Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Drittes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Zukunfts - Philosophie.

b
wvhl Heine denjenigen einen Narren genannt hat, der ans die
Fragen nach dein "qualvoll uralten Rätsel des Lebens: Was be¬
deutet der Mensch? Woher ist er kommen? Wo geht er hin?
Wer wohnt dort oben ans goldnen Sternen?" Antwort er¬
wartet, haben die "armen schwitzenden Menschenhäupter" doch
keineswegs aufgehört, uach Antwort für dieselben zu suchen und zu grübeln,
und sich selbst mehr oder weniger geschickt solche Antworten zurechtzudrechseln.
Ein solcher Versuch, recht trotzig und selbstbewußt auftretend, liegt uns auch
vor in dem neuen philosophische System von Julius Bahuseu, in zwei Bänden,
deren erster schon die zweite Ausgabe erlebt, während der zweite erst nach
dem frühzeitigen Tode des Verfassers das Licht der Welt erblickt hat. Das
Buch nennt sich "Der Widerspruch im Wissen und Wesen der Welt" oder
"Reäldialektik."')

Es weht etwas wie rauhe Nordsecluft aus der nordfriesischen Heimat des
Verfassers in diesem Buche.


Es murmeln die Wogen ihr co'ges Gemurmel,
Es weht der Wind, es fliehen die Wolken,
ES blicken die Sterne gleichgiltig und kalt,

aber Bahnsen ist nicht jener Narr, der auf Antwort wartet, sondern titanenhaft
trotzig, wie die alten Sagenhelden seiner Heimat, mit allen Hilfsmitteln des
Scharfsinns und der ausgebreitetsten Gelehrsamkeit will er jene Fragen gewaltsam
losen. Er kommt damit zu einem Resultat, welches wohl seiner eignen Stim¬
mung "nach allerbittersten Lebeuserfcchrnngen" Genüge thun mochte, für andre
aber doch nicht brauchbar ist.

Das Rätsel des Lebens und Daseins löst sich für ihn im letzten Grnnde
durch den Schopenhanerschen Urwillen, der leben will und dann sogleich wieder
nicht leben will; der sich zum Selbstbewußtsein hinaufentwickelt und sofort wieder
begreift, daß es besser wäre, kein Bewußtsein zu haben; der liebt und haßt und
Gutes und Böses, Zweckmäßiges und UrMveckmäßiges zugleich hervorbringt; der,
sowie er thätig wird, sich selbst entzweit, überall dem menschlichen Erkennen
nach den Regeln der Logik Widersprüche entgegensetzt, und darum selbst alogisch
und autilogisch ist, und nur durch eine intuitive Apperzeption, eine Anschauung,
die dein Denken vorhergeht, uns zum Bewußtsein oder zur Erkenntnis (?) gebracht



") Der Widerspruch im Wissen und Wesen der Welt. Prinzip und Einzel-
bewtihrmig der Realdmlektik. Bon Dr. Julius Bahnsen. Leipzig, Th. Grlebcns Verlag,
1882.
Zukunfts - Philosophie.

b
wvhl Heine denjenigen einen Narren genannt hat, der ans die
Fragen nach dein „qualvoll uralten Rätsel des Lebens: Was be¬
deutet der Mensch? Woher ist er kommen? Wo geht er hin?
Wer wohnt dort oben ans goldnen Sternen?" Antwort er¬
wartet, haben die „armen schwitzenden Menschenhäupter" doch
keineswegs aufgehört, uach Antwort für dieselben zu suchen und zu grübeln,
und sich selbst mehr oder weniger geschickt solche Antworten zurechtzudrechseln.
Ein solcher Versuch, recht trotzig und selbstbewußt auftretend, liegt uns auch
vor in dem neuen philosophische System von Julius Bahuseu, in zwei Bänden,
deren erster schon die zweite Ausgabe erlebt, während der zweite erst nach
dem frühzeitigen Tode des Verfassers das Licht der Welt erblickt hat. Das
Buch nennt sich „Der Widerspruch im Wissen und Wesen der Welt" oder
„Reäldialektik."')

Es weht etwas wie rauhe Nordsecluft aus der nordfriesischen Heimat des
Verfassers in diesem Buche.


Es murmeln die Wogen ihr co'ges Gemurmel,
Es weht der Wind, es fliehen die Wolken,
ES blicken die Sterne gleichgiltig und kalt,

aber Bahnsen ist nicht jener Narr, der auf Antwort wartet, sondern titanenhaft
trotzig, wie die alten Sagenhelden seiner Heimat, mit allen Hilfsmitteln des
Scharfsinns und der ausgebreitetsten Gelehrsamkeit will er jene Fragen gewaltsam
losen. Er kommt damit zu einem Resultat, welches wohl seiner eignen Stim¬
mung „nach allerbittersten Lebeuserfcchrnngen" Genüge thun mochte, für andre
aber doch nicht brauchbar ist.

Das Rätsel des Lebens und Daseins löst sich für ihn im letzten Grnnde
durch den Schopenhanerschen Urwillen, der leben will und dann sogleich wieder
nicht leben will; der sich zum Selbstbewußtsein hinaufentwickelt und sofort wieder
begreift, daß es besser wäre, kein Bewußtsein zu haben; der liebt und haßt und
Gutes und Böses, Zweckmäßiges und UrMveckmäßiges zugleich hervorbringt; der,
sowie er thätig wird, sich selbst entzweit, überall dem menschlichen Erkennen
nach den Regeln der Logik Widersprüche entgegensetzt, und darum selbst alogisch
und autilogisch ist, und nur durch eine intuitive Apperzeption, eine Anschauung,
die dein Denken vorhergeht, uns zum Bewußtsein oder zur Erkenntnis (?) gebracht



") Der Widerspruch im Wissen und Wesen der Welt. Prinzip und Einzel-
bewtihrmig der Realdmlektik. Bon Dr. Julius Bahnsen. Leipzig, Th. Grlebcns Verlag,
1882.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0404" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/193745"/>
          </div>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Zukunfts - Philosophie.</head><lb/>
          <p xml:id="ID_1340"> b<lb/>
wvhl Heine denjenigen einen Narren genannt hat, der ans die<lb/>
Fragen nach dein &#x201E;qualvoll uralten Rätsel des Lebens: Was be¬<lb/>
deutet der Mensch? Woher ist er kommen? Wo geht er hin?<lb/>
Wer wohnt dort oben ans goldnen Sternen?" Antwort er¬<lb/>
wartet, haben die &#x201E;armen schwitzenden Menschenhäupter" doch<lb/>
keineswegs aufgehört, uach Antwort für dieselben zu suchen und zu grübeln,<lb/>
und sich selbst mehr oder weniger geschickt solche Antworten zurechtzudrechseln.<lb/>
Ein solcher Versuch, recht trotzig und selbstbewußt auftretend, liegt uns auch<lb/>
vor in dem neuen philosophische System von Julius Bahuseu, in zwei Bänden,<lb/>
deren erster schon die zweite Ausgabe erlebt, während der zweite erst nach<lb/>
dem frühzeitigen Tode des Verfassers das Licht der Welt erblickt hat. Das<lb/>
Buch nennt sich &#x201E;Der Widerspruch im Wissen und Wesen der Welt" oder<lb/>
&#x201E;Reäldialektik."')</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1341" next="#ID_1342"> Es weht etwas wie rauhe Nordsecluft aus der nordfriesischen Heimat des<lb/>
Verfassers in diesem Buche.</p><lb/>
          <quote> Es murmeln die Wogen ihr co'ges Gemurmel,<lb/>
Es weht der Wind, es fliehen die Wolken,<lb/>
ES blicken die Sterne gleichgiltig und kalt,</quote><lb/>
          <p xml:id="ID_1342" prev="#ID_1341"> aber Bahnsen ist nicht jener Narr, der auf Antwort wartet, sondern titanenhaft<lb/>
trotzig, wie die alten Sagenhelden seiner Heimat, mit allen Hilfsmitteln des<lb/>
Scharfsinns und der ausgebreitetsten Gelehrsamkeit will er jene Fragen gewaltsam<lb/>
losen. Er kommt damit zu einem Resultat, welches wohl seiner eignen Stim¬<lb/>
mung &#x201E;nach allerbittersten Lebeuserfcchrnngen" Genüge thun mochte, für andre<lb/>
aber doch nicht brauchbar ist.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1343" next="#ID_1344"> Das Rätsel des Lebens und Daseins löst sich für ihn im letzten Grnnde<lb/>
durch den Schopenhanerschen Urwillen, der leben will und dann sogleich wieder<lb/>
nicht leben will; der sich zum Selbstbewußtsein hinaufentwickelt und sofort wieder<lb/>
begreift, daß es besser wäre, kein Bewußtsein zu haben; der liebt und haßt und<lb/>
Gutes und Böses, Zweckmäßiges und UrMveckmäßiges zugleich hervorbringt; der,<lb/>
sowie er thätig wird, sich selbst entzweit, überall dem menschlichen Erkennen<lb/>
nach den Regeln der Logik Widersprüche entgegensetzt, und darum selbst alogisch<lb/>
und autilogisch ist, und nur durch eine intuitive Apperzeption, eine Anschauung,<lb/>
die dein Denken vorhergeht, uns zum Bewußtsein oder zur Erkenntnis (?) gebracht</p><lb/>
          <note xml:id="FID_32" place="foot"> ") Der Widerspruch im Wissen und Wesen der Welt. Prinzip und Einzel-<lb/>
bewtihrmig der Realdmlektik. Bon Dr. Julius Bahnsen. Leipzig, Th. Grlebcns Verlag,<lb/>
1882.</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0404] Zukunfts - Philosophie. b wvhl Heine denjenigen einen Narren genannt hat, der ans die Fragen nach dein „qualvoll uralten Rätsel des Lebens: Was be¬ deutet der Mensch? Woher ist er kommen? Wo geht er hin? Wer wohnt dort oben ans goldnen Sternen?" Antwort er¬ wartet, haben die „armen schwitzenden Menschenhäupter" doch keineswegs aufgehört, uach Antwort für dieselben zu suchen und zu grübeln, und sich selbst mehr oder weniger geschickt solche Antworten zurechtzudrechseln. Ein solcher Versuch, recht trotzig und selbstbewußt auftretend, liegt uns auch vor in dem neuen philosophische System von Julius Bahuseu, in zwei Bänden, deren erster schon die zweite Ausgabe erlebt, während der zweite erst nach dem frühzeitigen Tode des Verfassers das Licht der Welt erblickt hat. Das Buch nennt sich „Der Widerspruch im Wissen und Wesen der Welt" oder „Reäldialektik."') Es weht etwas wie rauhe Nordsecluft aus der nordfriesischen Heimat des Verfassers in diesem Buche. Es murmeln die Wogen ihr co'ges Gemurmel, Es weht der Wind, es fliehen die Wolken, ES blicken die Sterne gleichgiltig und kalt, aber Bahnsen ist nicht jener Narr, der auf Antwort wartet, sondern titanenhaft trotzig, wie die alten Sagenhelden seiner Heimat, mit allen Hilfsmitteln des Scharfsinns und der ausgebreitetsten Gelehrsamkeit will er jene Fragen gewaltsam losen. Er kommt damit zu einem Resultat, welches wohl seiner eignen Stim¬ mung „nach allerbittersten Lebeuserfcchrnngen" Genüge thun mochte, für andre aber doch nicht brauchbar ist. Das Rätsel des Lebens und Daseins löst sich für ihn im letzten Grnnde durch den Schopenhanerschen Urwillen, der leben will und dann sogleich wieder nicht leben will; der sich zum Selbstbewußtsein hinaufentwickelt und sofort wieder begreift, daß es besser wäre, kein Bewußtsein zu haben; der liebt und haßt und Gutes und Böses, Zweckmäßiges und UrMveckmäßiges zugleich hervorbringt; der, sowie er thätig wird, sich selbst entzweit, überall dem menschlichen Erkennen nach den Regeln der Logik Widersprüche entgegensetzt, und darum selbst alogisch und autilogisch ist, und nur durch eine intuitive Apperzeption, eine Anschauung, die dein Denken vorhergeht, uns zum Bewußtsein oder zur Erkenntnis (?) gebracht ") Der Widerspruch im Wissen und Wesen der Welt. Prinzip und Einzel- bewtihrmig der Realdmlektik. Bon Dr. Julius Bahnsen. Leipzig, Th. Grlebcns Verlag, 1882.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_193340
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_193340/404
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_193340/404>, abgerufen am 25.08.2024.