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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal.

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Die Reform des englischen Parlaments.

bandes die Befestigung und Stärkung der königlichen Macht. Wahrlich, eine
ungeheure Arbeit, welche den Britten reichen Anlaß zum Reden und zur Ab¬
fassung schwerwiegender Revicwartikel geben wird und das Parlament noch manche
Session hindurch beschäftigen kann.

Trotz dieses Überflusses an Problemen ist es unschwer zu erkennen, daß
die Eidesfrage in nächster Zeit gelöst werden muß. Ihre Beantwortung scheint
einfach. Wer aber einmal der langen Reihe von Gebeten beigewohnt hat, mit
der die gottesfürchtigen Mitglieder des Unterhauses und Oberhauses ihr nächt¬
liches Werk beginnen, und wer die Anschauungen der englischen Gesellschaft nur
oberflächlich kennt, den wird es nicht wundern, wie wenig Bedeutung und Über¬
zeugung er auch jenen Vorgängen und Grundsätzen beilegen mag, wenn diese
Frage dem Unterhaus? noch manche Schwierigkeit bereiten sollte. Die ver-
wickeltere und wichtigere Regelung der Geschäftsordnung ist verhältnißmäßig
leichter.

Eine flüchtige Betrachtung der Parlamentsverhandlungen zeigt, daß eine
Vorlage von ihrem Eintritt bis zu ihrem Austritt verschiedne Entwicklungs¬
perioden durchzumachen hat. Das äußere treibende Prinzip in dem Prozesse
ist die menschliche Rede. Eine Geschäftsordnung hat sich folglich mit zwei Punkten
zu beschäftigen, mit der Regelung der parlamentarischen Vorgänge auf den ver-
schiednen Stufen und der Regelung der Rede auf allen Stufen. Die Rede ist
immer Mittel, niemals Zweck. Sie ist ein Mittel, um die Verhandlungen vor¬
wärts schreiten zu lassen, niemals sie zu hemmen oder gar ganz zum Stillstand
zu bringen. Wo Furcht oder Gerechtigkeitssinn gar keine Schranken der Rede¬
freiheit vorgesehen hat, um auch die kleinste Minorität zum Worte kommen zu
lassen, verletzt ein Mißbrauch tiefer und lenkt leicht die Aufmerksamkeit von wich¬
tigeren Angelegenheiten auf diese Frage ab. So in England. Über die Not¬
wendigkeit, die Redefreiheit zu beschränke,!, ist die Majorität des Hauses einig.
Einige Radikale, der größte Teil der Jrländer, die "vierte Partei" und unlenk¬
same Konservative werden einer Vorlage, die Debattirfreiheit zu beschränken, oppo-
niren. Man hegt auch wohl die Hoffnung, auf diese Weise das Kabinet zu stürzen.
Die Neph rechnete jedoch vor kurzer Zeit eine sichere Majorität für das Ka¬
binet heraus. Der Widerstand, den ihr die gemäßigten Gegner entgegensetzen werden,
richtet sich nicht gegen die Vorlage überhaupt; er entspringt vielmehr aus der Be¬
sorgnis, sie könne gelegentlich als Instrument zur Unterdrückung der Minoritäten
durch Majoritäten dienen.

Die Obstruktion der Jrländer im Jahre 1881 ist noch zu sehr in aller
Gedächtnis, als daß es notwendig wäre, die Fehler der englischen Geschäfts¬
ordnung weitläufig darzustellen. Es genügt, zu bemerken, daß die Freiheit jedes
Mitgliedes, so oft zu sprechen als es ihm beliebt, und Vertagungsantrüge ein¬
zubringen, welche Gelegenheit zu einer unendlichen Debatte und neuen Ver-
tagnngsanträgen geben, die Mittel waren, um das Parlament zum Stillstand


Die Reform des englischen Parlaments.

bandes die Befestigung und Stärkung der königlichen Macht. Wahrlich, eine
ungeheure Arbeit, welche den Britten reichen Anlaß zum Reden und zur Ab¬
fassung schwerwiegender Revicwartikel geben wird und das Parlament noch manche
Session hindurch beschäftigen kann.

Trotz dieses Überflusses an Problemen ist es unschwer zu erkennen, daß
die Eidesfrage in nächster Zeit gelöst werden muß. Ihre Beantwortung scheint
einfach. Wer aber einmal der langen Reihe von Gebeten beigewohnt hat, mit
der die gottesfürchtigen Mitglieder des Unterhauses und Oberhauses ihr nächt¬
liches Werk beginnen, und wer die Anschauungen der englischen Gesellschaft nur
oberflächlich kennt, den wird es nicht wundern, wie wenig Bedeutung und Über¬
zeugung er auch jenen Vorgängen und Grundsätzen beilegen mag, wenn diese
Frage dem Unterhaus? noch manche Schwierigkeit bereiten sollte. Die ver-
wickeltere und wichtigere Regelung der Geschäftsordnung ist verhältnißmäßig
leichter.

Eine flüchtige Betrachtung der Parlamentsverhandlungen zeigt, daß eine
Vorlage von ihrem Eintritt bis zu ihrem Austritt verschiedne Entwicklungs¬
perioden durchzumachen hat. Das äußere treibende Prinzip in dem Prozesse
ist die menschliche Rede. Eine Geschäftsordnung hat sich folglich mit zwei Punkten
zu beschäftigen, mit der Regelung der parlamentarischen Vorgänge auf den ver-
schiednen Stufen und der Regelung der Rede auf allen Stufen. Die Rede ist
immer Mittel, niemals Zweck. Sie ist ein Mittel, um die Verhandlungen vor¬
wärts schreiten zu lassen, niemals sie zu hemmen oder gar ganz zum Stillstand
zu bringen. Wo Furcht oder Gerechtigkeitssinn gar keine Schranken der Rede¬
freiheit vorgesehen hat, um auch die kleinste Minorität zum Worte kommen zu
lassen, verletzt ein Mißbrauch tiefer und lenkt leicht die Aufmerksamkeit von wich¬
tigeren Angelegenheiten auf diese Frage ab. So in England. Über die Not¬
wendigkeit, die Redefreiheit zu beschränke,!, ist die Majorität des Hauses einig.
Einige Radikale, der größte Teil der Jrländer, die „vierte Partei" und unlenk¬
same Konservative werden einer Vorlage, die Debattirfreiheit zu beschränken, oppo-
niren. Man hegt auch wohl die Hoffnung, auf diese Weise das Kabinet zu stürzen.
Die Neph rechnete jedoch vor kurzer Zeit eine sichere Majorität für das Ka¬
binet heraus. Der Widerstand, den ihr die gemäßigten Gegner entgegensetzen werden,
richtet sich nicht gegen die Vorlage überhaupt; er entspringt vielmehr aus der Be¬
sorgnis, sie könne gelegentlich als Instrument zur Unterdrückung der Minoritäten
durch Majoritäten dienen.

Die Obstruktion der Jrländer im Jahre 1881 ist noch zu sehr in aller
Gedächtnis, als daß es notwendig wäre, die Fehler der englischen Geschäfts¬
ordnung weitläufig darzustellen. Es genügt, zu bemerken, daß die Freiheit jedes
Mitgliedes, so oft zu sprechen als es ihm beliebt, und Vertagungsantrüge ein¬
zubringen, welche Gelegenheit zu einer unendlichen Debatte und neuen Ver-
tagnngsanträgen geben, die Mittel waren, um das Parlament zum Stillstand


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[0162] Die Reform des englischen Parlaments. bandes die Befestigung und Stärkung der königlichen Macht. Wahrlich, eine ungeheure Arbeit, welche den Britten reichen Anlaß zum Reden und zur Ab¬ fassung schwerwiegender Revicwartikel geben wird und das Parlament noch manche Session hindurch beschäftigen kann. Trotz dieses Überflusses an Problemen ist es unschwer zu erkennen, daß die Eidesfrage in nächster Zeit gelöst werden muß. Ihre Beantwortung scheint einfach. Wer aber einmal der langen Reihe von Gebeten beigewohnt hat, mit der die gottesfürchtigen Mitglieder des Unterhauses und Oberhauses ihr nächt¬ liches Werk beginnen, und wer die Anschauungen der englischen Gesellschaft nur oberflächlich kennt, den wird es nicht wundern, wie wenig Bedeutung und Über¬ zeugung er auch jenen Vorgängen und Grundsätzen beilegen mag, wenn diese Frage dem Unterhaus? noch manche Schwierigkeit bereiten sollte. Die ver- wickeltere und wichtigere Regelung der Geschäftsordnung ist verhältnißmäßig leichter. Eine flüchtige Betrachtung der Parlamentsverhandlungen zeigt, daß eine Vorlage von ihrem Eintritt bis zu ihrem Austritt verschiedne Entwicklungs¬ perioden durchzumachen hat. Das äußere treibende Prinzip in dem Prozesse ist die menschliche Rede. Eine Geschäftsordnung hat sich folglich mit zwei Punkten zu beschäftigen, mit der Regelung der parlamentarischen Vorgänge auf den ver- schiednen Stufen und der Regelung der Rede auf allen Stufen. Die Rede ist immer Mittel, niemals Zweck. Sie ist ein Mittel, um die Verhandlungen vor¬ wärts schreiten zu lassen, niemals sie zu hemmen oder gar ganz zum Stillstand zu bringen. Wo Furcht oder Gerechtigkeitssinn gar keine Schranken der Rede¬ freiheit vorgesehen hat, um auch die kleinste Minorität zum Worte kommen zu lassen, verletzt ein Mißbrauch tiefer und lenkt leicht die Aufmerksamkeit von wich¬ tigeren Angelegenheiten auf diese Frage ab. So in England. Über die Not¬ wendigkeit, die Redefreiheit zu beschränke,!, ist die Majorität des Hauses einig. Einige Radikale, der größte Teil der Jrländer, die „vierte Partei" und unlenk¬ same Konservative werden einer Vorlage, die Debattirfreiheit zu beschränken, oppo- niren. Man hegt auch wohl die Hoffnung, auf diese Weise das Kabinet zu stürzen. Die Neph rechnete jedoch vor kurzer Zeit eine sichere Majorität für das Ka¬ binet heraus. Der Widerstand, den ihr die gemäßigten Gegner entgegensetzen werden, richtet sich nicht gegen die Vorlage überhaupt; er entspringt vielmehr aus der Be¬ sorgnis, sie könne gelegentlich als Instrument zur Unterdrückung der Minoritäten durch Majoritäten dienen. Die Obstruktion der Jrländer im Jahre 1881 ist noch zu sehr in aller Gedächtnis, als daß es notwendig wäre, die Fehler der englischen Geschäfts¬ ordnung weitläufig darzustellen. Es genügt, zu bemerken, daß die Freiheit jedes Mitgliedes, so oft zu sprechen als es ihm beliebt, und Vertagungsantrüge ein¬ zubringen, welche Gelegenheit zu einer unendlichen Debatte und neuen Ver- tagnngsanträgen geben, die Mittel waren, um das Parlament zum Stillstand

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804/162>, abgerufen am 22.07.2024.