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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal.

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Kritiklosigkeit,

den man Von Platen, Uhland lind Rückert entnnnmt, noch Geltung hat, da
darf das herbe Urteil vom Mangel der sittlichen Würde stehen. Aber wo man
die Schauspiele des Herrn Hugo Burger als geistvolle Spiegelbilder modernen
Lebens und Empfindens bewundert, wo man das "Herrenrecht" und die "Ver¬
liebten Wagnerianer" Spitzers als Blüten der modernsten Novellistik feiert, wo
die "pikanten" Feuilletons in Ansehen stehen und Herr Arnold Wettiner für
einen um die historische Wahrheit verdienten Memoirenschriftsteller gilt, da sollte
man doch billigerweise über Franz Dingelstedt nicht so zu Gericht sitzen. Diese
Erhabenheit ist einfach kritiklos, und kritiklos ists auch vom Publikum, dergleichen
ernsthaft hinzunehmen und sich Wohl gar einzubilden, daß da wieder einmal ein
"treffendes Wort" gesagt worden sei.

Die Kritiklosigkeit wird durch tausend moderne Angewohnheiten gefordert,
unter denen diejenige die schlimmste ist, die Literatur jeden Tag "neu" anheben
zu lassen. Es war gewiß ein unerfreulicher und dabei durch und durch falscher
Gedanke des seligen Gervinus, der deutschen Literatur mit dem Jahre 1832 das
Recht zur Weiterentwicklung abzusprechen. Aber der Wahrheit, daß uur gewisse
Zeiten den produktiven Geist rein fördern und in glorreiche Bahnen drängen,
daß ohne einen großen idealen Zug innerhalb der Gesellschaft keine höchsten
Kunstwerke entstehen können, stand der Literarhistoriker mit aller Morvsitnt doch
näher als die Verkünder der Modernität, nach denen es genügt, poetische Illu¬
strationen zu irgeud einer Modephilosophie zu liefern oder sich mit einer kleinen
Originalität (Spezialität) endlos zu wiederholen, um als Bahnbrecher einer
"neuesten" Literaturära gepriesen zu werden. Zur Zeit ist das Bahnbrecher
an den "pessimistischen" Lyrikern und Didaktikern, von denen in ühulicher
Weise eine Umwälzung der gesammten geistigen und sittlichen Grundlagen unsrer
Dichtung ausgehen soll, wie dies anfangs der vierziger Jahre von den poli¬
tischen Lyrikern verkündet wurde. Da mau, wenn man sich auch sonst um die
ganze Geschichte unsrer Literatur nicht kümmern will, doch wenigstens wissen
könnte, daß die damalige Herrlichkeit ausgegangen ist wie das Hornberger Schießen,
so ist es doch baare Kritiklosigkeit, immer wieder im höchsten Tone von Er¬
scheinungen und Bestrebungen zu orakeln, von denen mindestens erst abge¬
wartet werden muß, ob sie entwicklungsfähig im höhern Wortsinne sind.

Kritiklosigkeit, und zwar Kritiklosigkeit der unbegreiflichsten Art giebt sich
aber, wie in der Überschätzung kleiner und nichtiger Richtungen, auch in der
gänzlichen Nichtbeachtung großer und wichtiger Wandlungen in den geistigen
Zuständen kund. Das Anwachsen einer spezifisch katholischen und zwar im äußersten
Sinne katholischen Literatur, ein Anwachsen, welches bereits seit vielen Jahr¬
zehnten ersichtlich ist, kommt der herrschenden Feuilletvnkritik höchsteus dann
einmal zum Bewußtsein, wenn es sich um eine witzige Feuilletonnotiz, eine Bur¬
leske handelt. Von der Stärke und Bedeutung und von den möglichen Ein¬
wirkungen der riesig anschwellenden ultramontanen Belletristik nimmt man an


Kritiklosigkeit,

den man Von Platen, Uhland lind Rückert entnnnmt, noch Geltung hat, da
darf das herbe Urteil vom Mangel der sittlichen Würde stehen. Aber wo man
die Schauspiele des Herrn Hugo Burger als geistvolle Spiegelbilder modernen
Lebens und Empfindens bewundert, wo man das „Herrenrecht" und die „Ver¬
liebten Wagnerianer" Spitzers als Blüten der modernsten Novellistik feiert, wo
die „pikanten" Feuilletons in Ansehen stehen und Herr Arnold Wettiner für
einen um die historische Wahrheit verdienten Memoirenschriftsteller gilt, da sollte
man doch billigerweise über Franz Dingelstedt nicht so zu Gericht sitzen. Diese
Erhabenheit ist einfach kritiklos, und kritiklos ists auch vom Publikum, dergleichen
ernsthaft hinzunehmen und sich Wohl gar einzubilden, daß da wieder einmal ein
„treffendes Wort" gesagt worden sei.

Die Kritiklosigkeit wird durch tausend moderne Angewohnheiten gefordert,
unter denen diejenige die schlimmste ist, die Literatur jeden Tag „neu" anheben
zu lassen. Es war gewiß ein unerfreulicher und dabei durch und durch falscher
Gedanke des seligen Gervinus, der deutschen Literatur mit dem Jahre 1832 das
Recht zur Weiterentwicklung abzusprechen. Aber der Wahrheit, daß uur gewisse
Zeiten den produktiven Geist rein fördern und in glorreiche Bahnen drängen,
daß ohne einen großen idealen Zug innerhalb der Gesellschaft keine höchsten
Kunstwerke entstehen können, stand der Literarhistoriker mit aller Morvsitnt doch
näher als die Verkünder der Modernität, nach denen es genügt, poetische Illu¬
strationen zu irgeud einer Modephilosophie zu liefern oder sich mit einer kleinen
Originalität (Spezialität) endlos zu wiederholen, um als Bahnbrecher einer
„neuesten" Literaturära gepriesen zu werden. Zur Zeit ist das Bahnbrecher
an den „pessimistischen" Lyrikern und Didaktikern, von denen in ühulicher
Weise eine Umwälzung der gesammten geistigen und sittlichen Grundlagen unsrer
Dichtung ausgehen soll, wie dies anfangs der vierziger Jahre von den poli¬
tischen Lyrikern verkündet wurde. Da mau, wenn man sich auch sonst um die
ganze Geschichte unsrer Literatur nicht kümmern will, doch wenigstens wissen
könnte, daß die damalige Herrlichkeit ausgegangen ist wie das Hornberger Schießen,
so ist es doch baare Kritiklosigkeit, immer wieder im höchsten Tone von Er¬
scheinungen und Bestrebungen zu orakeln, von denen mindestens erst abge¬
wartet werden muß, ob sie entwicklungsfähig im höhern Wortsinne sind.

Kritiklosigkeit, und zwar Kritiklosigkeit der unbegreiflichsten Art giebt sich
aber, wie in der Überschätzung kleiner und nichtiger Richtungen, auch in der
gänzlichen Nichtbeachtung großer und wichtiger Wandlungen in den geistigen
Zuständen kund. Das Anwachsen einer spezifisch katholischen und zwar im äußersten
Sinne katholischen Literatur, ein Anwachsen, welches bereits seit vielen Jahr¬
zehnten ersichtlich ist, kommt der herrschenden Feuilletvnkritik höchsteus dann
einmal zum Bewußtsein, wenn es sich um eine witzige Feuilletonnotiz, eine Bur¬
leske handelt. Von der Stärke und Bedeutung und von den möglichen Ein¬
wirkungen der riesig anschwellenden ultramontanen Belletristik nimmt man an


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804/48>, abgerufen am 05.02.2025.