Verba,

Wollte nun jemand die Frage aufwerfen: Warum sind denn manche Verba
schwach und manche stark? so würde das eine ganz ähnliche Frage sein wie die:
Warum blüht denn die eine Rose rot und die andre weiß? Alle Sprachformen
sind Naturerzeugnisse, und kein Engel im Himmel kann sagen, warum die einen
nach dem, die andern nach jenem Bildungsgesetze entstanden sind.

Wie der Mensch aber imstande ist, in der Pflanzenwelt in den natürlichen
Entwicklungsgang störend einzugreifen und Bildungen zu veranlassen, welche die
Natur von selbst nie und nimmermehr schaffen würde, so ist er auch imstande,
die natürlichen Entwicklungsgesetze der Sprache zu stören und ihnen eine andre
Richtung zu geben. Dies geschieht nun zwar niemals ganz ohne Sinn und
Verstand, etwa so, daß sprachliche Formen ohne alle Gesetzmäßigkeit gebildet
würden — wie denn auch eine künstlich gezüchtete Nosenart immer noch nach
natürlichen Bildungsgesetzen entsteht —, wohl aber so, daß die neuen Formen
„nach falscher Analogie," wie die wissenschaftliche Grammatik sagt, gebildet
werden. Kinder, welche erst reden lernen, bilden anfangs unzählige Formen
nach falscher Analogie.

In der Verbalbildung liegt nun am allernächsten die Gefahr, die beiden
Hauptklassen der starken und schwachen Zeitwörter zu verwirren, ein starkes
Verbum nach einem zufällig ähnlich klingenden schwachen - also eben nach


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_151310/30>, abgerufen am 25.08.2024.