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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal.

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Zwei Shakespeare - Lssays.

gefeiert habe" werde. Das ist der letzte Trumpf! Hamlet ist der Sendbote
des Reformationsgedankens! Verlohnt es sich im Ernste, hierauf und auf jene
Expektoration über das Stück hinaus naher einzugehen? Mann kann die
Leichenrede des Horatio auf sich beruhen und sich mit seinem kurzen, ergreifenden
Nachruf mehr als vollauf genüge" lassen: "Da bricht ein edles Herz. Gute
Nacht, mein Fürst! Und Engelschciaren singen dich zur Ruh!" Ein Kunstwerk
ist, uni Schillers Wort zu wiederholen, wenn auch nur in it^potluzsi, "ein in sich
selbst organisirtes Ganze." Es hat in sich selbst Anfang und Ende. Wer seine"
Rahmen durchbrechen und seiue Handlung wie ein Wirkliches weiterspinnen will,
der verwechselt das Leben mit der Kunst, die Realität mit ihrem geläuterten
Idealbild. Was der Dichter begonnen, hat er im Kunstwerk selbst auch zu
enden. Unterläßt er es, so fehlt er. Darüber hinaus giebt es für das ästhetische
Empfinden nichts. Und damit genug von der bei aller Gewissenhaftigkeit und
Noblesse der Denkart lind des Empfindens so völlig mißratenen Schrift. Freilich:
mit diesen schätzbaren Eigenschaften allein löst man kein künstlerisches Problem.

Die kleine Schrift von Boas verfährt ungleich einfacher und radikaler als
die von Besser. Ihr Autor bohrt sich nicht in die Schachte des Dramas ein,
um sich wider Willen in ihnen zu verfangen, er schwingt sich phantasievoll
über sie hinweg und schafft sich in den Lüsten sein ideales Wolkenkukuksheim.
Es soll nicht geleugnet werden, daß dies mit Geschick geschieht, das Schlimme
ist nur, daß mau auf den Spuren von Boas sicher dazu gelangen würde, auf
den äußern Konnex einer dramatischen Handlung mit Gemütsruhe zu verzichte",
wen" sich nur die einzelnen Teile in eine Gedankenverbindung bringen lassen.
Das äußerlich Ungereimteste und Widerspruchsvollste dürfte ertragen werden,
wenn es sich nur als das Symbol einer Idee darstellte. Daß diese aus der
Handlung selbst sofort erkennbar hiudurchlcuchten müsse, verlangt der Erklärer
augenscheinlich nicht, es genügt ihm, wenn sie sich künstlich aus ihr entwickeln
läßt, und es bedeutet ihm nichts, daß wir auf diese Weise, je nachdem wir die
dramatische Handlung als solche oder die aus ihr abgelöste Idee betrachten,
die Wahl zwischen einem Körper ohne Seele und einer Seele ohne einen
passenden Körper haben. Es sei hier gleich vorangeschickt, daß Boas das
"Wintermärchen," wenn ma" ihm seinen symbolischen Charakter nicht zugestehe"
will, für zusammenhangslos in den äußern Teilen und die Szene des so¬
genannten "Wiedererwachens" der Hermione für dramatisch überflüssig hält,
daß ihm (wir uns) das Spiel, das diese i" der erwähnten Szene mit dem
Gatten treibt, ohne symbolische Deutung verletzend und dem menschlich-natür¬
lichen Gefühl zuwider erscheint, kurz, daß ihm das Drama, lediglich als solches
betrachtet, an einem Komplex von Widersprüchen und psychologischen Unmög¬
lichkeiten krankt. Selbst die Nennung des Giulio Romano als des Schöpfers
der Statue (ein ziemlich bedeutungsloser Anachronismus) würde nach Boas'
Meinung "wegen der dadurch hervorgerufenen Verwirrung und Unklarheit aller


Zwei Shakespeare - Lssays.

gefeiert habe» werde. Das ist der letzte Trumpf! Hamlet ist der Sendbote
des Reformationsgedankens! Verlohnt es sich im Ernste, hierauf und auf jene
Expektoration über das Stück hinaus naher einzugehen? Mann kann die
Leichenrede des Horatio auf sich beruhen und sich mit seinem kurzen, ergreifenden
Nachruf mehr als vollauf genüge» lassen: „Da bricht ein edles Herz. Gute
Nacht, mein Fürst! Und Engelschciaren singen dich zur Ruh!" Ein Kunstwerk
ist, uni Schillers Wort zu wiederholen, wenn auch nur in it^potluzsi, „ein in sich
selbst organisirtes Ganze." Es hat in sich selbst Anfang und Ende. Wer seine»
Rahmen durchbrechen und seiue Handlung wie ein Wirkliches weiterspinnen will,
der verwechselt das Leben mit der Kunst, die Realität mit ihrem geläuterten
Idealbild. Was der Dichter begonnen, hat er im Kunstwerk selbst auch zu
enden. Unterläßt er es, so fehlt er. Darüber hinaus giebt es für das ästhetische
Empfinden nichts. Und damit genug von der bei aller Gewissenhaftigkeit und
Noblesse der Denkart lind des Empfindens so völlig mißratenen Schrift. Freilich:
mit diesen schätzbaren Eigenschaften allein löst man kein künstlerisches Problem.

Die kleine Schrift von Boas verfährt ungleich einfacher und radikaler als
die von Besser. Ihr Autor bohrt sich nicht in die Schachte des Dramas ein,
um sich wider Willen in ihnen zu verfangen, er schwingt sich phantasievoll
über sie hinweg und schafft sich in den Lüsten sein ideales Wolkenkukuksheim.
Es soll nicht geleugnet werden, daß dies mit Geschick geschieht, das Schlimme
ist nur, daß mau auf den Spuren von Boas sicher dazu gelangen würde, auf
den äußern Konnex einer dramatischen Handlung mit Gemütsruhe zu verzichte»,
wen» sich nur die einzelnen Teile in eine Gedankenverbindung bringen lassen.
Das äußerlich Ungereimteste und Widerspruchsvollste dürfte ertragen werden,
wenn es sich nur als das Symbol einer Idee darstellte. Daß diese aus der
Handlung selbst sofort erkennbar hiudurchlcuchten müsse, verlangt der Erklärer
augenscheinlich nicht, es genügt ihm, wenn sie sich künstlich aus ihr entwickeln
läßt, und es bedeutet ihm nichts, daß wir auf diese Weise, je nachdem wir die
dramatische Handlung als solche oder die aus ihr abgelöste Idee betrachten,
die Wahl zwischen einem Körper ohne Seele und einer Seele ohne einen
passenden Körper haben. Es sei hier gleich vorangeschickt, daß Boas das
„Wintermärchen," wenn ma» ihm seinen symbolischen Charakter nicht zugestehe»
will, für zusammenhangslos in den äußern Teilen und die Szene des so¬
genannten „Wiedererwachens" der Hermione für dramatisch überflüssig hält,
daß ihm (wir uns) das Spiel, das diese i» der erwähnten Szene mit dem
Gatten treibt, ohne symbolische Deutung verletzend und dem menschlich-natür¬
lichen Gefühl zuwider erscheint, kurz, daß ihm das Drama, lediglich als solches
betrachtet, an einem Komplex von Widersprüchen und psychologischen Unmög¬
lichkeiten krankt. Selbst die Nennung des Giulio Romano als des Schöpfers
der Statue (ein ziemlich bedeutungsloser Anachronismus) würde nach Boas'
Meinung „wegen der dadurch hervorgerufenen Verwirrung und Unklarheit aller


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_151310/146>, abgerufen am 23.07.2024.