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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal.

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Politische Lriefc,

an den Wcltgcschicken fordernde Macht dastehen würden. Wir mußten uns
sagen, daß wir, das Thor des Westens verschließend, den Traum der Franzosen,
daß wir das politisch selbstlose Material ihrer Weltherrschaft abzugeben gut
genug seien, für immer zerstörend, einen Lebensbestandteil dieser Nation ent¬
reißen würden, den sie erst verschmerzen könne, nachdem sie viele Jahre lang
den Eindruck der deutschen Unüberwindlichkeit empfangen.

Zu allen diesen gewaltigen Aufgaben mußte das deutsche Reich erst zu¬
bereitet werden. Es besaß wohl deu Kern des unübertrefflichen Heeres, das ihm
die Wege zu seiner Wiederaufrichtung gebahnt hat. Aber die erzogenen Kräfte,
die ein solches Heer dauernd erhalten, die den ganzen wirtschaftlichen, intellek¬
tuellen und sittlichen Organismus mit ihm ins Gleichgewicht setzen können, ohne
welches ein solches Heer sich nicht auf seiner Höhe behaupten kann und dem
schwachen Ganzen zu große Opfer auferlegt, diese Kräfte fehlten.

Im April 1877 stand Fürst Bismarck vor der Frage, ob er, vertrauend
dem Wort, das er einst selbst gesprochen: "Setzen wir Deutschland in den
Sattel, reiten wird es schon können," den ungeübten Reiter auf dem gefährlichsten
Wege sich selbst überlassen solle. Die künftige Geschichtschreibung wird vor
der Thatsache als einem Rätsel stehen, daß der deutsche Liberalismus, der zehn
Jahre lang der Hebel der nationalen Politik in der Hand des Kanzlers ge¬
wesen, von den Schwierigkeiten der Zukunft so gar keine Ahnung gehabt hat.
Die Liberalen träumten von nichts als von dem Eintritt des vollen parla¬
mentarischen Regimentes und dem interessanten Würfelspiel um die Minister¬
sitze durch die Würfe parlamentarischer Beredsamkeit und glücklicher Taktik.
Alle innern Aufgaben glaubte man zu lösen durch die immer vollständigere
Abstreifung wirtschaftlicher Fesseln; ein Zoll nach dem andern muß fallen, jede
Schranke der Gewerbefreiheit, wo noch eine zu finden ist, dann wird das Para¬
dies erblühen. Dabei stand im Jahre 1877 der Fanatismus des Ultramon¬
tanismus einerseits, der Fanatismus der Sozialdemokratie andrerseits, welche
beide den Besitz unbeschränkter Preßfreiheit und Versammlungsfreiheit in vollem
Maße benutzten, auf der Höhe. Die Demokratie ihrerseits, repräsentirt in
Preußen durch die Fortschrittspartei, im Süden durch die Volkspartei, über¬
schüttete den nationalen Liberalismus für jedes Zugeständnis mit Hohn und
Verachtung, das letzterer bei den Justizgesetzen zur Einschränkung der Massen¬
herrschaft den Regierungen gemacht hatte. Es erscheint heute schon als unfaßbar
und wird einer spätern Zeit noch unfaßbarer sein, wie der nationale Liberalismus
diesen Kräften gegenüber, die, auf dem Boden des allgemeinen Stimmrechts
bequem sich ausbreitend, mit Ausnahme der rcinpolitischen Demokratie ihre
Zahlen im Parlamente wachsen sehen, mit Ungeduld von der Verlegung der
Souverainetät in dieses Parlament träumen konnte. Denn nur aus diesem
Traume ist das Drängen auf die sogenannten konstitutionellen Garantien, ist
die Forderung einer Parteiregierung, nach der Art, wie man sie sich in Deutsche


Politische Lriefc,

an den Wcltgcschicken fordernde Macht dastehen würden. Wir mußten uns
sagen, daß wir, das Thor des Westens verschließend, den Traum der Franzosen,
daß wir das politisch selbstlose Material ihrer Weltherrschaft abzugeben gut
genug seien, für immer zerstörend, einen Lebensbestandteil dieser Nation ent¬
reißen würden, den sie erst verschmerzen könne, nachdem sie viele Jahre lang
den Eindruck der deutschen Unüberwindlichkeit empfangen.

Zu allen diesen gewaltigen Aufgaben mußte das deutsche Reich erst zu¬
bereitet werden. Es besaß wohl deu Kern des unübertrefflichen Heeres, das ihm
die Wege zu seiner Wiederaufrichtung gebahnt hat. Aber die erzogenen Kräfte,
die ein solches Heer dauernd erhalten, die den ganzen wirtschaftlichen, intellek¬
tuellen und sittlichen Organismus mit ihm ins Gleichgewicht setzen können, ohne
welches ein solches Heer sich nicht auf seiner Höhe behaupten kann und dem
schwachen Ganzen zu große Opfer auferlegt, diese Kräfte fehlten.

Im April 1877 stand Fürst Bismarck vor der Frage, ob er, vertrauend
dem Wort, das er einst selbst gesprochen: „Setzen wir Deutschland in den
Sattel, reiten wird es schon können," den ungeübten Reiter auf dem gefährlichsten
Wege sich selbst überlassen solle. Die künftige Geschichtschreibung wird vor
der Thatsache als einem Rätsel stehen, daß der deutsche Liberalismus, der zehn
Jahre lang der Hebel der nationalen Politik in der Hand des Kanzlers ge¬
wesen, von den Schwierigkeiten der Zukunft so gar keine Ahnung gehabt hat.
Die Liberalen träumten von nichts als von dem Eintritt des vollen parla¬
mentarischen Regimentes und dem interessanten Würfelspiel um die Minister¬
sitze durch die Würfe parlamentarischer Beredsamkeit und glücklicher Taktik.
Alle innern Aufgaben glaubte man zu lösen durch die immer vollständigere
Abstreifung wirtschaftlicher Fesseln; ein Zoll nach dem andern muß fallen, jede
Schranke der Gewerbefreiheit, wo noch eine zu finden ist, dann wird das Para¬
dies erblühen. Dabei stand im Jahre 1877 der Fanatismus des Ultramon¬
tanismus einerseits, der Fanatismus der Sozialdemokratie andrerseits, welche
beide den Besitz unbeschränkter Preßfreiheit und Versammlungsfreiheit in vollem
Maße benutzten, auf der Höhe. Die Demokratie ihrerseits, repräsentirt in
Preußen durch die Fortschrittspartei, im Süden durch die Volkspartei, über¬
schüttete den nationalen Liberalismus für jedes Zugeständnis mit Hohn und
Verachtung, das letzterer bei den Justizgesetzen zur Einschränkung der Massen¬
herrschaft den Regierungen gemacht hatte. Es erscheint heute schon als unfaßbar
und wird einer spätern Zeit noch unfaßbarer sein, wie der nationale Liberalismus
diesen Kräften gegenüber, die, auf dem Boden des allgemeinen Stimmrechts
bequem sich ausbreitend, mit Ausnahme der rcinpolitischen Demokratie ihre
Zahlen im Parlamente wachsen sehen, mit Ungeduld von der Verlegung der
Souverainetät in dieses Parlament träumen konnte. Denn nur aus diesem
Traume ist das Drängen auf die sogenannten konstitutionellen Garantien, ist
die Forderung einer Parteiregierung, nach der Art, wie man sie sich in Deutsche


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[0218] Politische Lriefc, an den Wcltgcschicken fordernde Macht dastehen würden. Wir mußten uns sagen, daß wir, das Thor des Westens verschließend, den Traum der Franzosen, daß wir das politisch selbstlose Material ihrer Weltherrschaft abzugeben gut genug seien, für immer zerstörend, einen Lebensbestandteil dieser Nation ent¬ reißen würden, den sie erst verschmerzen könne, nachdem sie viele Jahre lang den Eindruck der deutschen Unüberwindlichkeit empfangen. Zu allen diesen gewaltigen Aufgaben mußte das deutsche Reich erst zu¬ bereitet werden. Es besaß wohl deu Kern des unübertrefflichen Heeres, das ihm die Wege zu seiner Wiederaufrichtung gebahnt hat. Aber die erzogenen Kräfte, die ein solches Heer dauernd erhalten, die den ganzen wirtschaftlichen, intellek¬ tuellen und sittlichen Organismus mit ihm ins Gleichgewicht setzen können, ohne welches ein solches Heer sich nicht auf seiner Höhe behaupten kann und dem schwachen Ganzen zu große Opfer auferlegt, diese Kräfte fehlten. Im April 1877 stand Fürst Bismarck vor der Frage, ob er, vertrauend dem Wort, das er einst selbst gesprochen: „Setzen wir Deutschland in den Sattel, reiten wird es schon können," den ungeübten Reiter auf dem gefährlichsten Wege sich selbst überlassen solle. Die künftige Geschichtschreibung wird vor der Thatsache als einem Rätsel stehen, daß der deutsche Liberalismus, der zehn Jahre lang der Hebel der nationalen Politik in der Hand des Kanzlers ge¬ wesen, von den Schwierigkeiten der Zukunft so gar keine Ahnung gehabt hat. Die Liberalen träumten von nichts als von dem Eintritt des vollen parla¬ mentarischen Regimentes und dem interessanten Würfelspiel um die Minister¬ sitze durch die Würfe parlamentarischer Beredsamkeit und glücklicher Taktik. Alle innern Aufgaben glaubte man zu lösen durch die immer vollständigere Abstreifung wirtschaftlicher Fesseln; ein Zoll nach dem andern muß fallen, jede Schranke der Gewerbefreiheit, wo noch eine zu finden ist, dann wird das Para¬ dies erblühen. Dabei stand im Jahre 1877 der Fanatismus des Ultramon¬ tanismus einerseits, der Fanatismus der Sozialdemokratie andrerseits, welche beide den Besitz unbeschränkter Preßfreiheit und Versammlungsfreiheit in vollem Maße benutzten, auf der Höhe. Die Demokratie ihrerseits, repräsentirt in Preußen durch die Fortschrittspartei, im Süden durch die Volkspartei, über¬ schüttete den nationalen Liberalismus für jedes Zugeständnis mit Hohn und Verachtung, das letzterer bei den Justizgesetzen zur Einschränkung der Massen¬ herrschaft den Regierungen gemacht hatte. Es erscheint heute schon als unfaßbar und wird einer spätern Zeit noch unfaßbarer sein, wie der nationale Liberalismus diesen Kräften gegenüber, die, auf dem Boden des allgemeinen Stimmrechts bequem sich ausbreitend, mit Ausnahme der rcinpolitischen Demokratie ihre Zahlen im Parlamente wachsen sehen, mit Ungeduld von der Verlegung der Souverainetät in dieses Parlament träumen konnte. Denn nur aus diesem Traume ist das Drängen auf die sogenannten konstitutionellen Garantien, ist die Forderung einer Parteiregierung, nach der Art, wie man sie sich in Deutsche

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_151310/218>, abgerufen am 03.07.2024.