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Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal.

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Zwei Shakespeare-Lssays.

und doch spricht sie allein ihrem Verfasser die Berechtigung zur Kritik ab. Wie
Recht hatte Schiller, als er in einem Briefe an E, G, Schütz vom 22, Januar
1802 von einer Rezension seiner "Jungfrau von Orleans" sagte: "Sie zeigt
einen fähigen Verfasser, und ich habe Ursache, mit den guten Gesinnungen, die
derselbe für mich und mein Gedicht hegt, sehr zufrieden zu sein. Aber ich muß
denn doch zur Steuer der Wahrheit gestehen, daß die Forderungen, die der
Leser an einen Rezensenten machen kann, keineswegs darin erfüllt sind... Ein
poetisches Werk muß, insofern es, auch nur in K^xotneÄ, ein in sich selbst or-
ganisirtes Ganze ist, aus sich selbst heraus, und nicht aus allgemeinen und
darum hohlen Formeln beurteilt werden; denn von diesen ist nie ein Übergang
zu dem Faktum." Es ist das Grundübel des Besserschen Aufsatzes, gegen diese
klar ausgcsprochne Regel auf Schritt und Tritt zu fehlen.

Was ist nun die große Neuheit, deren vermeintliche Entdeckung den Ver¬
fasser so geblendet hat, daß er ihr verfallen ist, was ist der Kern seiner
Deduktion? Er geht davon aus, daß die dem Hamlet obliegende Aufgabe nicht
nur das Nachegebot, sondern noch ein weiteres enthalte: die Mahnung, nichts
gegen die Mutter zu unternehmen und (der Verfasser macht hieraus den zweiten,
aus dem folgenden den dritten Teil der Aufgabe) dieselbe dem ewigen Richter
und der Selbstregung ihres Gewissens zu überlassen. Dem kann man unbedingt
zustimmen, wenn auch nicht in dem pointirter Sinne, den Besser der betreffen¬
den Stelle in den Worten des Geistes unterlegt. Er sieht nämlich in all
diesen Forderungen einen Verstoß gegen die Sittlichkeit, verwirft die Rache als
unmoralisch, betont, daß auch die Rechtsidee Schaden leide, wenn die Mutter
straflos ausgehe, und hält es für unvereinbar mit allein wahrhaft sittlichen
Wesen, daß dem Sohn aufgetragen werde, sich um das Seelenheil derer, die
ihn geboren, nicht zu kümmern. Nach Besser darf darum Hamlet das Gebot
des Geistes buchstäblich garnicht erfüllen, und die eigentliche ihm erwachsende
Schwierigkeit bestünde darin, es gewissermaßen zuerst zu umgehen, um es dann
in höherem sittlichen Sinne zu lösen, seine Größe aber, diesen Kampf siegreich
zu enden und nicht als Rächer, sondern als Richter aus dem Wirrsal der
Begebenheiten hervorzugehen. Das könnte trotz der Unklarheit, die diesem Begriff
der sittlichen Winkelzüge anhaftet, immer noch leidlich erscheinen, aber wie schief
es darum steht, das wird, sobald Besser seine Beweismittel beibringt, bedenklich
klar. Zunächst muß Hamlets Vater den hohen, heiligen Platz, den er in den
Vorstellungen und im Herzen des Sohnes einnimmt, räumen. Die ganz
selbstverständliche Thatsache, daß der alte König nicht wie ein Heiliger gelebt
hat und gestorben ist, sondern daß auch er nach der katholischen Vorstellung
im Fegefeuer zu schmachten hat, "bis die Verbrechen seiner Zeitlichkeit hinweg¬
geläutert sind," deutet Besser im übelsten Sinne. "Erfährt er (Hamlet) auch
nicht," heißt es, "welcher Art seine (des Geistes) Übelthaten gewesen sind, und
darf er gewiß sein, daß sie nicht die entfernteste Ähnlichkeit mit dem raffinirt


Zwei Shakespeare-Lssays.

und doch spricht sie allein ihrem Verfasser die Berechtigung zur Kritik ab. Wie
Recht hatte Schiller, als er in einem Briefe an E, G, Schütz vom 22, Januar
1802 von einer Rezension seiner „Jungfrau von Orleans" sagte: „Sie zeigt
einen fähigen Verfasser, und ich habe Ursache, mit den guten Gesinnungen, die
derselbe für mich und mein Gedicht hegt, sehr zufrieden zu sein. Aber ich muß
denn doch zur Steuer der Wahrheit gestehen, daß die Forderungen, die der
Leser an einen Rezensenten machen kann, keineswegs darin erfüllt sind... Ein
poetisches Werk muß, insofern es, auch nur in K^xotneÄ, ein in sich selbst or-
ganisirtes Ganze ist, aus sich selbst heraus, und nicht aus allgemeinen und
darum hohlen Formeln beurteilt werden; denn von diesen ist nie ein Übergang
zu dem Faktum." Es ist das Grundübel des Besserschen Aufsatzes, gegen diese
klar ausgcsprochne Regel auf Schritt und Tritt zu fehlen.

Was ist nun die große Neuheit, deren vermeintliche Entdeckung den Ver¬
fasser so geblendet hat, daß er ihr verfallen ist, was ist der Kern seiner
Deduktion? Er geht davon aus, daß die dem Hamlet obliegende Aufgabe nicht
nur das Nachegebot, sondern noch ein weiteres enthalte: die Mahnung, nichts
gegen die Mutter zu unternehmen und (der Verfasser macht hieraus den zweiten,
aus dem folgenden den dritten Teil der Aufgabe) dieselbe dem ewigen Richter
und der Selbstregung ihres Gewissens zu überlassen. Dem kann man unbedingt
zustimmen, wenn auch nicht in dem pointirter Sinne, den Besser der betreffen¬
den Stelle in den Worten des Geistes unterlegt. Er sieht nämlich in all
diesen Forderungen einen Verstoß gegen die Sittlichkeit, verwirft die Rache als
unmoralisch, betont, daß auch die Rechtsidee Schaden leide, wenn die Mutter
straflos ausgehe, und hält es für unvereinbar mit allein wahrhaft sittlichen
Wesen, daß dem Sohn aufgetragen werde, sich um das Seelenheil derer, die
ihn geboren, nicht zu kümmern. Nach Besser darf darum Hamlet das Gebot
des Geistes buchstäblich garnicht erfüllen, und die eigentliche ihm erwachsende
Schwierigkeit bestünde darin, es gewissermaßen zuerst zu umgehen, um es dann
in höherem sittlichen Sinne zu lösen, seine Größe aber, diesen Kampf siegreich
zu enden und nicht als Rächer, sondern als Richter aus dem Wirrsal der
Begebenheiten hervorzugehen. Das könnte trotz der Unklarheit, die diesem Begriff
der sittlichen Winkelzüge anhaftet, immer noch leidlich erscheinen, aber wie schief
es darum steht, das wird, sobald Besser seine Beweismittel beibringt, bedenklich
klar. Zunächst muß Hamlets Vater den hohen, heiligen Platz, den er in den
Vorstellungen und im Herzen des Sohnes einnimmt, räumen. Die ganz
selbstverständliche Thatsache, daß der alte König nicht wie ein Heiliger gelebt
hat und gestorben ist, sondern daß auch er nach der katholischen Vorstellung
im Fegefeuer zu schmachten hat, „bis die Verbrechen seiner Zeitlichkeit hinweg¬
geläutert sind," deutet Besser im übelsten Sinne. „Erfährt er (Hamlet) auch
nicht," heißt es, „welcher Art seine (des Geistes) Übelthaten gewesen sind, und
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[0142] Zwei Shakespeare-Lssays. und doch spricht sie allein ihrem Verfasser die Berechtigung zur Kritik ab. Wie Recht hatte Schiller, als er in einem Briefe an E, G, Schütz vom 22, Januar 1802 von einer Rezension seiner „Jungfrau von Orleans" sagte: „Sie zeigt einen fähigen Verfasser, und ich habe Ursache, mit den guten Gesinnungen, die derselbe für mich und mein Gedicht hegt, sehr zufrieden zu sein. Aber ich muß denn doch zur Steuer der Wahrheit gestehen, daß die Forderungen, die der Leser an einen Rezensenten machen kann, keineswegs darin erfüllt sind... Ein poetisches Werk muß, insofern es, auch nur in K^xotneÄ, ein in sich selbst or- ganisirtes Ganze ist, aus sich selbst heraus, und nicht aus allgemeinen und darum hohlen Formeln beurteilt werden; denn von diesen ist nie ein Übergang zu dem Faktum." Es ist das Grundübel des Besserschen Aufsatzes, gegen diese klar ausgcsprochne Regel auf Schritt und Tritt zu fehlen. Was ist nun die große Neuheit, deren vermeintliche Entdeckung den Ver¬ fasser so geblendet hat, daß er ihr verfallen ist, was ist der Kern seiner Deduktion? Er geht davon aus, daß die dem Hamlet obliegende Aufgabe nicht nur das Nachegebot, sondern noch ein weiteres enthalte: die Mahnung, nichts gegen die Mutter zu unternehmen und (der Verfasser macht hieraus den zweiten, aus dem folgenden den dritten Teil der Aufgabe) dieselbe dem ewigen Richter und der Selbstregung ihres Gewissens zu überlassen. Dem kann man unbedingt zustimmen, wenn auch nicht in dem pointirter Sinne, den Besser der betreffen¬ den Stelle in den Worten des Geistes unterlegt. Er sieht nämlich in all diesen Forderungen einen Verstoß gegen die Sittlichkeit, verwirft die Rache als unmoralisch, betont, daß auch die Rechtsidee Schaden leide, wenn die Mutter straflos ausgehe, und hält es für unvereinbar mit allein wahrhaft sittlichen Wesen, daß dem Sohn aufgetragen werde, sich um das Seelenheil derer, die ihn geboren, nicht zu kümmern. Nach Besser darf darum Hamlet das Gebot des Geistes buchstäblich garnicht erfüllen, und die eigentliche ihm erwachsende Schwierigkeit bestünde darin, es gewissermaßen zuerst zu umgehen, um es dann in höherem sittlichen Sinne zu lösen, seine Größe aber, diesen Kampf siegreich zu enden und nicht als Rächer, sondern als Richter aus dem Wirrsal der Begebenheiten hervorzugehen. Das könnte trotz der Unklarheit, die diesem Begriff der sittlichen Winkelzüge anhaftet, immer noch leidlich erscheinen, aber wie schief es darum steht, das wird, sobald Besser seine Beweismittel beibringt, bedenklich klar. Zunächst muß Hamlets Vater den hohen, heiligen Platz, den er in den Vorstellungen und im Herzen des Sohnes einnimmt, räumen. Die ganz selbstverständliche Thatsache, daß der alte König nicht wie ein Heiliger gelebt hat und gestorben ist, sondern daß auch er nach der katholischen Vorstellung im Fegefeuer zu schmachten hat, „bis die Verbrechen seiner Zeitlichkeit hinweg¬ geläutert sind," deutet Besser im übelsten Sinne. „Erfährt er (Hamlet) auch nicht," heißt es, „welcher Art seine (des Geistes) Übelthaten gewesen sind, und darf er gewiß sein, daß sie nicht die entfernteste Ähnlichkeit mit dem raffinirt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341837_151310/142>, abgerufen am 23.07.2024.