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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal.

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und peinlich mit ihnen in Verbindung gebracht werden müssen? Gesetzt also
nochmals, der Interpret hätte mit seiner Erklärung Recht, so würde das nicht
hindern, zunächst zu fragen, ob diese aus den dramatischen Begebnissen erhellt
und ob diese letzteren selbst sinnvoll und znsammenhiingend sind? Und darauf
giebt es mir die Antwort: Nein. Von dem ersten Punkte hat man nicht nötig
noch zu reden, und hinsichtlich des zweiten fällt sich Boas, wenn er das "Winter-
märchcn" ohne seine symbolische Deutung als ein mit vielfachen argen Mängeln
behaftetes Werk hinstellt, selbst das Urteil. Ich möchte dem Autor darin nicht
überall folgen, aber wahr ist es doch, daß, mag man von den unvergleichlichen
Schönheiten der Dichtung bis ins tiefste Herz getroffen werden, dieselbe doch
als dramatisches Ganze nicht zu halten ist und daß u. a. die Raserei und die
plötzliche Umkehr des Leontes ebenso wie die lange Wartezeit, die Hermione bis
zu ihrer Statuenkomödie verstreichen läßt, dramatisch unerträglich sind. Daran
bessert auch die Boassche Interpretation nicht ein Jota; oder vielmehr, ein
Drama, dessen dramatische Unmöglichkeiten erst durch diese außerhalb des Drama¬
tischen liegende Erklärung eine" gewissen Sinn bekommen, ist und bleibt eben
eine Unzulänglichkeit, seine dichterischen Details mögen so entzückend schön sein
wie die des "Wintermürchens" in der wunderbaren Gerichtsszcne und dem ganzen
herrlichen Schäferakt. Wohin sollte es schließlich führen, wenn der Poet die
Sanktion erhielte, uns ein dramatisches Rätsel aufzugeben, um uns, nachdem
wir den Kopf darüber geschüttelt, einen Zettel in die Hand zu drücken, der uns
beweist, daß dasselbe zwar als Drama widersinnig, aber doch von anderen Ge¬
sichtspunkte betrachtet sehr tiefsinnig sei? Würde nicht die Mittelmäßigkeit, die
ohnehin mit den dramatischen und theatralischen Geboten nicht aus noch ein
weiß, dabei außer Rand und Band geraten und eine talentlose Romantik in
Permanenz erklärt werden?

Wie ganz anders steht es in dieser Beziehung mit dem "Sturm," dessen
Charakter als konsequentes Einheitendrama (das einzige bei Shakespeare) der
Verfasser mit Recht im Gegensatz zu dein zwanglos komponirter "Wintermärchen"
betont! Welch ein Meisterwerk ist hier geschaffen, wie schließt sich Glied an
Glied zum vollkommenen Wunderring, wie ergötzt, ergreift und beseligt uns das
Leben und Weben auf diesem Zanbereiland, wie erschließen sich lichtvoll in
diesem phantastischen Treiben die tiefste" psychologischen und sittlichen Wahr¬
heiten, und wie in sich ganz und rund ist das Werk, wie thut es uns als
Kunstwerk so volles Genüge! Ist es darum aber nicht sehr bezeichnend für die
künstlerische Gleichgiltigkeit der außer- oder überdramatischen Deutungssucht, daß
wir es genießen, ohne von dieser etwas zu wisse" oder sie herbeizuwünschen?
Ist Prospero der Künstler, Miranda das Kunstwerk, Ferdinand der Kunstjünger
oder das Publikum, so mag das ja nebenbei eine ganz hübsche Spekulation
und die Auslegung vielleicht auch möglich sein; aber das kümmert keinen,
der künstlerisch empfinden und getroffen werden will. Auch möge es der Ver-


und peinlich mit ihnen in Verbindung gebracht werden müssen? Gesetzt also
nochmals, der Interpret hätte mit seiner Erklärung Recht, so würde das nicht
hindern, zunächst zu fragen, ob diese aus den dramatischen Begebnissen erhellt
und ob diese letzteren selbst sinnvoll und znsammenhiingend sind? Und darauf
giebt es mir die Antwort: Nein. Von dem ersten Punkte hat man nicht nötig
noch zu reden, und hinsichtlich des zweiten fällt sich Boas, wenn er das „Winter-
märchcn" ohne seine symbolische Deutung als ein mit vielfachen argen Mängeln
behaftetes Werk hinstellt, selbst das Urteil. Ich möchte dem Autor darin nicht
überall folgen, aber wahr ist es doch, daß, mag man von den unvergleichlichen
Schönheiten der Dichtung bis ins tiefste Herz getroffen werden, dieselbe doch
als dramatisches Ganze nicht zu halten ist und daß u. a. die Raserei und die
plötzliche Umkehr des Leontes ebenso wie die lange Wartezeit, die Hermione bis
zu ihrer Statuenkomödie verstreichen läßt, dramatisch unerträglich sind. Daran
bessert auch die Boassche Interpretation nicht ein Jota; oder vielmehr, ein
Drama, dessen dramatische Unmöglichkeiten erst durch diese außerhalb des Drama¬
tischen liegende Erklärung eine» gewissen Sinn bekommen, ist und bleibt eben
eine Unzulänglichkeit, seine dichterischen Details mögen so entzückend schön sein
wie die des „Wintermürchens" in der wunderbaren Gerichtsszcne und dem ganzen
herrlichen Schäferakt. Wohin sollte es schließlich führen, wenn der Poet die
Sanktion erhielte, uns ein dramatisches Rätsel aufzugeben, um uns, nachdem
wir den Kopf darüber geschüttelt, einen Zettel in die Hand zu drücken, der uns
beweist, daß dasselbe zwar als Drama widersinnig, aber doch von anderen Ge¬
sichtspunkte betrachtet sehr tiefsinnig sei? Würde nicht die Mittelmäßigkeit, die
ohnehin mit den dramatischen und theatralischen Geboten nicht aus noch ein
weiß, dabei außer Rand und Band geraten und eine talentlose Romantik in
Permanenz erklärt werden?

Wie ganz anders steht es in dieser Beziehung mit dem „Sturm," dessen
Charakter als konsequentes Einheitendrama (das einzige bei Shakespeare) der
Verfasser mit Recht im Gegensatz zu dein zwanglos komponirter „Wintermärchen"
betont! Welch ein Meisterwerk ist hier geschaffen, wie schließt sich Glied an
Glied zum vollkommenen Wunderring, wie ergötzt, ergreift und beseligt uns das
Leben und Weben auf diesem Zanbereiland, wie erschließen sich lichtvoll in
diesem phantastischen Treiben die tiefste» psychologischen und sittlichen Wahr¬
heiten, und wie in sich ganz und rund ist das Werk, wie thut es uns als
Kunstwerk so volles Genüge! Ist es darum aber nicht sehr bezeichnend für die
künstlerische Gleichgiltigkeit der außer- oder überdramatischen Deutungssucht, daß
wir es genießen, ohne von dieser etwas zu wisse» oder sie herbeizuwünschen?
Ist Prospero der Künstler, Miranda das Kunstwerk, Ferdinand der Kunstjünger
oder das Publikum, so mag das ja nebenbei eine ganz hübsche Spekulation
und die Auslegung vielleicht auch möglich sein; aber das kümmert keinen,
der künstlerisch empfinden und getroffen werden will. Auch möge es der Ver-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_151310/149>, abgerufen am 23.07.2024.