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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal.

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Treitschkes Deutsche Geschichte.

Publikum Material an die Hand giebt, um einer sonst todwürdigen Erscheinung
gegenüber sich in die angenehmere kritische Attitüde setzen zu können. Ich stehe
nicht an, es, als das Resultat meiner Beobachtungen wenigstens, auszusprechen:
Wenn wirklich, wie unsre beiden Kritiker es befürchten wollen, das Buch Treitschkes
in Süddeutschland zeitweilig die Wirkung haben sollte, Verstimmungen hervor¬
zurufen, das Gefühl des Gegensatzes von Norden und Süden wieder mehr zu
beleben, die Partikularistischen Empfindlichkeiten zu reizen und zu starken, so trüge
jenes unzeitige aufstachelnde kritische Gebahren größere Schuld daran als das
Buch selber, und der Vorwurf einer höchst unpolitischen Handlungsweise träfe
mit größerem Rechte jene wohlwollenden Ärzte, die das Übel hervorriefen, um
sich an seiner Heilung zu exerziren und zu exhibiren.

Aber ich denke, die Sache liegt überhaupt anders. Sind denn alle jene
Gedanken, Ansichten, Auffassungen Treitschkes, die man jetzt mit so großer Em¬
phase als gemeinschädlich und gefährlich zu brandmarken sucht, wirklich so neu
und bisher unerhört? Warum schlug Baumgarten nicht schon bei dein Er¬
scheinen des ersten Bandes an die Lärmglocke? Mit dem gleichen Aufwande
von Scharfsinn und Feindseligkeit hätten sich an diesen ganz ähnliche Expek-
tvrativne" knüpfen lassen. Ja die dezidirte Vorliebe für Preußen, für seine
politischen Leistungen, sür seine Herrscher und Staatsmänner, die geringe Mei¬
nung von dem produktive" Werte des süddeutschen Konstitutionalismus und
Liberalismus, das abfällige Urteil über gewisse Persönlichkeiten -- geht das
alles nicht als der rote Faden durch Treitschkes ganze politische, akademische,
schriftstellerische Thätigkeit von jeher? Aber hat sich diese Thätigkeit als eine
verderbliche erwiesen? Hat nicht gerade Treitschke vielleicht einiges dazu bei¬
getragen, das Verständnis für Wesen und Bedeutung des preußischen Staates
unter unsern süddeutschen Landsleuten zu befördern und auch gerade unter den¬
selben die einst so verbreitete Überschätzung des kleinstaatlichen Liberalismus auf
ein bescheideneres Maß zurückzuführen? Und womit soll die Behauptung er¬
wiesen werden, daß solche Anschauungen "vor zwanzig Jahren einen gewissen
Sinn haben mochten, gegenüber dem heutigen deutschen Reiche aber nicht die
mindeste Berechtigung haben"? Ein Satz, der zu Konsequenzen führen würde,
denen Baumgarten selbst am lebhaftesten widersprechen müßte. Wir können
doch wohl in Deutschland uoch ein kräftiges Wort über die Kleinstaaterei von
1815 an vertragen, zumal da wir alle wissen, daß jetzt ein neuer Wein in die
alten Schläuche gegossen ist. Meint der "Selbstkritiker" des Liberalismus die
Linie ein für allemal unverbrüchlich für alle festgesetzt zu haben, über welche
man bei der Betrachtung dieser Dinge nicht hinausgehen dürfe? Kein Unbe¬
fangener in Süddeutschland wird heute durch eine noch so scharfe Kritik jener
Zustünde sich in Empfindungen verletzt fühlen, die ihm ein politisches Heiligtum
sind, und etwa in seinen Gefühlen für Kaiser und Reich erkalten -- den Be¬
fangenen aber ist doch nicht zu helfen. So wenig wie es einst etwa einen Riß


Treitschkes Deutsche Geschichte.

Publikum Material an die Hand giebt, um einer sonst todwürdigen Erscheinung
gegenüber sich in die angenehmere kritische Attitüde setzen zu können. Ich stehe
nicht an, es, als das Resultat meiner Beobachtungen wenigstens, auszusprechen:
Wenn wirklich, wie unsre beiden Kritiker es befürchten wollen, das Buch Treitschkes
in Süddeutschland zeitweilig die Wirkung haben sollte, Verstimmungen hervor¬
zurufen, das Gefühl des Gegensatzes von Norden und Süden wieder mehr zu
beleben, die Partikularistischen Empfindlichkeiten zu reizen und zu starken, so trüge
jenes unzeitige aufstachelnde kritische Gebahren größere Schuld daran als das
Buch selber, und der Vorwurf einer höchst unpolitischen Handlungsweise träfe
mit größerem Rechte jene wohlwollenden Ärzte, die das Übel hervorriefen, um
sich an seiner Heilung zu exerziren und zu exhibiren.

Aber ich denke, die Sache liegt überhaupt anders. Sind denn alle jene
Gedanken, Ansichten, Auffassungen Treitschkes, die man jetzt mit so großer Em¬
phase als gemeinschädlich und gefährlich zu brandmarken sucht, wirklich so neu
und bisher unerhört? Warum schlug Baumgarten nicht schon bei dein Er¬
scheinen des ersten Bandes an die Lärmglocke? Mit dem gleichen Aufwande
von Scharfsinn und Feindseligkeit hätten sich an diesen ganz ähnliche Expek-
tvrativne» knüpfen lassen. Ja die dezidirte Vorliebe für Preußen, für seine
politischen Leistungen, sür seine Herrscher und Staatsmänner, die geringe Mei¬
nung von dem produktive» Werte des süddeutschen Konstitutionalismus und
Liberalismus, das abfällige Urteil über gewisse Persönlichkeiten — geht das
alles nicht als der rote Faden durch Treitschkes ganze politische, akademische,
schriftstellerische Thätigkeit von jeher? Aber hat sich diese Thätigkeit als eine
verderbliche erwiesen? Hat nicht gerade Treitschke vielleicht einiges dazu bei¬
getragen, das Verständnis für Wesen und Bedeutung des preußischen Staates
unter unsern süddeutschen Landsleuten zu befördern und auch gerade unter den¬
selben die einst so verbreitete Überschätzung des kleinstaatlichen Liberalismus auf
ein bescheideneres Maß zurückzuführen? Und womit soll die Behauptung er¬
wiesen werden, daß solche Anschauungen „vor zwanzig Jahren einen gewissen
Sinn haben mochten, gegenüber dem heutigen deutschen Reiche aber nicht die
mindeste Berechtigung haben"? Ein Satz, der zu Konsequenzen führen würde,
denen Baumgarten selbst am lebhaftesten widersprechen müßte. Wir können
doch wohl in Deutschland uoch ein kräftiges Wort über die Kleinstaaterei von
1815 an vertragen, zumal da wir alle wissen, daß jetzt ein neuer Wein in die
alten Schläuche gegossen ist. Meint der „Selbstkritiker" des Liberalismus die
Linie ein für allemal unverbrüchlich für alle festgesetzt zu haben, über welche
man bei der Betrachtung dieser Dinge nicht hinausgehen dürfe? Kein Unbe¬
fangener in Süddeutschland wird heute durch eine noch so scharfe Kritik jener
Zustünde sich in Empfindungen verletzt fühlen, die ihm ein politisches Heiligtum
sind, und etwa in seinen Gefühlen für Kaiser und Reich erkalten — den Be¬
fangenen aber ist doch nicht zu helfen. So wenig wie es einst etwa einen Riß


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[0256] Treitschkes Deutsche Geschichte. Publikum Material an die Hand giebt, um einer sonst todwürdigen Erscheinung gegenüber sich in die angenehmere kritische Attitüde setzen zu können. Ich stehe nicht an, es, als das Resultat meiner Beobachtungen wenigstens, auszusprechen: Wenn wirklich, wie unsre beiden Kritiker es befürchten wollen, das Buch Treitschkes in Süddeutschland zeitweilig die Wirkung haben sollte, Verstimmungen hervor¬ zurufen, das Gefühl des Gegensatzes von Norden und Süden wieder mehr zu beleben, die Partikularistischen Empfindlichkeiten zu reizen und zu starken, so trüge jenes unzeitige aufstachelnde kritische Gebahren größere Schuld daran als das Buch selber, und der Vorwurf einer höchst unpolitischen Handlungsweise träfe mit größerem Rechte jene wohlwollenden Ärzte, die das Übel hervorriefen, um sich an seiner Heilung zu exerziren und zu exhibiren. Aber ich denke, die Sache liegt überhaupt anders. Sind denn alle jene Gedanken, Ansichten, Auffassungen Treitschkes, die man jetzt mit so großer Em¬ phase als gemeinschädlich und gefährlich zu brandmarken sucht, wirklich so neu und bisher unerhört? Warum schlug Baumgarten nicht schon bei dein Er¬ scheinen des ersten Bandes an die Lärmglocke? Mit dem gleichen Aufwande von Scharfsinn und Feindseligkeit hätten sich an diesen ganz ähnliche Expek- tvrativne» knüpfen lassen. Ja die dezidirte Vorliebe für Preußen, für seine politischen Leistungen, sür seine Herrscher und Staatsmänner, die geringe Mei¬ nung von dem produktive» Werte des süddeutschen Konstitutionalismus und Liberalismus, das abfällige Urteil über gewisse Persönlichkeiten — geht das alles nicht als der rote Faden durch Treitschkes ganze politische, akademische, schriftstellerische Thätigkeit von jeher? Aber hat sich diese Thätigkeit als eine verderbliche erwiesen? Hat nicht gerade Treitschke vielleicht einiges dazu bei¬ getragen, das Verständnis für Wesen und Bedeutung des preußischen Staates unter unsern süddeutschen Landsleuten zu befördern und auch gerade unter den¬ selben die einst so verbreitete Überschätzung des kleinstaatlichen Liberalismus auf ein bescheideneres Maß zurückzuführen? Und womit soll die Behauptung er¬ wiesen werden, daß solche Anschauungen „vor zwanzig Jahren einen gewissen Sinn haben mochten, gegenüber dem heutigen deutschen Reiche aber nicht die mindeste Berechtigung haben"? Ein Satz, der zu Konsequenzen führen würde, denen Baumgarten selbst am lebhaftesten widersprechen müßte. Wir können doch wohl in Deutschland uoch ein kräftiges Wort über die Kleinstaaterei von 1815 an vertragen, zumal da wir alle wissen, daß jetzt ein neuer Wein in die alten Schläuche gegossen ist. Meint der „Selbstkritiker" des Liberalismus die Linie ein für allemal unverbrüchlich für alle festgesetzt zu haben, über welche man bei der Betrachtung dieser Dinge nicht hinausgehen dürfe? Kein Unbe¬ fangener in Süddeutschland wird heute durch eine noch so scharfe Kritik jener Zustünde sich in Empfindungen verletzt fühlen, die ihm ein politisches Heiligtum sind, und etwa in seinen Gefühlen für Kaiser und Reich erkalten — den Be¬ fangenen aber ist doch nicht zu helfen. So wenig wie es einst etwa einen Riß

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_151310/256>, abgerufen am 23.07.2024.