Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
politische Briefe.

stände können uns die Einzelheiten heute nicht beschäftigen. Wir finden uns nur
gedrungen, hervorzuheben, daß nach unsrer Überzeugung eine heilsame und weit¬
greifende Sozialreform denkbar ist, welche den Boden der individuellen wirt¬
schaftlichen Freiheit keineswegs prinzipiell aufgiebt oder beeinträchtigt. Bei der
Unfallversicherung hat sich diese Frage auf den Punkt zugespitzt, ob die Ver¬
sicherung der Arbeiter auf die Produktionskosten der Industrie allein zu über¬
nehmen sei oder ob das Prinzip der wirtschaftlichen Selbsthilfe einen Staats¬
beitrag zu den Versicherungsprämien gestatte. Wir bejahen ohne Unsicherheit
die letztere Frage. Denn auch die Anhänger der individualistischen Wirtschafts¬
theorie haben noch nicht, von wenigen Ausnahmen abgesehen, die absolute Aus¬
dehnung derselben behauptet, haben noch nicht behauptet, daß der Staat keine
Armenschulen und ähnliche Anstalten anlegen, daß er den Schulunterricht nicht
wenigstens einem Teile des Volkes auf Kosten der Gesamtheit unentgeltlich zu¬
wenden dürfe. Die Versicherung der Arbeiter ist aber unsers Erachtens nicht
bloß ein Akt der materiellen Fürsorge, sondern weit mehr noch ein Akt der
moralischen Pädagogik, durch welchen die Gesamtheit sich aus einem bisher
verwüsteten Teil der Volkskraft eine gesunde Kraft zu erziehen versucht. Daß
dafür der Staat einen Aufwand zu machen berechtigt ist, muß auch die indivi¬
dualistische Wirtschaftstheorie anerkennen.

Bei der Aufgabe der preußischen Verwaltungsorganisation ist für den
Fürsten wohl der Gesichtspunkt maßgebend, daß das feste Gefüge des preu¬
ßischen Staates erhalten werde müsse, der den unerschütterlichen Kern der
deutschen Nationalität bleibend zu bilden berufen ist. Mit geringer Überlegung
war der Liberalismus bereits im Begriff, einer Autonomie der preußischen Pro¬
vinzen zuzusteuern. Mau fragte nicht, wo denn die Widerstandsfähigkeit in
schwere" Gefahren liegen werde. Bei Kreis-, Dorf- und Stadtparlamenten kann
sie sich niemals ausbilden. Die Verwaltungsreform war eine Zeit lang un¬
verkennbar auf dem Wege, die Einheit der Verwaltungsaktion in lokale Auto¬
nomien und Unbeholfenheiten zu verzetteln.

Die Steuerreform, die schon so oft hier behandelt worden ist, erwähnen wir
in dem jetzigen Überblicke nur, um den folgenden Puukt wiederholt zu erhellen.
Ein Steuersystem lebt sich langsam ein, die Gesellschaft muß lernen, es nicht
nur zu ertragen, sondern auch durch eine erhöhte Spannung und geschicktere
Anwendung ihrer Kräfte den Ersatz zu finden. Deshalb ist es kurzsichtig,
wenn der Liberalismus immer nur nach Maßgabe des einzelnen Bedürfnisses
einzelne Opfer auflegen will, als ob dieselben immer zu haben wären.

Die Eisenbahnreform ist gelungen, wenn auch noch nicht ganz in der er¬
strebten Weise. Hier hat die Voraussicht des Fürsten eine unbestrittene Be¬
stätigung empfangen.

Als der Fürst im April 1877 seine Entlassung erbat, wurden die Schwierig¬
keiten, die ihm der Ultramontanismus bereitete, vielseitig als Hauptgrund ver-


politische Briefe.

stände können uns die Einzelheiten heute nicht beschäftigen. Wir finden uns nur
gedrungen, hervorzuheben, daß nach unsrer Überzeugung eine heilsame und weit¬
greifende Sozialreform denkbar ist, welche den Boden der individuellen wirt¬
schaftlichen Freiheit keineswegs prinzipiell aufgiebt oder beeinträchtigt. Bei der
Unfallversicherung hat sich diese Frage auf den Punkt zugespitzt, ob die Ver¬
sicherung der Arbeiter auf die Produktionskosten der Industrie allein zu über¬
nehmen sei oder ob das Prinzip der wirtschaftlichen Selbsthilfe einen Staats¬
beitrag zu den Versicherungsprämien gestatte. Wir bejahen ohne Unsicherheit
die letztere Frage. Denn auch die Anhänger der individualistischen Wirtschafts¬
theorie haben noch nicht, von wenigen Ausnahmen abgesehen, die absolute Aus¬
dehnung derselben behauptet, haben noch nicht behauptet, daß der Staat keine
Armenschulen und ähnliche Anstalten anlegen, daß er den Schulunterricht nicht
wenigstens einem Teile des Volkes auf Kosten der Gesamtheit unentgeltlich zu¬
wenden dürfe. Die Versicherung der Arbeiter ist aber unsers Erachtens nicht
bloß ein Akt der materiellen Fürsorge, sondern weit mehr noch ein Akt der
moralischen Pädagogik, durch welchen die Gesamtheit sich aus einem bisher
verwüsteten Teil der Volkskraft eine gesunde Kraft zu erziehen versucht. Daß
dafür der Staat einen Aufwand zu machen berechtigt ist, muß auch die indivi¬
dualistische Wirtschaftstheorie anerkennen.

Bei der Aufgabe der preußischen Verwaltungsorganisation ist für den
Fürsten wohl der Gesichtspunkt maßgebend, daß das feste Gefüge des preu¬
ßischen Staates erhalten werde müsse, der den unerschütterlichen Kern der
deutschen Nationalität bleibend zu bilden berufen ist. Mit geringer Überlegung
war der Liberalismus bereits im Begriff, einer Autonomie der preußischen Pro¬
vinzen zuzusteuern. Mau fragte nicht, wo denn die Widerstandsfähigkeit in
schwere» Gefahren liegen werde. Bei Kreis-, Dorf- und Stadtparlamenten kann
sie sich niemals ausbilden. Die Verwaltungsreform war eine Zeit lang un¬
verkennbar auf dem Wege, die Einheit der Verwaltungsaktion in lokale Auto¬
nomien und Unbeholfenheiten zu verzetteln.

Die Steuerreform, die schon so oft hier behandelt worden ist, erwähnen wir
in dem jetzigen Überblicke nur, um den folgenden Puukt wiederholt zu erhellen.
Ein Steuersystem lebt sich langsam ein, die Gesellschaft muß lernen, es nicht
nur zu ertragen, sondern auch durch eine erhöhte Spannung und geschicktere
Anwendung ihrer Kräfte den Ersatz zu finden. Deshalb ist es kurzsichtig,
wenn der Liberalismus immer nur nach Maßgabe des einzelnen Bedürfnisses
einzelne Opfer auflegen will, als ob dieselben immer zu haben wären.

Die Eisenbahnreform ist gelungen, wenn auch noch nicht ganz in der er¬
strebten Weise. Hier hat die Voraussicht des Fürsten eine unbestrittene Be¬
stätigung empfangen.

Als der Fürst im April 1877 seine Entlassung erbat, wurden die Schwierig¬
keiten, die ihm der Ultramontanismus bereitete, vielseitig als Hauptgrund ver-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0221" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/151752"/>
          <fw type="header" place="top"> politische Briefe.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_708" prev="#ID_707"> stände können uns die Einzelheiten heute nicht beschäftigen. Wir finden uns nur<lb/>
gedrungen, hervorzuheben, daß nach unsrer Überzeugung eine heilsame und weit¬<lb/>
greifende Sozialreform denkbar ist, welche den Boden der individuellen wirt¬<lb/>
schaftlichen Freiheit keineswegs prinzipiell aufgiebt oder beeinträchtigt. Bei der<lb/>
Unfallversicherung hat sich diese Frage auf den Punkt zugespitzt, ob die Ver¬<lb/>
sicherung der Arbeiter auf die Produktionskosten der Industrie allein zu über¬<lb/>
nehmen sei oder ob das Prinzip der wirtschaftlichen Selbsthilfe einen Staats¬<lb/>
beitrag zu den Versicherungsprämien gestatte. Wir bejahen ohne Unsicherheit<lb/>
die letztere Frage. Denn auch die Anhänger der individualistischen Wirtschafts¬<lb/>
theorie haben noch nicht, von wenigen Ausnahmen abgesehen, die absolute Aus¬<lb/>
dehnung derselben behauptet, haben noch nicht behauptet, daß der Staat keine<lb/>
Armenschulen und ähnliche Anstalten anlegen, daß er den Schulunterricht nicht<lb/>
wenigstens einem Teile des Volkes auf Kosten der Gesamtheit unentgeltlich zu¬<lb/>
wenden dürfe. Die Versicherung der Arbeiter ist aber unsers Erachtens nicht<lb/>
bloß ein Akt der materiellen Fürsorge, sondern weit mehr noch ein Akt der<lb/>
moralischen Pädagogik, durch welchen die Gesamtheit sich aus einem bisher<lb/>
verwüsteten Teil der Volkskraft eine gesunde Kraft zu erziehen versucht. Daß<lb/>
dafür der Staat einen Aufwand zu machen berechtigt ist, muß auch die indivi¬<lb/>
dualistische Wirtschaftstheorie anerkennen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_709"> Bei der Aufgabe der preußischen Verwaltungsorganisation ist für den<lb/>
Fürsten wohl der Gesichtspunkt maßgebend, daß das feste Gefüge des preu¬<lb/>
ßischen Staates erhalten werde müsse, der den unerschütterlichen Kern der<lb/>
deutschen Nationalität bleibend zu bilden berufen ist. Mit geringer Überlegung<lb/>
war der Liberalismus bereits im Begriff, einer Autonomie der preußischen Pro¬<lb/>
vinzen zuzusteuern. Mau fragte nicht, wo denn die Widerstandsfähigkeit in<lb/>
schwere» Gefahren liegen werde. Bei Kreis-, Dorf- und Stadtparlamenten kann<lb/>
sie sich niemals ausbilden. Die Verwaltungsreform war eine Zeit lang un¬<lb/>
verkennbar auf dem Wege, die Einheit der Verwaltungsaktion in lokale Auto¬<lb/>
nomien und Unbeholfenheiten zu verzetteln.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_710"> Die Steuerreform, die schon so oft hier behandelt worden ist, erwähnen wir<lb/>
in dem jetzigen Überblicke nur, um den folgenden Puukt wiederholt zu erhellen.<lb/>
Ein Steuersystem lebt sich langsam ein, die Gesellschaft muß lernen, es nicht<lb/>
nur zu ertragen, sondern auch durch eine erhöhte Spannung und geschicktere<lb/>
Anwendung ihrer Kräfte den Ersatz zu finden. Deshalb ist es kurzsichtig,<lb/>
wenn der Liberalismus immer nur nach Maßgabe des einzelnen Bedürfnisses<lb/>
einzelne Opfer auflegen will, als ob dieselben immer zu haben wären.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_711"> Die Eisenbahnreform ist gelungen, wenn auch noch nicht ganz in der er¬<lb/>
strebten Weise. Hier hat die Voraussicht des Fürsten eine unbestrittene Be¬<lb/>
stätigung empfangen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_712" next="#ID_713"> Als der Fürst im April 1877 seine Entlassung erbat, wurden die Schwierig¬<lb/>
keiten, die ihm der Ultramontanismus bereitete, vielseitig als Hauptgrund ver-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0221] politische Briefe. stände können uns die Einzelheiten heute nicht beschäftigen. Wir finden uns nur gedrungen, hervorzuheben, daß nach unsrer Überzeugung eine heilsame und weit¬ greifende Sozialreform denkbar ist, welche den Boden der individuellen wirt¬ schaftlichen Freiheit keineswegs prinzipiell aufgiebt oder beeinträchtigt. Bei der Unfallversicherung hat sich diese Frage auf den Punkt zugespitzt, ob die Ver¬ sicherung der Arbeiter auf die Produktionskosten der Industrie allein zu über¬ nehmen sei oder ob das Prinzip der wirtschaftlichen Selbsthilfe einen Staats¬ beitrag zu den Versicherungsprämien gestatte. Wir bejahen ohne Unsicherheit die letztere Frage. Denn auch die Anhänger der individualistischen Wirtschafts¬ theorie haben noch nicht, von wenigen Ausnahmen abgesehen, die absolute Aus¬ dehnung derselben behauptet, haben noch nicht behauptet, daß der Staat keine Armenschulen und ähnliche Anstalten anlegen, daß er den Schulunterricht nicht wenigstens einem Teile des Volkes auf Kosten der Gesamtheit unentgeltlich zu¬ wenden dürfe. Die Versicherung der Arbeiter ist aber unsers Erachtens nicht bloß ein Akt der materiellen Fürsorge, sondern weit mehr noch ein Akt der moralischen Pädagogik, durch welchen die Gesamtheit sich aus einem bisher verwüsteten Teil der Volkskraft eine gesunde Kraft zu erziehen versucht. Daß dafür der Staat einen Aufwand zu machen berechtigt ist, muß auch die indivi¬ dualistische Wirtschaftstheorie anerkennen. Bei der Aufgabe der preußischen Verwaltungsorganisation ist für den Fürsten wohl der Gesichtspunkt maßgebend, daß das feste Gefüge des preu¬ ßischen Staates erhalten werde müsse, der den unerschütterlichen Kern der deutschen Nationalität bleibend zu bilden berufen ist. Mit geringer Überlegung war der Liberalismus bereits im Begriff, einer Autonomie der preußischen Pro¬ vinzen zuzusteuern. Mau fragte nicht, wo denn die Widerstandsfähigkeit in schwere» Gefahren liegen werde. Bei Kreis-, Dorf- und Stadtparlamenten kann sie sich niemals ausbilden. Die Verwaltungsreform war eine Zeit lang un¬ verkennbar auf dem Wege, die Einheit der Verwaltungsaktion in lokale Auto¬ nomien und Unbeholfenheiten zu verzetteln. Die Steuerreform, die schon so oft hier behandelt worden ist, erwähnen wir in dem jetzigen Überblicke nur, um den folgenden Puukt wiederholt zu erhellen. Ein Steuersystem lebt sich langsam ein, die Gesellschaft muß lernen, es nicht nur zu ertragen, sondern auch durch eine erhöhte Spannung und geschicktere Anwendung ihrer Kräfte den Ersatz zu finden. Deshalb ist es kurzsichtig, wenn der Liberalismus immer nur nach Maßgabe des einzelnen Bedürfnisses einzelne Opfer auflegen will, als ob dieselben immer zu haben wären. Die Eisenbahnreform ist gelungen, wenn auch noch nicht ganz in der er¬ strebten Weise. Hier hat die Voraussicht des Fürsten eine unbestrittene Be¬ stätigung empfangen. Als der Fürst im April 1877 seine Entlassung erbat, wurden die Schwierig¬ keiten, die ihm der Ultramontanismus bereitete, vielseitig als Hauptgrund ver-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_151310
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_151310/221
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_151310/221>, abgerufen am 25.08.2024.