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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Drittes Quartal.

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Lili russischer Gesellschaftsroman.

3.
Erwiederung Jacob Grimms an F. A. Märker.

Hochgeehrter Herr Professor, gestern konnte ich vor lauter Correcturen und
Manuscripten-Rüstung nicht dazu kommen, Ihnen zu danken.

Die beiden übersandten Gedichte sollen mich noch späterhin beschwichtigen
lind fühlen lassen, daß meine Gesinnung und mein Streben von Allen verkannt
wird. Es wird noch viel ungeduldiges Wasser die Spree hinnblanfen, ehe hier
das Land für deutsche Einheit reift und ehe nichts anderes mehr geschieht, als
was ihr entspricht.

Erhalten Sie dein Vereine ihre rege Thätigkeit; es soll mich freuen, ans
ihrem Munde von Zeit zu Zeit zu vernehmen, wie die Angelegenheit steht und
sich fortbewegt.


Hochachtend und ergebenst Ine ob Grimm.
den 26. Juni 1801.


Gin russischer Gesellschaftsroman.

l^R^ährend die Welt mit einer aus Spannung und Grauen, Furcht
und Hoffnung seltsam gemischten Teilnahme der Entwicklung der
russischen Dinge zuschaut und entgegensieht, während das große
Reich im Osten von krampfhaften Zuckungen bewegt wird, geht
das Leben seinen Gang auch dort weiter, und immer sind es mir
einzelne Schreckenstage und Schreckensszenen, welche den Lauf des Alltags und
der gesellschaftlichen Gewohnheit unterbrechen. Ob auch die moralischen Grund¬
lagen der Gemüter, ob die realen oder öffentlichen Zustünde erschüttert und
schwer bedroht sind: "sie essen und trinken, sie freien und lassen sich freien."
Weil es nicht anders sein kann und in den heftigsten Katastrophen und Um¬
wälzungen der Weltgeschichte nicht anders gewesen ist, mag sich der flache Sinn
selbst den bittern Ernst der Erscheinungen Hinwegreden, die in der russischen
Welt zu Tage treten. Haben wir doch erlebt, daß uns (freilich vor dem Morde
Kaiser Alexanders II.) in Petersburg und Moskau lebende, scheinbar zurech¬
nungsfähige Männer erzählten: das ganze Gerede von tiefgehenden und krampf¬
haften Bewegungen in der russischen Gesellschaft sei Zeituugserfinduug, und nirgend
lebe es sich behaglicher, friedlich-geselliger und unbesorgter als in den großen
Städten Rußlands, Da es Leute gegeben haben soll, welche die Existenz


Lili russischer Gesellschaftsroman.

3.
Erwiederung Jacob Grimms an F. A. Märker.

Hochgeehrter Herr Professor, gestern konnte ich vor lauter Correcturen und
Manuscripten-Rüstung nicht dazu kommen, Ihnen zu danken.

Die beiden übersandten Gedichte sollen mich noch späterhin beschwichtigen
lind fühlen lassen, daß meine Gesinnung und mein Streben von Allen verkannt
wird. Es wird noch viel ungeduldiges Wasser die Spree hinnblanfen, ehe hier
das Land für deutsche Einheit reift und ehe nichts anderes mehr geschieht, als
was ihr entspricht.

Erhalten Sie dein Vereine ihre rege Thätigkeit; es soll mich freuen, ans
ihrem Munde von Zeit zu Zeit zu vernehmen, wie die Angelegenheit steht und
sich fortbewegt.


Hochachtend und ergebenst Ine ob Grimm.
den 26. Juni 1801.


Gin russischer Gesellschaftsroman.

l^R^ährend die Welt mit einer aus Spannung und Grauen, Furcht
und Hoffnung seltsam gemischten Teilnahme der Entwicklung der
russischen Dinge zuschaut und entgegensieht, während das große
Reich im Osten von krampfhaften Zuckungen bewegt wird, geht
das Leben seinen Gang auch dort weiter, und immer sind es mir
einzelne Schreckenstage und Schreckensszenen, welche den Lauf des Alltags und
der gesellschaftlichen Gewohnheit unterbrechen. Ob auch die moralischen Grund¬
lagen der Gemüter, ob die realen oder öffentlichen Zustünde erschüttert und
schwer bedroht sind: „sie essen und trinken, sie freien und lassen sich freien."
Weil es nicht anders sein kann und in den heftigsten Katastrophen und Um¬
wälzungen der Weltgeschichte nicht anders gewesen ist, mag sich der flache Sinn
selbst den bittern Ernst der Erscheinungen Hinwegreden, die in der russischen
Welt zu Tage treten. Haben wir doch erlebt, daß uns (freilich vor dem Morde
Kaiser Alexanders II.) in Petersburg und Moskau lebende, scheinbar zurech¬
nungsfähige Männer erzählten: das ganze Gerede von tiefgehenden und krampf¬
haften Bewegungen in der russischen Gesellschaft sei Zeituugserfinduug, und nirgend
lebe es sich behaglicher, friedlich-geselliger und unbesorgter als in den großen
Städten Rußlands, Da es Leute gegeben haben soll, welche die Existenz


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[0471] Lili russischer Gesellschaftsroman. 3. Erwiederung Jacob Grimms an F. A. Märker. Hochgeehrter Herr Professor, gestern konnte ich vor lauter Correcturen und Manuscripten-Rüstung nicht dazu kommen, Ihnen zu danken. Die beiden übersandten Gedichte sollen mich noch späterhin beschwichtigen lind fühlen lassen, daß meine Gesinnung und mein Streben von Allen verkannt wird. Es wird noch viel ungeduldiges Wasser die Spree hinnblanfen, ehe hier das Land für deutsche Einheit reift und ehe nichts anderes mehr geschieht, als was ihr entspricht. Erhalten Sie dein Vereine ihre rege Thätigkeit; es soll mich freuen, ans ihrem Munde von Zeit zu Zeit zu vernehmen, wie die Angelegenheit steht und sich fortbewegt. Hochachtend und ergebenst Ine ob Grimm. den 26. Juni 1801. Gin russischer Gesellschaftsroman. l^R^ährend die Welt mit einer aus Spannung und Grauen, Furcht und Hoffnung seltsam gemischten Teilnahme der Entwicklung der russischen Dinge zuschaut und entgegensieht, während das große Reich im Osten von krampfhaften Zuckungen bewegt wird, geht das Leben seinen Gang auch dort weiter, und immer sind es mir einzelne Schreckenstage und Schreckensszenen, welche den Lauf des Alltags und der gesellschaftlichen Gewohnheit unterbrechen. Ob auch die moralischen Grund¬ lagen der Gemüter, ob die realen oder öffentlichen Zustünde erschüttert und schwer bedroht sind: „sie essen und trinken, sie freien und lassen sich freien." Weil es nicht anders sein kann und in den heftigsten Katastrophen und Um¬ wälzungen der Weltgeschichte nicht anders gewesen ist, mag sich der flache Sinn selbst den bittern Ernst der Erscheinungen Hinwegreden, die in der russischen Welt zu Tage treten. Haben wir doch erlebt, daß uns (freilich vor dem Morde Kaiser Alexanders II.) in Petersburg und Moskau lebende, scheinbar zurech¬ nungsfähige Männer erzählten: das ganze Gerede von tiefgehenden und krampf¬ haften Bewegungen in der russischen Gesellschaft sei Zeituugserfinduug, und nirgend lebe es sich behaglicher, friedlich-geselliger und unbesorgter als in den großen Städten Rußlands, Da es Leute gegeben haben soll, welche die Existenz

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_193340/471>, abgerufen am 22.07.2024.