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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Drittes Quartal.

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wesentlicher Fortschritt, ein wirklicher Zuwachs zu Teil werden muß, möchte
wohl nur blinde Voreingenommenheit leugne". Andrerseits muß aber aufs
ernstlichste vor der Gefahr des Kolorismus gewarnt werden: nur zu leicht wird
über der schimmernden Hülle die Geriugwertigkeit des Kerns übersehen, den sie
birgt, nur zu leicht täuscht die glänzende Gewandung über die schlotterigen,
kraft- und saftlosen Formen, die sie bekleidet. Ein künftiger neuer Klassizis¬
mus, der die Errungenschaften des Kolorismus assimilirt und absorbirt, wird erst
den vollen Wert desselben offenbaren. Damit soll keineswegs geleugnet werden,
daß die Gegenwart Kunstgebilde von tief ergreifender ästhetischer Wirkung her¬
vorbringt; aber diese Wirkung beruht, wie man bei näherer Betrachtung kaum
leugnen wird, vielfach auf der einseitigen Ausbeutung und meisterlichen Beherrschung
eines einzelnen Darstellnngsmittels, eben des Kolorits. Diese einseitige technische
Meisterschaft ist aber ohne allen Zweifel als eine Art Virtuosentum zu bezeichnen;
beim Kvlorismns in der Malerei ist man darüber längst im klaren -- in der
Musik scheint man es bisher noch nicht recht bedacht zu haben.

Um zunächst den Begriff des musikalischen Kolorismus durch ein lebendiges
Beispiel zu illustriren, sei an Vrahms' "Rhapsodie" (Fragment aus Goethes
"Harzreise im Winter") erinnert, die für Altsolo, Männerchor und Orchester
geschrieben jedem, der sie gehört und verstanden, als ein Nachtbild menschlichen
Empfindens erinnerlich ist, wie es düstrer kaum gedacht werden kann. An dieser
Wirkung hat die Wahl der Klangfarben einen sehr bedeutsamen Anteil, der ele¬
gische Klang der Solo-Altstimme, den nirgends der helle Klang des Soprans
aufhebt, die gesättigte, aber gedämpfte Fülle der Männerstimmen, denen nnr
die tiefere Hälfte des Tongebietes zu Gebote steht, die auf tiefe Lagen beschränkte
Behandlung der Streichinstrumente -- ich denke, die düstere Stimmung ist allein
schon durch diese Instrumentirung gegeben, und der Komponist hat mit dem
übrigen halbe Arbeit. Daß ein Pfuscher trotz der raffiuirieften Wahl der In¬
strumente und Stiinmcharaktere die Stimmung doch noch verfehlen könnte, soll
nicht bestritten werden; es ist aber interessant, zu verfolgen, wie herrlich bei
Bruhns das Kolorit mithilft.

Dieses Rembraudtsche Helldunkel ist jetzt sehr in der Mode; und wenn
anch nicht jeder ein Rembrandt ist wie Brahms, so verfehlt doch die Anwen¬
dung des fahlen Lichtes allein schon nicht einen gewissen Effekt hervorzubringen,
der bei den speziellen Freunden des Kolorismus Erfolg bedeutet. Was wir bei
näherer Betrachtung in diesem Dämmerlichte zu erkennen vermögen, die sujets
dieser Tonbilder, sie sind oft herzlich unbedeutend, und doch -- ein interessantes
Werk! ein bedeutendes Werk! hören wir hier und dort und gerade von seite"
derer, welche mit ihrem Urteil auf der Höhe der Zeit zu stehen scheinen, aus¬
sprechen. Und wahrhaftig, man kann ihnen nicht ganz Unrecht geben. Es ist
auch interessant, zu sehen, was sich allein durch das Kolorit machen läßt. Ich
will nicht weiter spezialisiren, kein Beispiel mehr anführen. Das Vrahmssche


wesentlicher Fortschritt, ein wirklicher Zuwachs zu Teil werden muß, möchte
wohl nur blinde Voreingenommenheit leugne». Andrerseits muß aber aufs
ernstlichste vor der Gefahr des Kolorismus gewarnt werden: nur zu leicht wird
über der schimmernden Hülle die Geriugwertigkeit des Kerns übersehen, den sie
birgt, nur zu leicht täuscht die glänzende Gewandung über die schlotterigen,
kraft- und saftlosen Formen, die sie bekleidet. Ein künftiger neuer Klassizis¬
mus, der die Errungenschaften des Kolorismus assimilirt und absorbirt, wird erst
den vollen Wert desselben offenbaren. Damit soll keineswegs geleugnet werden,
daß die Gegenwart Kunstgebilde von tief ergreifender ästhetischer Wirkung her¬
vorbringt; aber diese Wirkung beruht, wie man bei näherer Betrachtung kaum
leugnen wird, vielfach auf der einseitigen Ausbeutung und meisterlichen Beherrschung
eines einzelnen Darstellnngsmittels, eben des Kolorits. Diese einseitige technische
Meisterschaft ist aber ohne allen Zweifel als eine Art Virtuosentum zu bezeichnen;
beim Kvlorismns in der Malerei ist man darüber längst im klaren — in der
Musik scheint man es bisher noch nicht recht bedacht zu haben.

Um zunächst den Begriff des musikalischen Kolorismus durch ein lebendiges
Beispiel zu illustriren, sei an Vrahms' „Rhapsodie" (Fragment aus Goethes
„Harzreise im Winter") erinnert, die für Altsolo, Männerchor und Orchester
geschrieben jedem, der sie gehört und verstanden, als ein Nachtbild menschlichen
Empfindens erinnerlich ist, wie es düstrer kaum gedacht werden kann. An dieser
Wirkung hat die Wahl der Klangfarben einen sehr bedeutsamen Anteil, der ele¬
gische Klang der Solo-Altstimme, den nirgends der helle Klang des Soprans
aufhebt, die gesättigte, aber gedämpfte Fülle der Männerstimmen, denen nnr
die tiefere Hälfte des Tongebietes zu Gebote steht, die auf tiefe Lagen beschränkte
Behandlung der Streichinstrumente — ich denke, die düstere Stimmung ist allein
schon durch diese Instrumentirung gegeben, und der Komponist hat mit dem
übrigen halbe Arbeit. Daß ein Pfuscher trotz der raffiuirieften Wahl der In¬
strumente und Stiinmcharaktere die Stimmung doch noch verfehlen könnte, soll
nicht bestritten werden; es ist aber interessant, zu verfolgen, wie herrlich bei
Bruhns das Kolorit mithilft.

Dieses Rembraudtsche Helldunkel ist jetzt sehr in der Mode; und wenn
anch nicht jeder ein Rembrandt ist wie Brahms, so verfehlt doch die Anwen¬
dung des fahlen Lichtes allein schon nicht einen gewissen Effekt hervorzubringen,
der bei den speziellen Freunden des Kolorismus Erfolg bedeutet. Was wir bei
näherer Betrachtung in diesem Dämmerlichte zu erkennen vermögen, die sujets
dieser Tonbilder, sie sind oft herzlich unbedeutend, und doch — ein interessantes
Werk! ein bedeutendes Werk! hören wir hier und dort und gerade von seite»
derer, welche mit ihrem Urteil auf der Höhe der Zeit zu stehen scheinen, aus¬
sprechen. Und wahrhaftig, man kann ihnen nicht ganz Unrecht geben. Es ist
auch interessant, zu sehen, was sich allein durch das Kolorit machen läßt. Ich
will nicht weiter spezialisiren, kein Beispiel mehr anführen. Das Vrahmssche


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_193340/85>, abgerufen am 22.07.2024.