Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal.Line neue Erkenntnistheorie. der Meinung, Kant habe dasselbe fiir immer unbeweisbar gehalten, und bemüht Daß diese Verstandesfunktionen bei jeder Wahrnehmung thätig sind, und Line neue Erkenntnistheorie. der Meinung, Kant habe dasselbe fiir immer unbeweisbar gehalten, und bemüht Daß diese Verstandesfunktionen bei jeder Wahrnehmung thätig sind, und <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0124" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/86245"/> <fw type="header" place="top"> Line neue Erkenntnistheorie.</fw><lb/> <p xml:id="ID_467" prev="#ID_466"> der Meinung, Kant habe dasselbe fiir immer unbeweisbar gehalten, und bemüht<lb/> sich nun sorgfältig, denselben Beweis, den Kant für alle Empfindungen gebracht<lb/> hat, wenigstens für den Tastsinn ausfindig zu machen, nämlich den Beweis<lb/> durch das unmittelbare Bewußtsein von etwas andern: Gegenwärtigen. Duzn<lb/> wäre die Erfindung des „intentionalen Realismus" nicht nötig gewesen. Ebenso<lb/> würde der Verfasser seine Arbeit bedeutend erleichtert haben, wenn er sich<lb/> in den gründlichen Ausführungen Kants im vierten Paralogismus davon über¬<lb/> zeugt hätte, daß das Aufeinanderwirken von Seele und Nervensubstanz gar kein<lb/> besonderes Rätsel ist, sobald man eingesehen hat, daß beides, die materiellen<lb/> Prozesse sowohl wie die Seelenthätigkeiten, Gegenstände der Wahrnehmung sind,<lb/> wenn auch die letzteren nur für den inneren Sinn. Gerade so wie Feuer und<lb/> Wasser aufeinander einwirken, und doch nicht die Natur des einen in die des<lb/> andern übergeht, sondern die Wirksamkeit des einen nur solche Bewegungen in<lb/> dem andern hervorruft, die dessen eigentümlicher Natur entsprechen, gerade so<lb/> wird die Seelenthätigkeit, deren wir uns dnrch den inneren Sinn bewußt werden<lb/> können, erregt durch die mechanischen Bewegungen in der Nervensubstanz, und<lb/> umgekehrt kamt die Seclenthätigkeit wieder die Nervensubstanz anregen, wie sich<lb/> in den Muskelkontraktionen deutlich ausspricht. Kant hat niemals gesagt, daß<lb/> die Empfindungen in den Nerven oder unter der Haut ihren Sitz hätten, sondern<lb/> daß der Gegenstand der Empfindung kraft der eigentümlichen Fähigkeit unsres<lb/> Erkenntnisvermögens im Raum aufgefaßt werde. An welcher Stelle im Raum<lb/> er sich befinde, das erkennen wir durch die Anwendung der Verstandesfunktionen,<lb/> und die Physiologie zeigt, wie uus dabei die Bewegungen zu Hilfe kommen.<lb/> Dadurch sind die Schwierigkeiten der Erklärung für alles Wahrnehmen und<lb/> Erkennen desjenigen, was außer unserm Körper ist, längst gehoben.</p><lb/> <p xml:id="ID_468"> Daß diese Verstandesfunktionen bei jeder Wahrnehmung thätig sind, und<lb/> daher der Verstand bei der Erkenntnis zahlreicher Wahrnehmungen und ihrer<lb/> Unterordnung unter allgemeine Naturgesetze nichts anderes thut, als ihm selbst<lb/> homogene Elemente zu sammeln und zu ordnen, daß mithin in der Natur nichts<lb/> wahrgenommen und nichts erkannt werden kann, was gegen die Gesetze des Den¬<lb/> kens verstößt, davon kann der Verfasser natürlich leine Ahnung haben, weil er<lb/> das Kapitel der Deduktion der reinen Vcrstandsbegriffe bei Kant nicht begriffen<lb/> hat. Hätte er es begriffen, so hätte er „das Jntelligible der materiellen Dinge"<lb/> nicht zu erfinde» brauchen. Indessen teilt er dies Schicksal fast mit der ganzen<lb/> großen Menge derer, die sich heute fälschlich Kantianer nennen. Stark ist es,<lb/> daß er nicht weiß, daß der Name kritischer Idealismus von Kant herrührt und<lb/> nicht erst durch eine Verbindung von Kantianismus und Positivismus entstanden<lb/> ist. Wir verweisen ihn auf die Stelle in den Prologomenen, in der Kant sagt,<lb/> daß, wenn man aus dem Wort transcendentaler Idealismus einen Anlaß fände,<lb/> seine Lehre mit dein subjektiven Idealismus zu verwechseln, er dann lieber den<lb/> Namen ganz zurückziehen und statt dessen kritischer Idealismus sagen würde.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0124]
Line neue Erkenntnistheorie.
der Meinung, Kant habe dasselbe fiir immer unbeweisbar gehalten, und bemüht
sich nun sorgfältig, denselben Beweis, den Kant für alle Empfindungen gebracht
hat, wenigstens für den Tastsinn ausfindig zu machen, nämlich den Beweis
durch das unmittelbare Bewußtsein von etwas andern: Gegenwärtigen. Duzn
wäre die Erfindung des „intentionalen Realismus" nicht nötig gewesen. Ebenso
würde der Verfasser seine Arbeit bedeutend erleichtert haben, wenn er sich
in den gründlichen Ausführungen Kants im vierten Paralogismus davon über¬
zeugt hätte, daß das Aufeinanderwirken von Seele und Nervensubstanz gar kein
besonderes Rätsel ist, sobald man eingesehen hat, daß beides, die materiellen
Prozesse sowohl wie die Seelenthätigkeiten, Gegenstände der Wahrnehmung sind,
wenn auch die letzteren nur für den inneren Sinn. Gerade so wie Feuer und
Wasser aufeinander einwirken, und doch nicht die Natur des einen in die des
andern übergeht, sondern die Wirksamkeit des einen nur solche Bewegungen in
dem andern hervorruft, die dessen eigentümlicher Natur entsprechen, gerade so
wird die Seelenthätigkeit, deren wir uns dnrch den inneren Sinn bewußt werden
können, erregt durch die mechanischen Bewegungen in der Nervensubstanz, und
umgekehrt kamt die Seclenthätigkeit wieder die Nervensubstanz anregen, wie sich
in den Muskelkontraktionen deutlich ausspricht. Kant hat niemals gesagt, daß
die Empfindungen in den Nerven oder unter der Haut ihren Sitz hätten, sondern
daß der Gegenstand der Empfindung kraft der eigentümlichen Fähigkeit unsres
Erkenntnisvermögens im Raum aufgefaßt werde. An welcher Stelle im Raum
er sich befinde, das erkennen wir durch die Anwendung der Verstandesfunktionen,
und die Physiologie zeigt, wie uus dabei die Bewegungen zu Hilfe kommen.
Dadurch sind die Schwierigkeiten der Erklärung für alles Wahrnehmen und
Erkennen desjenigen, was außer unserm Körper ist, längst gehoben.
Daß diese Verstandesfunktionen bei jeder Wahrnehmung thätig sind, und
daher der Verstand bei der Erkenntnis zahlreicher Wahrnehmungen und ihrer
Unterordnung unter allgemeine Naturgesetze nichts anderes thut, als ihm selbst
homogene Elemente zu sammeln und zu ordnen, daß mithin in der Natur nichts
wahrgenommen und nichts erkannt werden kann, was gegen die Gesetze des Den¬
kens verstößt, davon kann der Verfasser natürlich leine Ahnung haben, weil er
das Kapitel der Deduktion der reinen Vcrstandsbegriffe bei Kant nicht begriffen
hat. Hätte er es begriffen, so hätte er „das Jntelligible der materiellen Dinge"
nicht zu erfinde» brauchen. Indessen teilt er dies Schicksal fast mit der ganzen
großen Menge derer, die sich heute fälschlich Kantianer nennen. Stark ist es,
daß er nicht weiß, daß der Name kritischer Idealismus von Kant herrührt und
nicht erst durch eine Verbindung von Kantianismus und Positivismus entstanden
ist. Wir verweisen ihn auf die Stelle in den Prologomenen, in der Kant sagt,
daß, wenn man aus dem Wort transcendentaler Idealismus einen Anlaß fände,
seine Lehre mit dein subjektiven Idealismus zu verwechseln, er dann lieber den
Namen ganz zurückziehen und statt dessen kritischer Idealismus sagen würde.
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