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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal.

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Die deutsche Bühne der Gegenwart.

Burgtheater in Wie,: treiben einen so beschränkten Kultus. Dort spielt man
neben Sardon und Angler Viktor Hugo, Mvlivre und Racine, hier hat die
Schauspielerin, die heute die Gräfin Terzky spielt, morgen die geizige Geheim-
rätin in L'Arrouges "Wohlthätigen Frauen" zu geben, und Herr Hcirtmcmn, der
morgen einen schüchterne" Liebhaber zu spielen hat, glänzt übermorgen vielleicht
als König Heinrich der Fünfte. Nur als Etappe ist das Salonstück und Lust¬
spiel für den großen Künstler unsrer Tage unentbehrlich. Wer sich ohne allen
Zwang im modernen Kleide bewegen gelernt hat, wer dem Publikum den Ton
und die Gesten des täglichen Lebens bietet, über deren Wahrheit jeder Theater¬
besucher ein kompetenter Richter ist. der ist mit der größten Wahrscheinlichkeit
vor der Gefahr bewahrt, in der Tragödie zu bramarbasiren und die breitspu¬
rige, hohle Spielweise anzunehmen, die die jugendlichen Liebhaber, die Karlos,
Melchthal und Mortimer der Provinzialtheatcr auszeichnet. Es ist eine ganz
tüchtige Probe, jedes Gefühl, jeden Affekt, jede kleine Wortphrase erst auf die
simple Form zu reduziren, die sie in der Alltäglichkeit annehmen. Unsre Mimik
ist überreich an kleinen, sprechenden Zügen, wir haben Bewegungen des Kopfes,
der Arme, der Hände, die deutlicher als lange Wortreihen sprechen, tausenderlei
Nünnccn im Klang und Fall unsrer Stimme, die wir mit Worten gar nicht zu
umschreiben vermögen. Hat der Schauspieler über dies unerschöpfliche Arsenal
seiner Mittel im modernen Drama erst völlig freie Verfügung erlangt, dann
wird er. vor eine ernste, stilvolle Aufgabe gestellt, dieselben zu Rate ziehen, und
wenn er wirklich die Fähigkeit des tragischen Künstlers besitzt, von dem blos
Zufälligen der Wirklichkeit das Gesetzmäßige, Notwendige des Künstlerischen zu
sondern, von dem Soccus auf den Kothurn zu steigen, auch in der reinen Welt,
wo die unsterblichen Gebilde der Kunst wandeln, wahr bleiben.

Leider ist nun aber dieser Schritt nur wenigen möglich gewesen. Die meisten
modernen Schauspieler sind durch die Ausbildung des Lustspieltons an eine
nonchalante, saloppe Sprechweise gewöhnt worden, die sie nicht zu überwinden
vermögen oder die sie wohl gar mit Fleiß in die Tragödie übertragen. Mit
dem Ton ist die Geste verloren gegangen, und anstatt ihr Gefühl voll auszu¬
geben, moderiren sie alles und beschränken sich auch stimmlich uur auf ein stilles,
sanftes Säuseln. Dies abscheuliche "Dünnetun" ist der Kardinalfehler fast aller
Ausführungen großer Dramen in Deutschland, und ist er auch aus der Ent¬
wicklung des Theaterwcsens sehr leicht zu erklären, so ist er doch nicht minder
gefährlich als der pomphafte Deklmnatioustvu, für dessen Kultus man Weimar
und seine goldnen Tage verantwortlich gemacht hat, nud leider zugleich sehr
schwer ausrvttbar, denu der Geschmack des großen gebildeten Publikums kommt
ihm entgegen. Seitdem mit der finanziellen auch die bürgerliche Stellung des Schau¬
spielers sich glücklicherweise mehr gehoben hat, ist es für den wohlwollenden Theater¬
besucher eine gewisse Genugthuung, in dem Künstler auch den gebildeten und salon¬
fähigen Mann zu schätzen, und merkt man ihm außerhalb der Bühne oder ans


Die deutsche Bühne der Gegenwart.

Burgtheater in Wie,: treiben einen so beschränkten Kultus. Dort spielt man
neben Sardon und Angler Viktor Hugo, Mvlivre und Racine, hier hat die
Schauspielerin, die heute die Gräfin Terzky spielt, morgen die geizige Geheim-
rätin in L'Arrouges „Wohlthätigen Frauen" zu geben, und Herr Hcirtmcmn, der
morgen einen schüchterne« Liebhaber zu spielen hat, glänzt übermorgen vielleicht
als König Heinrich der Fünfte. Nur als Etappe ist das Salonstück und Lust¬
spiel für den großen Künstler unsrer Tage unentbehrlich. Wer sich ohne allen
Zwang im modernen Kleide bewegen gelernt hat, wer dem Publikum den Ton
und die Gesten des täglichen Lebens bietet, über deren Wahrheit jeder Theater¬
besucher ein kompetenter Richter ist. der ist mit der größten Wahrscheinlichkeit
vor der Gefahr bewahrt, in der Tragödie zu bramarbasiren und die breitspu¬
rige, hohle Spielweise anzunehmen, die die jugendlichen Liebhaber, die Karlos,
Melchthal und Mortimer der Provinzialtheatcr auszeichnet. Es ist eine ganz
tüchtige Probe, jedes Gefühl, jeden Affekt, jede kleine Wortphrase erst auf die
simple Form zu reduziren, die sie in der Alltäglichkeit annehmen. Unsre Mimik
ist überreich an kleinen, sprechenden Zügen, wir haben Bewegungen des Kopfes,
der Arme, der Hände, die deutlicher als lange Wortreihen sprechen, tausenderlei
Nünnccn im Klang und Fall unsrer Stimme, die wir mit Worten gar nicht zu
umschreiben vermögen. Hat der Schauspieler über dies unerschöpfliche Arsenal
seiner Mittel im modernen Drama erst völlig freie Verfügung erlangt, dann
wird er. vor eine ernste, stilvolle Aufgabe gestellt, dieselben zu Rate ziehen, und
wenn er wirklich die Fähigkeit des tragischen Künstlers besitzt, von dem blos
Zufälligen der Wirklichkeit das Gesetzmäßige, Notwendige des Künstlerischen zu
sondern, von dem Soccus auf den Kothurn zu steigen, auch in der reinen Welt,
wo die unsterblichen Gebilde der Kunst wandeln, wahr bleiben.

Leider ist nun aber dieser Schritt nur wenigen möglich gewesen. Die meisten
modernen Schauspieler sind durch die Ausbildung des Lustspieltons an eine
nonchalante, saloppe Sprechweise gewöhnt worden, die sie nicht zu überwinden
vermögen oder die sie wohl gar mit Fleiß in die Tragödie übertragen. Mit
dem Ton ist die Geste verloren gegangen, und anstatt ihr Gefühl voll auszu¬
geben, moderiren sie alles und beschränken sich auch stimmlich uur auf ein stilles,
sanftes Säuseln. Dies abscheuliche „Dünnetun" ist der Kardinalfehler fast aller
Ausführungen großer Dramen in Deutschland, und ist er auch aus der Ent¬
wicklung des Theaterwcsens sehr leicht zu erklären, so ist er doch nicht minder
gefährlich als der pomphafte Deklmnatioustvu, für dessen Kultus man Weimar
und seine goldnen Tage verantwortlich gemacht hat, nud leider zugleich sehr
schwer ausrvttbar, denu der Geschmack des großen gebildeten Publikums kommt
ihm entgegen. Seitdem mit der finanziellen auch die bürgerliche Stellung des Schau¬
spielers sich glücklicherweise mehr gehoben hat, ist es für den wohlwollenden Theater¬
besucher eine gewisse Genugthuung, in dem Künstler auch den gebildeten und salon¬
fähigen Mann zu schätzen, und merkt man ihm außerhalb der Bühne oder ans


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[0035] Die deutsche Bühne der Gegenwart. Burgtheater in Wie,: treiben einen so beschränkten Kultus. Dort spielt man neben Sardon und Angler Viktor Hugo, Mvlivre und Racine, hier hat die Schauspielerin, die heute die Gräfin Terzky spielt, morgen die geizige Geheim- rätin in L'Arrouges „Wohlthätigen Frauen" zu geben, und Herr Hcirtmcmn, der morgen einen schüchterne« Liebhaber zu spielen hat, glänzt übermorgen vielleicht als König Heinrich der Fünfte. Nur als Etappe ist das Salonstück und Lust¬ spiel für den großen Künstler unsrer Tage unentbehrlich. Wer sich ohne allen Zwang im modernen Kleide bewegen gelernt hat, wer dem Publikum den Ton und die Gesten des täglichen Lebens bietet, über deren Wahrheit jeder Theater¬ besucher ein kompetenter Richter ist. der ist mit der größten Wahrscheinlichkeit vor der Gefahr bewahrt, in der Tragödie zu bramarbasiren und die breitspu¬ rige, hohle Spielweise anzunehmen, die die jugendlichen Liebhaber, die Karlos, Melchthal und Mortimer der Provinzialtheatcr auszeichnet. Es ist eine ganz tüchtige Probe, jedes Gefühl, jeden Affekt, jede kleine Wortphrase erst auf die simple Form zu reduziren, die sie in der Alltäglichkeit annehmen. Unsre Mimik ist überreich an kleinen, sprechenden Zügen, wir haben Bewegungen des Kopfes, der Arme, der Hände, die deutlicher als lange Wortreihen sprechen, tausenderlei Nünnccn im Klang und Fall unsrer Stimme, die wir mit Worten gar nicht zu umschreiben vermögen. Hat der Schauspieler über dies unerschöpfliche Arsenal seiner Mittel im modernen Drama erst völlig freie Verfügung erlangt, dann wird er. vor eine ernste, stilvolle Aufgabe gestellt, dieselben zu Rate ziehen, und wenn er wirklich die Fähigkeit des tragischen Künstlers besitzt, von dem blos Zufälligen der Wirklichkeit das Gesetzmäßige, Notwendige des Künstlerischen zu sondern, von dem Soccus auf den Kothurn zu steigen, auch in der reinen Welt, wo die unsterblichen Gebilde der Kunst wandeln, wahr bleiben. Leider ist nun aber dieser Schritt nur wenigen möglich gewesen. Die meisten modernen Schauspieler sind durch die Ausbildung des Lustspieltons an eine nonchalante, saloppe Sprechweise gewöhnt worden, die sie nicht zu überwinden vermögen oder die sie wohl gar mit Fleiß in die Tragödie übertragen. Mit dem Ton ist die Geste verloren gegangen, und anstatt ihr Gefühl voll auszu¬ geben, moderiren sie alles und beschränken sich auch stimmlich uur auf ein stilles, sanftes Säuseln. Dies abscheuliche „Dünnetun" ist der Kardinalfehler fast aller Ausführungen großer Dramen in Deutschland, und ist er auch aus der Ent¬ wicklung des Theaterwcsens sehr leicht zu erklären, so ist er doch nicht minder gefährlich als der pomphafte Deklmnatioustvu, für dessen Kultus man Weimar und seine goldnen Tage verantwortlich gemacht hat, nud leider zugleich sehr schwer ausrvttbar, denu der Geschmack des großen gebildeten Publikums kommt ihm entgegen. Seitdem mit der finanziellen auch die bürgerliche Stellung des Schau¬ spielers sich glücklicherweise mehr gehoben hat, ist es für den wohlwollenden Theater¬ besucher eine gewisse Genugthuung, in dem Künstler auch den gebildeten und salon¬ fähigen Mann zu schätzen, und merkt man ihm außerhalb der Bühne oder ans

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804/35>, abgerufen am 05.02.2025.