Die Grenzboten. Jg. 42, 1883, Erstes Quartal.Die Grafen von Altenschroerdt. war ein Gedanke, der nicht die Macht zu haben schien, in den Verstand einzu¬ Er blickte schwermutsvoll zum Himmel auf, wo in unhörbnrem Zuge die Vor seiner Erinnerung tauchte das liebliche gütige Antlitz in seiner vollen Ein vorwurfsvoller Gedanke drang schneidend durch sein Herz. Hatte er Mit solchen Gedanken und mit Anklagen gegen sich selbst, die in seiner tiefen Grenzboten I. 1SS3. t't
Die Grafen von Altenschroerdt. war ein Gedanke, der nicht die Macht zu haben schien, in den Verstand einzu¬ Er blickte schwermutsvoll zum Himmel auf, wo in unhörbnrem Zuge die Vor seiner Erinnerung tauchte das liebliche gütige Antlitz in seiner vollen Ein vorwurfsvoller Gedanke drang schneidend durch sein Herz. Hatte er Mit solchen Gedanken und mit Anklagen gegen sich selbst, die in seiner tiefen Grenzboten I. 1SS3. t't
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0113" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/151536"/> <fw type="header" place="top"> Die Grafen von Altenschroerdt.</fw><lb/> <p xml:id="ID_344" prev="#ID_343"> war ein Gedanke, der nicht die Macht zu haben schien, in den Verstand einzu¬<lb/> dringen. Die Empfindung sträubte sich gegen die Wahrheit einer so schmerz¬<lb/> lichen Botschaft,</p><lb/> <p xml:id="ID_345"> Er blickte schwermutsvoll zum Himmel auf, wo in unhörbnrem Zuge die<lb/> Wolken sich drängten, den silbernen Glanz des Nachtgestirns bald verhüllend<lb/> und bald entschleiernd, und indem er sich bewußt ward, daß dies dieselbe Luft<lb/> sei, die das weiße Haus am Hudson umströmte, und dasselbe Licht, das auf ihn<lb/> und die Mutter einst herabschien in den stillen Garten, quollen Thränen aus<lb/> seinen Augen.</p><lb/> <p xml:id="ID_346"> Vor seiner Erinnerung tauchte das liebliche gütige Antlitz in seiner vollen<lb/> mütterlichen Anmut auf, das den Knaben von den ersten Tagen seines Denkens<lb/> und Fühlens an geleitet hatte, als ein irdisches Abbild jener ewigen und gött¬<lb/> lichen Liebe, die unsichtbar das menschliche Herz zum Schönen und Guten zieht.<lb/> Alle jene zahllosen Beweise einer Freundlichkeit und Geduld, die nie müde ward,<lb/> und einer Wahrhaftigkeit, die krystallhell und unerschütterlich der kindlichen Seele<lb/> vorleuchtete, stellten sich, wie in einem einzigen lichten Punkte vereinigt, vor<lb/> seinem innern Schauen auf und bewegten jetzt, wo sie wie durch einen dunkeln<lb/> Abgrund entfernt erschienen, das Gemüt des Sohnes mit unendlich ver¬<lb/> mehrter Kraft.</p><lb/> <p xml:id="ID_347"> Ein vorwurfsvoller Gedanke drang schneidend durch sein Herz. Hatte er<lb/> nicht lieblos gehandelt, daß er seine Mutter allein und verlassen hatte sterben<lb/> lassen? Aber freilich, er hatte ja nicht gewußt, daß es so spät sei, daß ihr<lb/> Lebensabend sich neige. Nicht gewußt! Und würde sie, die Entschlafene, es<lb/> wohl auch nicht gewußt haben, wenn ihm, dem Sohne, der Tod nahe gewesen<lb/> wäre! O gewiß, sie hätte es gewußt! Die Mutterliebe wäre durch keine schein¬<lb/> bare Gesundheit und Heiterkeit, durch keine Betrachtung kalter Vernunft zu be¬<lb/> trügen gewesen! War doch keine Not je an ihn herangetreten, so lange er bei<lb/> ihr weilte, von der sie nicht genaue Kenntnis gehabt hätte. Aber er hatte auf<lb/> die Stimme des Verstandes, vielleicht des Ehrgeizes, gehört, hatte dem Drängen<lb/> eines unruhigen Geistes nachgegeben, der die Stille des Shakerdorfes beengend<lb/> fand und nach dem Kampfe Enropas sich sehnte. Wenn seine Liebe zum Vater¬<lb/> lande so heiß war, durfte er die Liebe zu ihr hintansetzen, die ihm alles war<lb/> und selbst so einsam lebte, in der Fremde, mit niemand zur Seite, der ihr<lb/> so nahe stand als ihr Sohn? Waren sie nicht treue Genossen gewesen, Mutter<lb/> und Sohn, seit jener längst verflossnen Zeit, wo er als Kind freilich in glück¬<lb/> licher Unwissenheit, hineinlächelte in die trübe verhängte Zukunft, sie aber in<lb/> tiefster Seele verwundet ward durch den schärfsten Stahl mit vergifteter Spitze?</p><lb/> <p xml:id="ID_348" next="#ID_349"> Mit solchen Gedanken und mit Anklagen gegen sich selbst, die in seiner tiefen<lb/> Liebe zu der Mutter ihren Ursprung hatten, irrte Eberhardt lange am öden<lb/> Strande umher, bis endlich doch auf sein peinvoll erregtes Gemüt die gewaltige<lb/> Natur, die ihn umgab, ihre mächtige Wirkung übte und ihr stillender Einfluß</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten I. 1SS3. t't</fw><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0113]
Die Grafen von Altenschroerdt.
war ein Gedanke, der nicht die Macht zu haben schien, in den Verstand einzu¬
dringen. Die Empfindung sträubte sich gegen die Wahrheit einer so schmerz¬
lichen Botschaft,
Er blickte schwermutsvoll zum Himmel auf, wo in unhörbnrem Zuge die
Wolken sich drängten, den silbernen Glanz des Nachtgestirns bald verhüllend
und bald entschleiernd, und indem er sich bewußt ward, daß dies dieselbe Luft
sei, die das weiße Haus am Hudson umströmte, und dasselbe Licht, das auf ihn
und die Mutter einst herabschien in den stillen Garten, quollen Thränen aus
seinen Augen.
Vor seiner Erinnerung tauchte das liebliche gütige Antlitz in seiner vollen
mütterlichen Anmut auf, das den Knaben von den ersten Tagen seines Denkens
und Fühlens an geleitet hatte, als ein irdisches Abbild jener ewigen und gött¬
lichen Liebe, die unsichtbar das menschliche Herz zum Schönen und Guten zieht.
Alle jene zahllosen Beweise einer Freundlichkeit und Geduld, die nie müde ward,
und einer Wahrhaftigkeit, die krystallhell und unerschütterlich der kindlichen Seele
vorleuchtete, stellten sich, wie in einem einzigen lichten Punkte vereinigt, vor
seinem innern Schauen auf und bewegten jetzt, wo sie wie durch einen dunkeln
Abgrund entfernt erschienen, das Gemüt des Sohnes mit unendlich ver¬
mehrter Kraft.
Ein vorwurfsvoller Gedanke drang schneidend durch sein Herz. Hatte er
nicht lieblos gehandelt, daß er seine Mutter allein und verlassen hatte sterben
lassen? Aber freilich, er hatte ja nicht gewußt, daß es so spät sei, daß ihr
Lebensabend sich neige. Nicht gewußt! Und würde sie, die Entschlafene, es
wohl auch nicht gewußt haben, wenn ihm, dem Sohne, der Tod nahe gewesen
wäre! O gewiß, sie hätte es gewußt! Die Mutterliebe wäre durch keine schein¬
bare Gesundheit und Heiterkeit, durch keine Betrachtung kalter Vernunft zu be¬
trügen gewesen! War doch keine Not je an ihn herangetreten, so lange er bei
ihr weilte, von der sie nicht genaue Kenntnis gehabt hätte. Aber er hatte auf
die Stimme des Verstandes, vielleicht des Ehrgeizes, gehört, hatte dem Drängen
eines unruhigen Geistes nachgegeben, der die Stille des Shakerdorfes beengend
fand und nach dem Kampfe Enropas sich sehnte. Wenn seine Liebe zum Vater¬
lande so heiß war, durfte er die Liebe zu ihr hintansetzen, die ihm alles war
und selbst so einsam lebte, in der Fremde, mit niemand zur Seite, der ihr
so nahe stand als ihr Sohn? Waren sie nicht treue Genossen gewesen, Mutter
und Sohn, seit jener längst verflossnen Zeit, wo er als Kind freilich in glück¬
licher Unwissenheit, hineinlächelte in die trübe verhängte Zukunft, sie aber in
tiefster Seele verwundet ward durch den schärfsten Stahl mit vergifteter Spitze?
Mit solchen Gedanken und mit Anklagen gegen sich selbst, die in seiner tiefen
Liebe zu der Mutter ihren Ursprung hatten, irrte Eberhardt lange am öden
Strande umher, bis endlich doch auf sein peinvoll erregtes Gemüt die gewaltige
Natur, die ihn umgab, ihre mächtige Wirkung übte und ihr stillender Einfluß
Grenzboten I. 1SS3. t't
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