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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal.

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zum Ziele führen, und darauf richtete sich der Plan der Regierung, indem er
dem Unternehmer zwei Drittel der Versicherungsprämie für diejenigen Arbeiter
auferlegte, deren Einkommen zur Zahlung einer solchen nicht ausreicht. Der
Unternehmer sollte gezwungen werden, auf Verhütung oder Verminderung der
Unfälle bedacht zu sein, zweckmäßige Einrichtvngen zu treffen und auf Behut¬
samkeit beim Betriebe zu halten, und der beste Zwang war der durch die Ver¬
sicherungsprämie, die bei schlechter Einrichtung und Unvorsichtigkeit des Betriebes
steigen muß. Für das letzte Drittel der Prämie sollte die Armenpflege auf¬
kommen. Das ganze Vcrsicherungsgeschäft wurde dem Reiche zugewiesen. Bei
der Beratung des Sozialistengesetzes hatte die Regierung erklärt, die Bekämpfung
des Übels solle auch auf positivem Wege versucht werden, und dieses Wort
wurde durch das neue Gesetz in großartiger Weise eingelöst. Es wurde damit
der Anfang zur Versöhnung der Arbeiter mit dein Staate gemacht. Sie sollten
einsehen lernen, daß dieser auch nützlich sei, daß er nicht blos verlange, sondern
auch gebe. Es sollte mit der Unfallversicherung und der weiter ins Auge ge¬
faßten Altersversicherung einer sozialen Revolution vorgebeugt werden, die sich
in den Erfolgen der Sozialdemokratie vorbereitete und ankündigte.

In den ersten Tagen des April fand die erste Beratung der Vorlage im
Reichstage statt, dann wurde das Gesetz an eine Kommission verwiesen. Bei der
Debatte zeigte sich, daß der Gedanke des Reichskanzlers zunächst in den Doktri¬
nären des Freihandels, die sich an dessen staatssozialistische Natur stießen, dann
in gewissen Großindustriellen, die sich nicht "bevormunden" lassen wollten, ferner
in deu Partiknlaristen, die dem Reiche keine neuen Attribute von Bedeutung
beigelegt zu sehen wünschten, endlich in einer Anzahl zaghafter Leute, die vor
dem Unerprobtcn zurückschraken, Gegner in Menge hatte. Zuletzt wurde das
Gesetz von der Mehrheit des Reichstages in einer Gestalt beschlossen, die ihm
so sehr allen Wert "ahn, daß die Regierung es nicht brauchen konnte. Der
Reichskanzler war, so dürfen "vir zu diesem Ausgang der Sache wohl sagen,
im Einklang mit dem Bundesrate der einzige, welcher der Arbeiternot und der
aus der Unzufriedenheit der arbeitenden Klasse hervordrohenden Revolution ein
Ziel zu setzen gewillt war; die Fraktionen des Reichstages dagegen stellten sich
in ein Licht, als ob sie nichts Ernstes zur Heilung des Übels thun, sondern
sich mir mit dem Scheine der Hilfsbereitschaft von der dringendsten Pflicht der
modernen Gesellschaft loskaufen wollten. Das Centrum nahm Anstoß an der
einheitlichen Neichsversicheruugsanstalt, wollte dieselbe durch Landesanstalten er¬
setzt sehen und fand bei den konservativen Fraktionen Unterstützung. Die Gro߬
industrie war gegen den Staatszuschuß, da er eine dauernde Staatsaufsicht über
die Industrie, wirksamer als die bisherige, zur Folge gehabt hätte, die liberalen
Doctrinäre mit ihrem mnnchesterlichen Haß gegen die Ausdehnung der Staats¬
gewalt traten ihnen an die Seite, und das Centrum, sonst voll bittrer Feind¬
schaft gegen die individualistische Wirtschaftsordnung, gewann es über sich, der


zum Ziele führen, und darauf richtete sich der Plan der Regierung, indem er
dem Unternehmer zwei Drittel der Versicherungsprämie für diejenigen Arbeiter
auferlegte, deren Einkommen zur Zahlung einer solchen nicht ausreicht. Der
Unternehmer sollte gezwungen werden, auf Verhütung oder Verminderung der
Unfälle bedacht zu sein, zweckmäßige Einrichtvngen zu treffen und auf Behut¬
samkeit beim Betriebe zu halten, und der beste Zwang war der durch die Ver¬
sicherungsprämie, die bei schlechter Einrichtung und Unvorsichtigkeit des Betriebes
steigen muß. Für das letzte Drittel der Prämie sollte die Armenpflege auf¬
kommen. Das ganze Vcrsicherungsgeschäft wurde dem Reiche zugewiesen. Bei
der Beratung des Sozialistengesetzes hatte die Regierung erklärt, die Bekämpfung
des Übels solle auch auf positivem Wege versucht werden, und dieses Wort
wurde durch das neue Gesetz in großartiger Weise eingelöst. Es wurde damit
der Anfang zur Versöhnung der Arbeiter mit dein Staate gemacht. Sie sollten
einsehen lernen, daß dieser auch nützlich sei, daß er nicht blos verlange, sondern
auch gebe. Es sollte mit der Unfallversicherung und der weiter ins Auge ge¬
faßten Altersversicherung einer sozialen Revolution vorgebeugt werden, die sich
in den Erfolgen der Sozialdemokratie vorbereitete und ankündigte.

In den ersten Tagen des April fand die erste Beratung der Vorlage im
Reichstage statt, dann wurde das Gesetz an eine Kommission verwiesen. Bei der
Debatte zeigte sich, daß der Gedanke des Reichskanzlers zunächst in den Doktri¬
nären des Freihandels, die sich an dessen staatssozialistische Natur stießen, dann
in gewissen Großindustriellen, die sich nicht „bevormunden" lassen wollten, ferner
in deu Partiknlaristen, die dem Reiche keine neuen Attribute von Bedeutung
beigelegt zu sehen wünschten, endlich in einer Anzahl zaghafter Leute, die vor
dem Unerprobtcn zurückschraken, Gegner in Menge hatte. Zuletzt wurde das
Gesetz von der Mehrheit des Reichstages in einer Gestalt beschlossen, die ihm
so sehr allen Wert »ahn, daß die Regierung es nicht brauchen konnte. Der
Reichskanzler war, so dürfen »vir zu diesem Ausgang der Sache wohl sagen,
im Einklang mit dem Bundesrate der einzige, welcher der Arbeiternot und der
aus der Unzufriedenheit der arbeitenden Klasse hervordrohenden Revolution ein
Ziel zu setzen gewillt war; die Fraktionen des Reichstages dagegen stellten sich
in ein Licht, als ob sie nichts Ernstes zur Heilung des Übels thun, sondern
sich mir mit dem Scheine der Hilfsbereitschaft von der dringendsten Pflicht der
modernen Gesellschaft loskaufen wollten. Das Centrum nahm Anstoß an der
einheitlichen Neichsversicheruugsanstalt, wollte dieselbe durch Landesanstalten er¬
setzt sehen und fand bei den konservativen Fraktionen Unterstützung. Die Gro߬
industrie war gegen den Staatszuschuß, da er eine dauernde Staatsaufsicht über
die Industrie, wirksamer als die bisherige, zur Folge gehabt hätte, die liberalen
Doctrinäre mit ihrem mnnchesterlichen Haß gegen die Ausdehnung der Staats¬
gewalt traten ihnen an die Seite, und das Centrum, sonst voll bittrer Feind¬
schaft gegen die individualistische Wirtschaftsordnung, gewann es über sich, der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804/10>, abgerufen am 22.07.2024.