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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Drittes Quartal.

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Charlotte von Aalb und Jean j)aut.

aber völlig unter der Herrschaft ihrer Affekte gestanden zu haben, gleichviel ob
dieselben gute oder schlimme waren. Sie entbehrte jenes Gleichmaaßes, dessen
Mangel auf die Länge niemals einer Frau verziehen wird. Wir haben den
unheimlichen Eindruck, daß auch die Aufnahme der hier mitgeteilten spätern
Briefe bei Jenu Paul eine durchaus andre war, als die Schreiberin hoffen
konnte. Denn selbst nachdem Charlotte sich (wie früher Schiller gegenüber) ge¬
faßt und gefunden hatte, bleibt sie ein vulkanisches, eruptives Wesen, und der
ungeheure faustische Wiederspruch zwischen ihrem Begehren und ihrer Existenz
muß allen Freunden und Bekannten weh gethan haben. Ihr eigentümliches
Pathos mag der Zeit nicht so fremd gewesen sein, als es uns dünkt, doch läßt
sich nicht denken, daß die Geschraubtheit desselben völlig uuempfuudeu geblieben
sei. Um die einfache Thatsache auszudrücken, daß sie von Gestalten wie Jean
Pauls Leuette und überhaupt von vielen realistischen Momenten in ihres
Freundes Dichtungen nicht beglückt sei, schreibt sie (Berlin, den 19. März 1815)
"Aber keine Satire oder vielmehr üble Laune über Frauen nehme ich nicht auf,
man giebt dadurch uur dein Leumund Worte und der Schwäche Waffen. Die
Lieblichkeit und die Jugend der Sitten keimt allein in der Ruhe des Gemüts
und in der Seligkeit eines liebenden Willens; aber wie schwer ist es, bis jeder
Affekt gesondert ist. In diesem klaren Licht nur schaut eine Seele eine Seele."

Wir haben im Großen und Ganzen tausendfach Ursache, unsre klassische
Literaturperiode um ihre Männer und Frauen, um deu stolzerem Schwung der
Seele und die schlichtere Bescheidung in äußeren Lebeusforderuugen und Genüssen
zu beneiden. Die Eigenart von Geist, welche uns ans dem Leben und den
Briefen Charlottes von Kalb entgegentritt, dünkt uns minder beneidenswert,
obschon sie ohne Frage von der echten Farbe des achtzehnten Jnrhuuderts und
einer Periode ist, in welcher die fessellose Entwickelung der Individualität all¬
gemeine Losung war, und in welcher es auf Naturanlage, Schicksal, Glück und
Selbstzucht ankam, wie die Entwickelung schließlich ausfallen sollte. Bei der
Austeilung all dieser Voraussetzungen ist Charlotte von Marschalk jedenfalls
schlimm gefahren. Sie nahm sich selbst uuter deu Menschen ihrer Zeit trotz
glänzender Geistesgnbeu und eines dunkeln Dranges zum Rechten und Wahren
(eines Dranges freilich, der sich niemals zum festen Willen wandelte) "wie eine
Erscheinung aus einem andern Planeten" (Charlotte von Schiller) ans und
muß der Nachwelt vollends so erscheinen. Ein mit Bewundrung gemischtes Mitleid
ist auch bei der Lektüre ihrer Briefe an Jean Paul die Grundempfindung, die
in uns zurückbleibt und die bei der Mehrzahl der wenigen Leser, welche wir
diesen Briefen zu prophezeien wagen, erweckt werden wird.




Charlotte von Aalb und Jean j)aut.

aber völlig unter der Herrschaft ihrer Affekte gestanden zu haben, gleichviel ob
dieselben gute oder schlimme waren. Sie entbehrte jenes Gleichmaaßes, dessen
Mangel auf die Länge niemals einer Frau verziehen wird. Wir haben den
unheimlichen Eindruck, daß auch die Aufnahme der hier mitgeteilten spätern
Briefe bei Jenu Paul eine durchaus andre war, als die Schreiberin hoffen
konnte. Denn selbst nachdem Charlotte sich (wie früher Schiller gegenüber) ge¬
faßt und gefunden hatte, bleibt sie ein vulkanisches, eruptives Wesen, und der
ungeheure faustische Wiederspruch zwischen ihrem Begehren und ihrer Existenz
muß allen Freunden und Bekannten weh gethan haben. Ihr eigentümliches
Pathos mag der Zeit nicht so fremd gewesen sein, als es uns dünkt, doch läßt
sich nicht denken, daß die Geschraubtheit desselben völlig uuempfuudeu geblieben
sei. Um die einfache Thatsache auszudrücken, daß sie von Gestalten wie Jean
Pauls Leuette und überhaupt von vielen realistischen Momenten in ihres
Freundes Dichtungen nicht beglückt sei, schreibt sie (Berlin, den 19. März 1815)
„Aber keine Satire oder vielmehr üble Laune über Frauen nehme ich nicht auf,
man giebt dadurch uur dein Leumund Worte und der Schwäche Waffen. Die
Lieblichkeit und die Jugend der Sitten keimt allein in der Ruhe des Gemüts
und in der Seligkeit eines liebenden Willens; aber wie schwer ist es, bis jeder
Affekt gesondert ist. In diesem klaren Licht nur schaut eine Seele eine Seele."

Wir haben im Großen und Ganzen tausendfach Ursache, unsre klassische
Literaturperiode um ihre Männer und Frauen, um deu stolzerem Schwung der
Seele und die schlichtere Bescheidung in äußeren Lebeusforderuugen und Genüssen
zu beneiden. Die Eigenart von Geist, welche uns ans dem Leben und den
Briefen Charlottes von Kalb entgegentritt, dünkt uns minder beneidenswert,
obschon sie ohne Frage von der echten Farbe des achtzehnten Jnrhuuderts und
einer Periode ist, in welcher die fessellose Entwickelung der Individualität all¬
gemeine Losung war, und in welcher es auf Naturanlage, Schicksal, Glück und
Selbstzucht ankam, wie die Entwickelung schließlich ausfallen sollte. Bei der
Austeilung all dieser Voraussetzungen ist Charlotte von Marschalk jedenfalls
schlimm gefahren. Sie nahm sich selbst uuter deu Menschen ihrer Zeit trotz
glänzender Geistesgnbeu und eines dunkeln Dranges zum Rechten und Wahren
(eines Dranges freilich, der sich niemals zum festen Willen wandelte) „wie eine
Erscheinung aus einem andern Planeten" (Charlotte von Schiller) ans und
muß der Nachwelt vollends so erscheinen. Ein mit Bewundrung gemischtes Mitleid
ist auch bei der Lektüre ihrer Briefe an Jean Paul die Grundempfindung, die
in uns zurückbleibt und die bei der Mehrzahl der wenigen Leser, welche wir
diesen Briefen zu prophezeien wagen, erweckt werden wird.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_193340/523>, abgerufen am 23.07.2024.