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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal.

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Zwei Shakespeare-Lssays.

Vorstelln ngen über den Zusammenhang der dargestellten Begebenheiten den herbsten
Tadel verdienen," wenn nicht auch hierin eine tiefere Bedeutung zu finden wäre.
Weil er an die Berechtigung eines solchen Tadels nicht glauben mag, wird er
nur umsomehr in dem Glauben an die Richtigkeit seiner Ansicht bestärkt, Shake¬
speare habe im "Wintermürchen" mit bewußter Absicht shmbolisirt.

Wenn Boas Recht hat, dann ist die Deutung des "Wintermärchens'' folgende.
Sicilien repräsentirt das Land und die Heimat der alten griechisch-römischen,
Böhmen "die ursprüngliche Heimat der germanischen Welt," die drei ersten
Akte zeigen uns den allmählichen Verfall der antiken Kultur, den "sechzehn
Jahren" des Zeit-Chorus hat man zwei Nullen anzuhängen; im vierten Akt
finden wir uns in einer frisch emporblühenden, lebenskräftigen, fröhlich-heitern
Naturwelt, "die, indem sie sich zur vollsten Blüte zu entfalten strebt, doch in
sich selbst ein ganzes Genügen nicht mehr findet und jenes nur dadurch vermag
daß sie die überbliebnen (sie) Reste jener alten, längst zu Grabe getragnen
Kulturwelt in sich aufnimmt" (Perdita); im fünften endlich wohnen wir dem
"Wiederaufleben einer neuen Kulturepoche" bei, "deren Wesen auf der innigen
Verschmelzung edler Geistesbildung mit einem reinen Natursinne beruht." Der
Gedanke wird bis ins Detail verfolgt. Hermione (der Erklärer erinnert daran,
daß die Tochter der Helena diesen Namen.trage) ist das Kind der Schönheit:
die Kunst. (Freilich übersieht er, wenn er ausführt, daß "die Kunst allein auch
einem Steine Leben zu verleihen vermag," wie sehr sein Vergleich hinkt. Denn
erstens ist Hermione kein Stein und zweitens macht sie im Drama nicht,
sondern sie wird, scheinbar wenigstens, selbst lebendig.) In der Ehe der Hermione
mit Leontes liegt das enge Bündnis der Kunst mit dem Leben der Antike, zugleich aber
auch die drohende Gefahr der Verfeinerung und Hyperkultur. Der unverdorbene
Natursinn (Polyxeues) steht der Kunst zwar nicht fremd gegenüber, aber eine
innigere Verbindung wie jene gehen sie nicht ein. Endlich trennen sich mit
dem Bruch der Freunde Natur und Bildung, und mit jener verläßt in der
Person des Camillo die Treue und Redlichkeit die alte Stätte, auf der für sie
kein Platz mehr ist. Jetzt nimmt die Entartung überHand, die Willkür, der
Despotismus herrscht, jede leiseste Stimme der Natur ist versiegt, und damit
auch die Zeit für die echte Kunst dahin. Die Anrufung des Apollo erhält
erhöhte Bedeutung: die Kunst fleht den Gott um Beistand an, unter dessen
unmittelbarem Schutze sie steht. Der Tod des zarten, altklugen Mcimilius (dem
u. n. der etwas komische Vorwurf gemacht wird, er vermöge die der Mutter
angethane Schande nicht "männlichen Sinnes zu ertragen" -- dies Kind!)
bezeichnet den völligen Zusammenbruch der alten Welt. Auf den Unterschied
der Schilderung Böhmens (bez. Germaniens) vor und nach dem Chorus
glaubt Boas Gewicht legen zu müssen, in der letzten Szene des dritten
Aktes ist es eine wilde, wüste Gegend, worin der Sturm wütet und
die Bären sich tummeln, im vierten das schöne Böhmen, die Stätte einer mit


Zwei Shakespeare-Lssays.

Vorstelln ngen über den Zusammenhang der dargestellten Begebenheiten den herbsten
Tadel verdienen," wenn nicht auch hierin eine tiefere Bedeutung zu finden wäre.
Weil er an die Berechtigung eines solchen Tadels nicht glauben mag, wird er
nur umsomehr in dem Glauben an die Richtigkeit seiner Ansicht bestärkt, Shake¬
speare habe im „Wintermürchen" mit bewußter Absicht shmbolisirt.

Wenn Boas Recht hat, dann ist die Deutung des „Wintermärchens'' folgende.
Sicilien repräsentirt das Land und die Heimat der alten griechisch-römischen,
Böhmen „die ursprüngliche Heimat der germanischen Welt," die drei ersten
Akte zeigen uns den allmählichen Verfall der antiken Kultur, den „sechzehn
Jahren" des Zeit-Chorus hat man zwei Nullen anzuhängen; im vierten Akt
finden wir uns in einer frisch emporblühenden, lebenskräftigen, fröhlich-heitern
Naturwelt, „die, indem sie sich zur vollsten Blüte zu entfalten strebt, doch in
sich selbst ein ganzes Genügen nicht mehr findet und jenes nur dadurch vermag
daß sie die überbliebnen (sie) Reste jener alten, längst zu Grabe getragnen
Kulturwelt in sich aufnimmt" (Perdita); im fünften endlich wohnen wir dem
„Wiederaufleben einer neuen Kulturepoche" bei, „deren Wesen auf der innigen
Verschmelzung edler Geistesbildung mit einem reinen Natursinne beruht." Der
Gedanke wird bis ins Detail verfolgt. Hermione (der Erklärer erinnert daran,
daß die Tochter der Helena diesen Namen.trage) ist das Kind der Schönheit:
die Kunst. (Freilich übersieht er, wenn er ausführt, daß „die Kunst allein auch
einem Steine Leben zu verleihen vermag," wie sehr sein Vergleich hinkt. Denn
erstens ist Hermione kein Stein und zweitens macht sie im Drama nicht,
sondern sie wird, scheinbar wenigstens, selbst lebendig.) In der Ehe der Hermione
mit Leontes liegt das enge Bündnis der Kunst mit dem Leben der Antike, zugleich aber
auch die drohende Gefahr der Verfeinerung und Hyperkultur. Der unverdorbene
Natursinn (Polyxeues) steht der Kunst zwar nicht fremd gegenüber, aber eine
innigere Verbindung wie jene gehen sie nicht ein. Endlich trennen sich mit
dem Bruch der Freunde Natur und Bildung, und mit jener verläßt in der
Person des Camillo die Treue und Redlichkeit die alte Stätte, auf der für sie
kein Platz mehr ist. Jetzt nimmt die Entartung überHand, die Willkür, der
Despotismus herrscht, jede leiseste Stimme der Natur ist versiegt, und damit
auch die Zeit für die echte Kunst dahin. Die Anrufung des Apollo erhält
erhöhte Bedeutung: die Kunst fleht den Gott um Beistand an, unter dessen
unmittelbarem Schutze sie steht. Der Tod des zarten, altklugen Mcimilius (dem
u. n. der etwas komische Vorwurf gemacht wird, er vermöge die der Mutter
angethane Schande nicht „männlichen Sinnes zu ertragen" — dies Kind!)
bezeichnet den völligen Zusammenbruch der alten Welt. Auf den Unterschied
der Schilderung Böhmens (bez. Germaniens) vor und nach dem Chorus
glaubt Boas Gewicht legen zu müssen, in der letzten Szene des dritten
Aktes ist es eine wilde, wüste Gegend, worin der Sturm wütet und
die Bären sich tummeln, im vierten das schöne Böhmen, die Stätte einer mit


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[0147] Zwei Shakespeare-Lssays. Vorstelln ngen über den Zusammenhang der dargestellten Begebenheiten den herbsten Tadel verdienen," wenn nicht auch hierin eine tiefere Bedeutung zu finden wäre. Weil er an die Berechtigung eines solchen Tadels nicht glauben mag, wird er nur umsomehr in dem Glauben an die Richtigkeit seiner Ansicht bestärkt, Shake¬ speare habe im „Wintermürchen" mit bewußter Absicht shmbolisirt. Wenn Boas Recht hat, dann ist die Deutung des „Wintermärchens'' folgende. Sicilien repräsentirt das Land und die Heimat der alten griechisch-römischen, Böhmen „die ursprüngliche Heimat der germanischen Welt," die drei ersten Akte zeigen uns den allmählichen Verfall der antiken Kultur, den „sechzehn Jahren" des Zeit-Chorus hat man zwei Nullen anzuhängen; im vierten Akt finden wir uns in einer frisch emporblühenden, lebenskräftigen, fröhlich-heitern Naturwelt, „die, indem sie sich zur vollsten Blüte zu entfalten strebt, doch in sich selbst ein ganzes Genügen nicht mehr findet und jenes nur dadurch vermag daß sie die überbliebnen (sie) Reste jener alten, längst zu Grabe getragnen Kulturwelt in sich aufnimmt" (Perdita); im fünften endlich wohnen wir dem „Wiederaufleben einer neuen Kulturepoche" bei, „deren Wesen auf der innigen Verschmelzung edler Geistesbildung mit einem reinen Natursinne beruht." Der Gedanke wird bis ins Detail verfolgt. Hermione (der Erklärer erinnert daran, daß die Tochter der Helena diesen Namen.trage) ist das Kind der Schönheit: die Kunst. (Freilich übersieht er, wenn er ausführt, daß „die Kunst allein auch einem Steine Leben zu verleihen vermag," wie sehr sein Vergleich hinkt. Denn erstens ist Hermione kein Stein und zweitens macht sie im Drama nicht, sondern sie wird, scheinbar wenigstens, selbst lebendig.) In der Ehe der Hermione mit Leontes liegt das enge Bündnis der Kunst mit dem Leben der Antike, zugleich aber auch die drohende Gefahr der Verfeinerung und Hyperkultur. Der unverdorbene Natursinn (Polyxeues) steht der Kunst zwar nicht fremd gegenüber, aber eine innigere Verbindung wie jene gehen sie nicht ein. Endlich trennen sich mit dem Bruch der Freunde Natur und Bildung, und mit jener verläßt in der Person des Camillo die Treue und Redlichkeit die alte Stätte, auf der für sie kein Platz mehr ist. Jetzt nimmt die Entartung überHand, die Willkür, der Despotismus herrscht, jede leiseste Stimme der Natur ist versiegt, und damit auch die Zeit für die echte Kunst dahin. Die Anrufung des Apollo erhält erhöhte Bedeutung: die Kunst fleht den Gott um Beistand an, unter dessen unmittelbarem Schutze sie steht. Der Tod des zarten, altklugen Mcimilius (dem u. n. der etwas komische Vorwurf gemacht wird, er vermöge die der Mutter angethane Schande nicht „männlichen Sinnes zu ertragen" — dies Kind!) bezeichnet den völligen Zusammenbruch der alten Welt. Auf den Unterschied der Schilderung Böhmens (bez. Germaniens) vor und nach dem Chorus glaubt Boas Gewicht legen zu müssen, in der letzten Szene des dritten Aktes ist es eine wilde, wüste Gegend, worin der Sturm wütet und die Bären sich tummeln, im vierten das schöne Böhmen, die Stätte einer mit

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_151310/147>, abgerufen am 23.07.2024.