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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal.

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Ariliklosiykeit.

Stellen kaum Notiz, wo man doch glaubt, das literarische Leben der Nation
i" seiner ganzen Ausbreitung und Erscheimmgsfttlle zu übersehen. Man hat sich
mit wichtigeren Strömungen als mit der "Nachromantik" zu beschäftigen und
ahnt gar nicht, daß diese Nachromantik ihrerseits inzwischen verzweifelt realistisch
geworden ist und, wie ein Blick in Jansens "Deutsche Geschichte" belehren kann,
sehr methodisch vorgeht.

Ans gut Glück haben wir ein paar Beispiele herausgegriffen. Daß sich
dieselben stark vervielfältigen ließen, ist keinem wirklichen Freunde der deutschen
Literatur verborgen. Die Zahl dieser Freunde wird als unablässig abnehmend
betrachtet. Wenn sie es ist, so trägt daran die herrschende Kritiklosigkeit, und
hier meinen wir die des Publikums selbst so gut als die der Zeitungen, einen
Teil der Schuld. Der Fall ist wohl denkbar, daß ganze Gruppen wirklicher
Leser, empfänglicher Naturen nach und nach zurückgescheucht wordeu sind, da
ihnen fort und fort wahllos die mittelmäßigsten und nichtigsten Produkte als
Wunder was für Leistungen ausgeredet wurden und "och werden. Mail braucht
nur die Reclame zu betrachten, welche für einzelne Werke (auch für wirklich gute
Schöpfungen, die es nicht nötig hatten, wenigstens nicht haben sollten!) in Scene
gesetzt wird, um zu wissen, daß das gebildete Publikum bis zur Stunde völlig passiv
einem Treiben gegenübersteht, welches darauf berechnet ist, jedes eigentliche Urteil
mit der Zeit auszuschließen. Liese nicht tief unter der äußerlich sichtbaren Flut
der Tageskritik, der Tagcsstimmung und des Tageserfolgs eine unsichtbare,
aber starke Strömung privaten Urteils, von Mund zu Munde ver¬
mittelter Kritik, so wäre der gegenwärtige Zustand unserer Literatur jedenfalls
noch weit heilloser, als er es ist. Das Beste, was man der deutschen Literatur
wünschen kann, bleibt, daß dies private Urteil gebildeter lind noch wahrhaften
Anteil nehmender Minoritäten wiederum zum öffentlichen Ausdruck komme und
der Anarchie der Kritiklosigkeit in doppeltem Sinne, nach oben und unten, ent¬
gegentrete. Nach oben, indem es sich gegen die kritiklose Scheinkritik erhebt,
deren Zweck einfach die persönliche Verherrlichung des Kritikers ist und deren
letztes Ziel der Krieg aller gegen alle und die gegenseitige Zerfleischung sein
würde, wie sie ja auf ein paar wissenschaftlichen Gebieten schon seit längerer
Zeit trefflich im Gange ist. Nach unter, indem sich die thatsächlich noch vor-
hmidne Bildung kräftig gegen die .Herrschaft der hohlen phrasenhaften Reclame
der Litcraturvertrctnng durch Leute erhebt, deren ganze Litcraturkeuutuiß nicht
über gestern zurück und über das Weichbild von einem halben Dutzend Zeitungen
hinausreicht, indem man anfängt, die Consequenz und Zuverlässigkeit bestimmter
Wortführer aufs schärfste ins Auge zu fassen. Publikum und Produktion würden
sich gleichmäßig gut dabei stehen, wenn das Zeitalter der literarischen Kritiklosigkeit
seinem Ende zuneigte. Gewisse Anzeichen lassen es hoffen!




GvenzboU'n I. 188S.
Ariliklosiykeit.

Stellen kaum Notiz, wo man doch glaubt, das literarische Leben der Nation
i» seiner ganzen Ausbreitung und Erscheimmgsfttlle zu übersehen. Man hat sich
mit wichtigeren Strömungen als mit der „Nachromantik" zu beschäftigen und
ahnt gar nicht, daß diese Nachromantik ihrerseits inzwischen verzweifelt realistisch
geworden ist und, wie ein Blick in Jansens „Deutsche Geschichte" belehren kann,
sehr methodisch vorgeht.

Ans gut Glück haben wir ein paar Beispiele herausgegriffen. Daß sich
dieselben stark vervielfältigen ließen, ist keinem wirklichen Freunde der deutschen
Literatur verborgen. Die Zahl dieser Freunde wird als unablässig abnehmend
betrachtet. Wenn sie es ist, so trägt daran die herrschende Kritiklosigkeit, und
hier meinen wir die des Publikums selbst so gut als die der Zeitungen, einen
Teil der Schuld. Der Fall ist wohl denkbar, daß ganze Gruppen wirklicher
Leser, empfänglicher Naturen nach und nach zurückgescheucht wordeu sind, da
ihnen fort und fort wahllos die mittelmäßigsten und nichtigsten Produkte als
Wunder was für Leistungen ausgeredet wurden und »och werden. Mail braucht
nur die Reclame zu betrachten, welche für einzelne Werke (auch für wirklich gute
Schöpfungen, die es nicht nötig hatten, wenigstens nicht haben sollten!) in Scene
gesetzt wird, um zu wissen, daß das gebildete Publikum bis zur Stunde völlig passiv
einem Treiben gegenübersteht, welches darauf berechnet ist, jedes eigentliche Urteil
mit der Zeit auszuschließen. Liese nicht tief unter der äußerlich sichtbaren Flut
der Tageskritik, der Tagcsstimmung und des Tageserfolgs eine unsichtbare,
aber starke Strömung privaten Urteils, von Mund zu Munde ver¬
mittelter Kritik, so wäre der gegenwärtige Zustand unserer Literatur jedenfalls
noch weit heilloser, als er es ist. Das Beste, was man der deutschen Literatur
wünschen kann, bleibt, daß dies private Urteil gebildeter lind noch wahrhaften
Anteil nehmender Minoritäten wiederum zum öffentlichen Ausdruck komme und
der Anarchie der Kritiklosigkeit in doppeltem Sinne, nach oben und unten, ent¬
gegentrete. Nach oben, indem es sich gegen die kritiklose Scheinkritik erhebt,
deren Zweck einfach die persönliche Verherrlichung des Kritikers ist und deren
letztes Ziel der Krieg aller gegen alle und die gegenseitige Zerfleischung sein
würde, wie sie ja auf ein paar wissenschaftlichen Gebieten schon seit längerer
Zeit trefflich im Gange ist. Nach unter, indem sich die thatsächlich noch vor-
hmidne Bildung kräftig gegen die .Herrschaft der hohlen phrasenhaften Reclame
der Litcraturvertrctnng durch Leute erhebt, deren ganze Litcraturkeuutuiß nicht
über gestern zurück und über das Weichbild von einem halben Dutzend Zeitungen
hinausreicht, indem man anfängt, die Consequenz und Zuverlässigkeit bestimmter
Wortführer aufs schärfste ins Auge zu fassen. Publikum und Produktion würden
sich gleichmäßig gut dabei stehen, wenn das Zeitalter der literarischen Kritiklosigkeit
seinem Ende zuneigte. Gewisse Anzeichen lassen es hoffen!




GvenzboU'n I. 188S.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804/49>, abgerufen am 22.07.2024.