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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal.

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Zwei Shakespeare-Gssays.

der Natur eng verschwisterten schlichten Gesittung, Aber trotz ihres Glückes
strebt diese Welt sich zu erweitern. Das Samenkorn "wahrer und edler Geistes¬
kultur" trügt auch inmitten der germanischen Stämme Blüte und Frucht.
Perdita und Florizel finden sich, und in Italien, wohin die beiden flüchten,
schließen die Bildung und der Natursinn einen neuen innigen Bund. Mau
könnte, da der Verfasser einmal soweit gekommen, bequem fortfahren, vom
Humanismus, der Renaissance, dem Cinquecento reden, und in der That steckt
das alles und mehr in seinen Ausführungen, die damit enden, daß der Verein
der jugendlich reinen Sprößlinge nun auch die Kunst aus dem langen Winter¬
schlummer ins Leben zurückruft. "Ihr müßt den Glauben wecken," sagt Paulina,
nur der Glaube erschließt die Kunst.

Es ist offenbar System in dieser Deutung, und es fehlt ihr nicht an Geist;
nur eins hat Boas übersehen, und darin liegt das völlig Unkünstlerische seiner
Anschauungsweise. Jedes Kunstwerk ist Leib und Seele, alles Konkrete erlangt
unter der Hand des Künstlers die Weihe des Allgemeinen. Dies Konkrete muß
aber auch für sich betrachtet Sinn, Bestand und Zusammenhalt haben, der
Körper muß selbst ein organisches Ganze und kein zerrissenes und zerklüftetes
Mosaikwerk sein, ja noch mehr, er muß die Idee, die er darstellt, in sich selbst
durchsichtig tragen: sie darf nicht als glänzende, aber substanzlose Aureole über
ihm in der Luft schweben. Gesetzt einmal, der Erklärer hätte mit seiner Inter¬
pretation Recht, so hätte er höchstens bewiesen, daß sich mit dem dramatischen
Vorgang in der Schöpfung eines großen Dichters zugleich eine kunsthistorische
Spielerei verbinden kann -- denn weiter wäre das Resultat seiner Kombina¬
tionen doch nichts. Mit dem dramatischen Leben, mit der tragischen Erschütte¬
rung, mit der ästhetischen Befriedigung hat es nicht das mindeste zu thun.
Zunächst erblicken wir im Drama immer nur das Reale, und nur, wenn uns
dies, durch sich selbst, gewinnt, wenn es unaufdringlich, leise von seinen Ge¬
stalten den Schleier hebt, der sie uns im Lichte des Ewigen zeigt, nur dann
empfinden wir die ganze Weihe und den Schauer des künstlerischen Symboli-
sirens." Dazu ist aber eben erforderlich, daß dem symbolischen Zeichen (wenn
man so will), der einzelnen Szene, der ganzen Dichtung die Kraft der poetischen
Wahrheit eigen, daß es kein widerspruchsvolles Unding sei. Die symbolreichste
und symbolischste aller Dichtungen, der "Faust," ist in seinem größten Teil
zugleich das in seiner Realität wahrste und plausibelste Kunstwerk. Der erste
Akt (bis zu den Osterchören), Mephistopheles, die Hexe, die Reinigung der
Seele des Helden durch die Elfen, die grauen Weiber, Fausts Tod -- wie erfüllt
ist das alles von tiefster Symbolik, und wie szenisch und dramatisch sinnvoll
ist es zugleich auch ohne seinen höheren Bezug! Und ist es nicht ganz bezeichnend,
daß den Dichter die dichterische Kraft überall da verläßt, wo er mit seinen Ge¬
schöpfen zugleich Fragen der Kultur- und Kunstgeschichte lösen will, die aus
ihren Geschicken von selbst gar nicht hervorgehen, die vielmehr erst zwangvoll


Zwei Shakespeare-Gssays.

der Natur eng verschwisterten schlichten Gesittung, Aber trotz ihres Glückes
strebt diese Welt sich zu erweitern. Das Samenkorn „wahrer und edler Geistes¬
kultur" trügt auch inmitten der germanischen Stämme Blüte und Frucht.
Perdita und Florizel finden sich, und in Italien, wohin die beiden flüchten,
schließen die Bildung und der Natursinn einen neuen innigen Bund. Mau
könnte, da der Verfasser einmal soweit gekommen, bequem fortfahren, vom
Humanismus, der Renaissance, dem Cinquecento reden, und in der That steckt
das alles und mehr in seinen Ausführungen, die damit enden, daß der Verein
der jugendlich reinen Sprößlinge nun auch die Kunst aus dem langen Winter¬
schlummer ins Leben zurückruft. „Ihr müßt den Glauben wecken," sagt Paulina,
nur der Glaube erschließt die Kunst.

Es ist offenbar System in dieser Deutung, und es fehlt ihr nicht an Geist;
nur eins hat Boas übersehen, und darin liegt das völlig Unkünstlerische seiner
Anschauungsweise. Jedes Kunstwerk ist Leib und Seele, alles Konkrete erlangt
unter der Hand des Künstlers die Weihe des Allgemeinen. Dies Konkrete muß
aber auch für sich betrachtet Sinn, Bestand und Zusammenhalt haben, der
Körper muß selbst ein organisches Ganze und kein zerrissenes und zerklüftetes
Mosaikwerk sein, ja noch mehr, er muß die Idee, die er darstellt, in sich selbst
durchsichtig tragen: sie darf nicht als glänzende, aber substanzlose Aureole über
ihm in der Luft schweben. Gesetzt einmal, der Erklärer hätte mit seiner Inter¬
pretation Recht, so hätte er höchstens bewiesen, daß sich mit dem dramatischen
Vorgang in der Schöpfung eines großen Dichters zugleich eine kunsthistorische
Spielerei verbinden kann — denn weiter wäre das Resultat seiner Kombina¬
tionen doch nichts. Mit dem dramatischen Leben, mit der tragischen Erschütte¬
rung, mit der ästhetischen Befriedigung hat es nicht das mindeste zu thun.
Zunächst erblicken wir im Drama immer nur das Reale, und nur, wenn uns
dies, durch sich selbst, gewinnt, wenn es unaufdringlich, leise von seinen Ge¬
stalten den Schleier hebt, der sie uns im Lichte des Ewigen zeigt, nur dann
empfinden wir die ganze Weihe und den Schauer des künstlerischen Symboli-
sirens.» Dazu ist aber eben erforderlich, daß dem symbolischen Zeichen (wenn
man so will), der einzelnen Szene, der ganzen Dichtung die Kraft der poetischen
Wahrheit eigen, daß es kein widerspruchsvolles Unding sei. Die symbolreichste
und symbolischste aller Dichtungen, der „Faust," ist in seinem größten Teil
zugleich das in seiner Realität wahrste und plausibelste Kunstwerk. Der erste
Akt (bis zu den Osterchören), Mephistopheles, die Hexe, die Reinigung der
Seele des Helden durch die Elfen, die grauen Weiber, Fausts Tod — wie erfüllt
ist das alles von tiefster Symbolik, und wie szenisch und dramatisch sinnvoll
ist es zugleich auch ohne seinen höheren Bezug! Und ist es nicht ganz bezeichnend,
daß den Dichter die dichterische Kraft überall da verläßt, wo er mit seinen Ge¬
schöpfen zugleich Fragen der Kultur- und Kunstgeschichte lösen will, die aus
ihren Geschicken von selbst gar nicht hervorgehen, die vielmehr erst zwangvoll


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[0148] Zwei Shakespeare-Gssays. der Natur eng verschwisterten schlichten Gesittung, Aber trotz ihres Glückes strebt diese Welt sich zu erweitern. Das Samenkorn „wahrer und edler Geistes¬ kultur" trügt auch inmitten der germanischen Stämme Blüte und Frucht. Perdita und Florizel finden sich, und in Italien, wohin die beiden flüchten, schließen die Bildung und der Natursinn einen neuen innigen Bund. Mau könnte, da der Verfasser einmal soweit gekommen, bequem fortfahren, vom Humanismus, der Renaissance, dem Cinquecento reden, und in der That steckt das alles und mehr in seinen Ausführungen, die damit enden, daß der Verein der jugendlich reinen Sprößlinge nun auch die Kunst aus dem langen Winter¬ schlummer ins Leben zurückruft. „Ihr müßt den Glauben wecken," sagt Paulina, nur der Glaube erschließt die Kunst. Es ist offenbar System in dieser Deutung, und es fehlt ihr nicht an Geist; nur eins hat Boas übersehen, und darin liegt das völlig Unkünstlerische seiner Anschauungsweise. Jedes Kunstwerk ist Leib und Seele, alles Konkrete erlangt unter der Hand des Künstlers die Weihe des Allgemeinen. Dies Konkrete muß aber auch für sich betrachtet Sinn, Bestand und Zusammenhalt haben, der Körper muß selbst ein organisches Ganze und kein zerrissenes und zerklüftetes Mosaikwerk sein, ja noch mehr, er muß die Idee, die er darstellt, in sich selbst durchsichtig tragen: sie darf nicht als glänzende, aber substanzlose Aureole über ihm in der Luft schweben. Gesetzt einmal, der Erklärer hätte mit seiner Inter¬ pretation Recht, so hätte er höchstens bewiesen, daß sich mit dem dramatischen Vorgang in der Schöpfung eines großen Dichters zugleich eine kunsthistorische Spielerei verbinden kann — denn weiter wäre das Resultat seiner Kombina¬ tionen doch nichts. Mit dem dramatischen Leben, mit der tragischen Erschütte¬ rung, mit der ästhetischen Befriedigung hat es nicht das mindeste zu thun. Zunächst erblicken wir im Drama immer nur das Reale, und nur, wenn uns dies, durch sich selbst, gewinnt, wenn es unaufdringlich, leise von seinen Ge¬ stalten den Schleier hebt, der sie uns im Lichte des Ewigen zeigt, nur dann empfinden wir die ganze Weihe und den Schauer des künstlerischen Symboli- sirens.» Dazu ist aber eben erforderlich, daß dem symbolischen Zeichen (wenn man so will), der einzelnen Szene, der ganzen Dichtung die Kraft der poetischen Wahrheit eigen, daß es kein widerspruchsvolles Unding sei. Die symbolreichste und symbolischste aller Dichtungen, der „Faust," ist in seinem größten Teil zugleich das in seiner Realität wahrste und plausibelste Kunstwerk. Der erste Akt (bis zu den Osterchören), Mephistopheles, die Hexe, die Reinigung der Seele des Helden durch die Elfen, die grauen Weiber, Fausts Tod — wie erfüllt ist das alles von tiefster Symbolik, und wie szenisch und dramatisch sinnvoll ist es zugleich auch ohne seinen höheren Bezug! Und ist es nicht ganz bezeichnend, daß den Dichter die dichterische Kraft überall da verläßt, wo er mit seinen Ge¬ schöpfen zugleich Fragen der Kultur- und Kunstgeschichte lösen will, die aus ihren Geschicken von selbst gar nicht hervorgehen, die vielmehr erst zwangvoll

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_151310/148>, abgerufen am 25.08.2024.