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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Drittes Quartal.

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und die ihm durch den neuen Freiheitskrieg zugewandte hohe Aufgabe wieder
mit der strengen patriotisch-sittlichen Gesinnung jenes ersten Freiheitskrieges hätte
in die Hand nehmen und sofort einer des großen Sieges würdigen Lösung ent¬
gegenführen können. Erheischte doch die Aufgabe keineswegs eine bloße theoretisch-
formale Abfassung aller der mit dein Bundesrate nun zu vereinbarenden finan¬
ziellen, ökonomischen, administrativen und juristischen Reichsgesetze, sondern hatte
sie doch neben der allgemeinen theoretischen Nichtigkeit anch ihre besondre national-
reale Zweckmäßigkeit inS Auge zu fassen, hatte zu erwägen, wie weit die Feststellung
eines jeden den zeitlich und örtlich gegebenen, historischen und geographischen
Lebensbedingungen und Entwicklungsbedürfnissen des deutscheu Volkes entsprechen
und dadurch unser neues, erst halbfertiges Bnndesreich in den Stand setzen werde,
daß es gegenüber den schon seit Jahrhunderten fertigen übrigen Großstaaten
seine ebenbürtige Stelle einnehme. Namentlich aber waren dabei zwei bedingende
Thatsachen zu berücksichtige"!: einmal die unsichere, sowohl historisch als geo¬
graphisch gefährliche Lage Deutschlands zwischen Frankreich und Rußland, zweitens
unser uralter, nur immer in den Tagen der Begeisterung stoßweise zurücktretender
Mangel an Nationalgefühl und dagegen fortdauernder Überfluß an persön¬
lichem Selbstgefühl und Unabhängigkeitsdünkel, an jenem, nnter dem Namen der
I^iverttrs OvrNmnivu. wohlbekannten, bald mehr korporativen, bald mehr indivi¬
duellen Diiukel und Trotz, der zum Zerfall des alten Reiches so wesentlich mit¬
gewirkt und der seit bald zweitausend Jahren (schon seit den Tagen Arnims)
auch heute noch, auf kosten unsers nationalen Stolzes und Selbstgefühls, noch
immer lustig fvrtwnchert.") Und da gegen diese doppelte, von außen und innen
drohende Gefahr das neue Reich nnr ein genügendes Schutz- und Heilmittel
besitzt, seine Wehrpflicht und Heereseinrichtung, so hatte die neue Gesetzgebung
vor allem der Pflege dieser kostbaren Preußisch-dentschen Errungenschaft, dieses
zugleich schirmenden und erziehenden, zugleich als Schild und als Schule dienenden
nationalen LebenSzweigeS patriotische Rechnung zu tragen.

Aber der hier bezeichnete strenge Maßstab einer nationalen Realpolitik war
leider nicht der, mit dein die liberale Majorität an ihre legislative Aufgabe
herantrat; vielmehr bewegte sich dieselbe noch immer vorzugsweise auf dein um
sichern metaphysischen Boden jenes vor dreiundzwanzig Jahren in den Frank¬
furter Grundrechten zu ephemerer Geltung gelangten unrealen Psendo-Idealismus,
jener allgemeinen egoi stisch - freiheitliche!,, materialistisch - humanen, demokratisch-
internationalen Theorien und Doktrinen, an die (wie oben erwähnt) der deutsche
Liberalismus sein nationales Gefühl und Gewissen allmählich verloren hatte, und
deren legislativer Verwirklichung derselbe nnn auch jetzt nicht anstand viele lebendige



Von einem ausländischen regierenden Fürsten, der, deutsch geboren, Gelegenheit gehabt
hatte, auch Rußland, England und Frankreich genau kenne" zu lernen, hörte ich einmal die
Bemerkung: Dasjenige Individuum der vier Nationen, bei dein er den nationalen Sept,;
am schwächsten, den Persönlichen Dünkel um stärksten entwickelt gefunden, sei das deutsche.

und die ihm durch den neuen Freiheitskrieg zugewandte hohe Aufgabe wieder
mit der strengen patriotisch-sittlichen Gesinnung jenes ersten Freiheitskrieges hätte
in die Hand nehmen und sofort einer des großen Sieges würdigen Lösung ent¬
gegenführen können. Erheischte doch die Aufgabe keineswegs eine bloße theoretisch-
formale Abfassung aller der mit dein Bundesrate nun zu vereinbarenden finan¬
ziellen, ökonomischen, administrativen und juristischen Reichsgesetze, sondern hatte
sie doch neben der allgemeinen theoretischen Nichtigkeit anch ihre besondre national-
reale Zweckmäßigkeit inS Auge zu fassen, hatte zu erwägen, wie weit die Feststellung
eines jeden den zeitlich und örtlich gegebenen, historischen und geographischen
Lebensbedingungen und Entwicklungsbedürfnissen des deutscheu Volkes entsprechen
und dadurch unser neues, erst halbfertiges Bnndesreich in den Stand setzen werde,
daß es gegenüber den schon seit Jahrhunderten fertigen übrigen Großstaaten
seine ebenbürtige Stelle einnehme. Namentlich aber waren dabei zwei bedingende
Thatsachen zu berücksichtige»!: einmal die unsichere, sowohl historisch als geo¬
graphisch gefährliche Lage Deutschlands zwischen Frankreich und Rußland, zweitens
unser uralter, nur immer in den Tagen der Begeisterung stoßweise zurücktretender
Mangel an Nationalgefühl und dagegen fortdauernder Überfluß an persön¬
lichem Selbstgefühl und Unabhängigkeitsdünkel, an jenem, nnter dem Namen der
I^iverttrs OvrNmnivu. wohlbekannten, bald mehr korporativen, bald mehr indivi¬
duellen Diiukel und Trotz, der zum Zerfall des alten Reiches so wesentlich mit¬
gewirkt und der seit bald zweitausend Jahren (schon seit den Tagen Arnims)
auch heute noch, auf kosten unsers nationalen Stolzes und Selbstgefühls, noch
immer lustig fvrtwnchert.") Und da gegen diese doppelte, von außen und innen
drohende Gefahr das neue Reich nnr ein genügendes Schutz- und Heilmittel
besitzt, seine Wehrpflicht und Heereseinrichtung, so hatte die neue Gesetzgebung
vor allem der Pflege dieser kostbaren Preußisch-dentschen Errungenschaft, dieses
zugleich schirmenden und erziehenden, zugleich als Schild und als Schule dienenden
nationalen LebenSzweigeS patriotische Rechnung zu tragen.

Aber der hier bezeichnete strenge Maßstab einer nationalen Realpolitik war
leider nicht der, mit dein die liberale Majorität an ihre legislative Aufgabe
herantrat; vielmehr bewegte sich dieselbe noch immer vorzugsweise auf dein um
sichern metaphysischen Boden jenes vor dreiundzwanzig Jahren in den Frank¬
furter Grundrechten zu ephemerer Geltung gelangten unrealen Psendo-Idealismus,
jener allgemeinen egoi stisch - freiheitliche!,, materialistisch - humanen, demokratisch-
internationalen Theorien und Doktrinen, an die (wie oben erwähnt) der deutsche
Liberalismus sein nationales Gefühl und Gewissen allmählich verloren hatte, und
deren legislativer Verwirklichung derselbe nnn auch jetzt nicht anstand viele lebendige



Von einem ausländischen regierenden Fürsten, der, deutsch geboren, Gelegenheit gehabt
hatte, auch Rußland, England und Frankreich genau kenne» zu lernen, hörte ich einmal die
Bemerkung: Dasjenige Individuum der vier Nationen, bei dein er den nationalen Sept,;
am schwächsten, den Persönlichen Dünkel um stärksten entwickelt gefunden, sei das deutsche.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_193340/455>, abgerufen am 25.08.2024.