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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Drittes Quartal.

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Dieser Schritt der Türkei ist vermutlich infolge von Bemühungen der östlichen
Mächte gethan worden, und man darf wohl noch erwarten, daß das Kabinet
Gladstone sich mit letztere" nicht in Widerspruch scheu wird, da der Vorteil
eines isolirten Vorgehens Englands zweifelhafter Natur ist, indem schließlich
doch den Interessen Gesammtenropas -- ganz wie auf dem Berliner Kongreß
nach dem Frieden von San Stefano -- die ihnen gebührende Beachtung zu
teil werden würde.

Dies wird ungefähr der Ausdruck der öffentlichen Meinung auf dein
europäischen Festlande sein. Mau nimmt hier fast ausnahmslos Partei gegen
die englische Politik in der ägyptischen Angelegenheit und würde derselben eine
tüchtige Schlappe von Herzen gönnen. Etwas anderes ist es mit der Politik
der deutschen Negierung in der Sache. Es wäre unrichtig, wenn der Geist,
der im Berliner Auswärtigen Amte waltet, unsere guten Beziehungen zu irgend
einer der Mächte ohne dringende Nötigung durch die Umstände, durch verletzende
Parteinahme gegen dieselbe oder Eingreifen in deren Bestrebungen gefährden
wollte. Wir sind in der Loge, uicht auf der Bühne, und keine Schulmeister
und Tugcndwächter. Mit anderen Worten: Deutschland hat an dem, was in
Ägypten geschieht oder unterbleibt, nur ein geringes direktes Interesse, und es
hat ferner nicht den Beruf, in Europa den Zensor zu spielen und andern Staaten in
Bezug auf Dinge, die ihm nichts oder wenig nützen oder schaden können, Vorschriften
zu machen, wie dies bis 1870 von feiten Frankreichs geschah. Nach dieser An¬
schauung ist die deutsche Politik bisher immer verfahren, und so wird sie es auch in
dieser Frage und allen ferneren halten. Für England ist die Sicherstellung des
Suezkanals eine Frage ersten Ranges, für uns existirt dieses Bedürfnis kaum. Wir
haben unsre Interessen, nicht die von andern Völkern zu wahren. Demzufolge wird
Deutschland weder den Engländern ein Mandat erteilen, am Nil ohne die Pforte
zu handeln und zu beschließen, noch England verhindern, dort zu thun, was es im
britischen Interesse für notwendig hält. Verpflichtet zu einem Eingreifen in die
Entscheidung der Frage würde man erst dann sein, wenn dieselbe eine Gestalt an¬
nehmen wollte oder bereits angenommen hätte, welche unser Interesse bedrohte
oder deu Frieden in Europa gefährdete, und diese Konstellation ist noch unter
dem Horizonte. Steigt sie aus, was keineswegs sicher ist, fo wird es immer
noch Zeit sein, Entschlüsse zu fassen und Partei zu nehmen -- für den Frieden
natürlich, immer für den Frieden.




Dieser Schritt der Türkei ist vermutlich infolge von Bemühungen der östlichen
Mächte gethan worden, und man darf wohl noch erwarten, daß das Kabinet
Gladstone sich mit letztere« nicht in Widerspruch scheu wird, da der Vorteil
eines isolirten Vorgehens Englands zweifelhafter Natur ist, indem schließlich
doch den Interessen Gesammtenropas — ganz wie auf dem Berliner Kongreß
nach dem Frieden von San Stefano — die ihnen gebührende Beachtung zu
teil werden würde.

Dies wird ungefähr der Ausdruck der öffentlichen Meinung auf dein
europäischen Festlande sein. Mau nimmt hier fast ausnahmslos Partei gegen
die englische Politik in der ägyptischen Angelegenheit und würde derselben eine
tüchtige Schlappe von Herzen gönnen. Etwas anderes ist es mit der Politik
der deutschen Negierung in der Sache. Es wäre unrichtig, wenn der Geist,
der im Berliner Auswärtigen Amte waltet, unsere guten Beziehungen zu irgend
einer der Mächte ohne dringende Nötigung durch die Umstände, durch verletzende
Parteinahme gegen dieselbe oder Eingreifen in deren Bestrebungen gefährden
wollte. Wir sind in der Loge, uicht auf der Bühne, und keine Schulmeister
und Tugcndwächter. Mit anderen Worten: Deutschland hat an dem, was in
Ägypten geschieht oder unterbleibt, nur ein geringes direktes Interesse, und es
hat ferner nicht den Beruf, in Europa den Zensor zu spielen und andern Staaten in
Bezug auf Dinge, die ihm nichts oder wenig nützen oder schaden können, Vorschriften
zu machen, wie dies bis 1870 von feiten Frankreichs geschah. Nach dieser An¬
schauung ist die deutsche Politik bisher immer verfahren, und so wird sie es auch in
dieser Frage und allen ferneren halten. Für England ist die Sicherstellung des
Suezkanals eine Frage ersten Ranges, für uns existirt dieses Bedürfnis kaum. Wir
haben unsre Interessen, nicht die von andern Völkern zu wahren. Demzufolge wird
Deutschland weder den Engländern ein Mandat erteilen, am Nil ohne die Pforte
zu handeln und zu beschließen, noch England verhindern, dort zu thun, was es im
britischen Interesse für notwendig hält. Verpflichtet zu einem Eingreifen in die
Entscheidung der Frage würde man erst dann sein, wenn dieselbe eine Gestalt an¬
nehmen wollte oder bereits angenommen hätte, welche unser Interesse bedrohte
oder deu Frieden in Europa gefährdete, und diese Konstellation ist noch unter
dem Horizonte. Steigt sie aus, was keineswegs sicher ist, fo wird es immer
noch Zeit sein, Entschlüsse zu fassen und Partei zu nehmen — für den Frieden
natürlich, immer für den Frieden.




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[0328] Dieser Schritt der Türkei ist vermutlich infolge von Bemühungen der östlichen Mächte gethan worden, und man darf wohl noch erwarten, daß das Kabinet Gladstone sich mit letztere« nicht in Widerspruch scheu wird, da der Vorteil eines isolirten Vorgehens Englands zweifelhafter Natur ist, indem schließlich doch den Interessen Gesammtenropas — ganz wie auf dem Berliner Kongreß nach dem Frieden von San Stefano — die ihnen gebührende Beachtung zu teil werden würde. Dies wird ungefähr der Ausdruck der öffentlichen Meinung auf dein europäischen Festlande sein. Mau nimmt hier fast ausnahmslos Partei gegen die englische Politik in der ägyptischen Angelegenheit und würde derselben eine tüchtige Schlappe von Herzen gönnen. Etwas anderes ist es mit der Politik der deutschen Negierung in der Sache. Es wäre unrichtig, wenn der Geist, der im Berliner Auswärtigen Amte waltet, unsere guten Beziehungen zu irgend einer der Mächte ohne dringende Nötigung durch die Umstände, durch verletzende Parteinahme gegen dieselbe oder Eingreifen in deren Bestrebungen gefährden wollte. Wir sind in der Loge, uicht auf der Bühne, und keine Schulmeister und Tugcndwächter. Mit anderen Worten: Deutschland hat an dem, was in Ägypten geschieht oder unterbleibt, nur ein geringes direktes Interesse, und es hat ferner nicht den Beruf, in Europa den Zensor zu spielen und andern Staaten in Bezug auf Dinge, die ihm nichts oder wenig nützen oder schaden können, Vorschriften zu machen, wie dies bis 1870 von feiten Frankreichs geschah. Nach dieser An¬ schauung ist die deutsche Politik bisher immer verfahren, und so wird sie es auch in dieser Frage und allen ferneren halten. Für England ist die Sicherstellung des Suezkanals eine Frage ersten Ranges, für uns existirt dieses Bedürfnis kaum. Wir haben unsre Interessen, nicht die von andern Völkern zu wahren. Demzufolge wird Deutschland weder den Engländern ein Mandat erteilen, am Nil ohne die Pforte zu handeln und zu beschließen, noch England verhindern, dort zu thun, was es im britischen Interesse für notwendig hält. Verpflichtet zu einem Eingreifen in die Entscheidung der Frage würde man erst dann sein, wenn dieselbe eine Gestalt an¬ nehmen wollte oder bereits angenommen hätte, welche unser Interesse bedrohte oder deu Frieden in Europa gefährdete, und diese Konstellation ist noch unter dem Horizonte. Steigt sie aus, was keineswegs sicher ist, fo wird es immer noch Zeit sein, Entschlüsse zu fassen und Partei zu nehmen — für den Frieden natürlich, immer für den Frieden.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_193340/328>, abgerufen am 22.07.2024.