Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Viertes Quartal.Neue Dichtungen. weigert hätten. Wir haben von dem Augenblicke an, wo wir durch die "Lieder Dazu kommt, daß der Jdeenkreis dieser Lyrik naturgemäß ein beschränkter Die neueste Goethephilologie hat den Einfall gehabt, die Jugendlyrik Goethes Neue Dichtungen. weigert hätten. Wir haben von dem Augenblicke an, wo wir durch die „Lieder Dazu kommt, daß der Jdeenkreis dieser Lyrik naturgemäß ein beschränkter Die neueste Goethephilologie hat den Einfall gehabt, die Jugendlyrik Goethes <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0304" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/194282"/> <fw type="header" place="top"> Neue Dichtungen.</fw><lb/> <p xml:id="ID_1083" prev="#ID_1082"> weigert hätten. Wir haben von dem Augenblicke an, wo wir durch die „Lieder<lb/> eines fahrenden Gesellen" seine erste Bekanntschaft machten, jede neue Spende<lb/> seiner Hand froh begrüßt, jn ihn das einemal geradezu für unsern Leib- und<lb/> Fnvoritlyriker uuter den Lebenden erklärt. Baumbach ist ein Seitenverwandter<lb/> jener archaisirenden Richtung, die zuerst Scheffel eingeschlagen hat; aber während<lb/> es bei Scheffel nicht an Derbheiten fehlt und die Form oft recht salopp ist, bleibt<lb/> Baumbach immer fein und graziös, und seine Technik ist durchgebildet bis zur<lb/> Glätte und Eleganz. Im Laufe der Zeit ergeht es einem aber doch mit dieser<lb/> archaisirenden Lyrik, wie mit allen Archaismen, so bestechend sie anch, wenn sie<lb/> taktvoll und ohne Aufdringlichkeit erscheinen, anfangs wirken können: man kommt<lb/> hinter die Manier. Wir brauchen nur an die „deutsche Renaissance" in unserm<lb/> Kunstgewerbe zu erinnern. Wer hätte vor vier, fünf Jahren nicht auf ihre<lb/> alleinseligmachende Kraft geschworen? Und heute?</p><lb/> <p xml:id="ID_1084"> Dazu kommt, daß der Jdeenkreis dieser Lyrik naturgemäß ein beschränkter<lb/> ist. So hübsche Pointen auch Baumbach zu ersinnen weiß, so ergötzliche<lb/> Varianten er anbringt, so geschickt er alte Motive neu zu machen versteht,<lb/> am Ende kann man sich doch des Eindruckes einer gewissen Einförmigkeit<lb/> nicht erwehren, und gerade das vorliegende Bündchen hat diesen Eindruck<lb/> verstärkt.</p><lb/> <p xml:id="ID_1085"> Die neueste Goethephilologie hat den Einfall gehabt, die Jugendlyrik Goethes<lb/> auf ihren Wortschatz hin zu prüfen und ist durch dieses Mittel genau dahinter<lb/> gekommen, bis zu welchem Punkte der junge Goethe in den Fesseln der Ancckreontik<lb/> steckt, und wo er sich von diesen Fesseln freimacht. Wollte man in ähnlicher<lb/> Weise den Wortschatz von Baumbachs Lyrik zu einem kleinen Wörterbuche zu¬<lb/> sammenstellen, so würde auch hier die Statistik sicherlich zu interessanten Er¬<lb/> gebnissen führen. Das Wörterbuch des vorliegenden neuesten Bändchens z. B><lb/> würde unter anderm folgende Elemente aufzuweisen haben: Durst; Herberge,<lb/> schaut, Schenke; (Sonne, Schwan, Weißer Schwan, Traube, Grüne Linde,<lb/> Roter Hahn); Wirt (rund, mit rundem Gesicht), Wirtin (gleichfalls rund), der<lb/> Wirtin Töchterlein (mit rotem Mund, mit Rosenmund, mit Kirschenlippen)!<lb/> Keller, Kufe, Faß, Tonne, Kanne, Krug, Flasche; Kellner, Kellermeister; Pfropfen-<lb/> zieher, einschenken, kredenzen; Glas, Schoppen, Becher, Horn; Schluck, Trank,<lb/> Naß, Bier, Wem, Rebensaft, Traubenblut, Muscateller, Malvasier; süß, sauer,<lb/> frisch, scheint; nippen, trinken, zechen, anstoßen, nustrinken, leeren; selig, Tasche,<lb/> Kreide, Kopfweh. So manches dieser Wörter würde sogar doppelt und dreifach<lb/> vertreten sein, und wie oft der Malvasier und der Reim von Flasche und Tasche<lb/> erscheint, haben wir gar nicht gezählt. Angesichts eines solchen Wörtervorrates<lb/> tauchen nachgerade nicht bloß sachliche, sondern selbst persönliche Bedenken anf^<lb/> Wenn wir uns recht erinnern, muß es mindestens zwanzig Jahre her sein, daß<lb/> Baumbach in Leipzig das schwarzweißrote Band der „Thüringer" trug — und<lb/> trotzdem noch immer so durstige Lieder?</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0304]
Neue Dichtungen.
weigert hätten. Wir haben von dem Augenblicke an, wo wir durch die „Lieder
eines fahrenden Gesellen" seine erste Bekanntschaft machten, jede neue Spende
seiner Hand froh begrüßt, jn ihn das einemal geradezu für unsern Leib- und
Fnvoritlyriker uuter den Lebenden erklärt. Baumbach ist ein Seitenverwandter
jener archaisirenden Richtung, die zuerst Scheffel eingeschlagen hat; aber während
es bei Scheffel nicht an Derbheiten fehlt und die Form oft recht salopp ist, bleibt
Baumbach immer fein und graziös, und seine Technik ist durchgebildet bis zur
Glätte und Eleganz. Im Laufe der Zeit ergeht es einem aber doch mit dieser
archaisirenden Lyrik, wie mit allen Archaismen, so bestechend sie anch, wenn sie
taktvoll und ohne Aufdringlichkeit erscheinen, anfangs wirken können: man kommt
hinter die Manier. Wir brauchen nur an die „deutsche Renaissance" in unserm
Kunstgewerbe zu erinnern. Wer hätte vor vier, fünf Jahren nicht auf ihre
alleinseligmachende Kraft geschworen? Und heute?
Dazu kommt, daß der Jdeenkreis dieser Lyrik naturgemäß ein beschränkter
ist. So hübsche Pointen auch Baumbach zu ersinnen weiß, so ergötzliche
Varianten er anbringt, so geschickt er alte Motive neu zu machen versteht,
am Ende kann man sich doch des Eindruckes einer gewissen Einförmigkeit
nicht erwehren, und gerade das vorliegende Bündchen hat diesen Eindruck
verstärkt.
Die neueste Goethephilologie hat den Einfall gehabt, die Jugendlyrik Goethes
auf ihren Wortschatz hin zu prüfen und ist durch dieses Mittel genau dahinter
gekommen, bis zu welchem Punkte der junge Goethe in den Fesseln der Ancckreontik
steckt, und wo er sich von diesen Fesseln freimacht. Wollte man in ähnlicher
Weise den Wortschatz von Baumbachs Lyrik zu einem kleinen Wörterbuche zu¬
sammenstellen, so würde auch hier die Statistik sicherlich zu interessanten Er¬
gebnissen führen. Das Wörterbuch des vorliegenden neuesten Bändchens z. B>
würde unter anderm folgende Elemente aufzuweisen haben: Durst; Herberge,
schaut, Schenke; (Sonne, Schwan, Weißer Schwan, Traube, Grüne Linde,
Roter Hahn); Wirt (rund, mit rundem Gesicht), Wirtin (gleichfalls rund), der
Wirtin Töchterlein (mit rotem Mund, mit Rosenmund, mit Kirschenlippen)!
Keller, Kufe, Faß, Tonne, Kanne, Krug, Flasche; Kellner, Kellermeister; Pfropfen-
zieher, einschenken, kredenzen; Glas, Schoppen, Becher, Horn; Schluck, Trank,
Naß, Bier, Wem, Rebensaft, Traubenblut, Muscateller, Malvasier; süß, sauer,
frisch, scheint; nippen, trinken, zechen, anstoßen, nustrinken, leeren; selig, Tasche,
Kreide, Kopfweh. So manches dieser Wörter würde sogar doppelt und dreifach
vertreten sein, und wie oft der Malvasier und der Reim von Flasche und Tasche
erscheint, haben wir gar nicht gezählt. Angesichts eines solchen Wörtervorrates
tauchen nachgerade nicht bloß sachliche, sondern selbst persönliche Bedenken anf^
Wenn wir uns recht erinnern, muß es mindestens zwanzig Jahre her sein, daß
Baumbach in Leipzig das schwarzweißrote Band der „Thüringer" trug — und
trotzdem noch immer so durstige Lieder?
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |