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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Drittes Quartal.

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Der junge Schiller im Urteile seiner Zeitgenossen.

des Zuschauers entspringen zu lassen. Dom Carlos tobt in der ersten Scene,
er wüthet vor dem Ende des ersten Auszugs -- was wird er im dritten und
vierten, was kann er im fünften thun?"

Als das ganze in der Umarbeitung gedruckt vorlag, lautete ein Urteil
uoch sehr zurückhaltend: "So wenig die strenge, eigensinnige Kritik mit der An¬
lage des Ganzen und der Ausführung im Einzelnen, mit der Zeichnung der
Charaktere nud der Sprache der Leidenschaft durchaus zufrieden sehn kann, so
wird sie doch, ohne die größte Ungerechtigkeit zu begehen, nicht läugnen dürfen,
daß alle diese einzelnen Fehler durch eine Menge ungleich größerer Schönheiten
verdeckt, und den Augen des Lesers fast ganz entzogen werden. Dieses Stück
ist offenbar uicht für das Theater geschrieben, und doch zeigt sich Hr. S. in
demselben fast mehr, als in allen seinen vorigen Stücken, als ein Dichter von
großem dramatischen Genie. Wenn er die Gesetze und Regeln der dramatischen
Poesie (wir reden nicht von den willkürlichen Conventionen) sich mehr bekannt
machen, oder, im Fall er sie kennt, genauer befolgen wollte, wenn er, der das
menschliche Herz so gut zu kennen scheint, um auch die wahre Sprache der
Empfindung nud Leidenschaft, und die Sitten der Welt, aus welcher er seine
handelnden Personen wählt, mehr studiren wollte, so wäre wohl kein Zweifel,
daß er uns Stücke liefern könnte, die unsern besten den Rang streitig machen
würden." Die berühmte Szene zwischen Philipp und Posa ist ganz und gar
nicht uach dem Geschmack des Kritikus, sie ist ihm "so mystisch dunkel, daß
Recens. gern gesteht, nicht den dritten Theil davon verstanden zu haben. Was
für ein geduldiger Mann mußte der alte König seyn, der sich von diesem jungen
Schwindelkopf solche Dinge, auf eine solche Art gesagt, ohne ihm den Rücken
zuzukehren, vordeclamire" lassen konnte!"

Im Gegensatz hierzu atmet eine andre Besprechung die reinste Begeisterung:
"Was dem durch ein Mißjahr getrübten Blick des Landmanns der Anblick einer
versprechenden überreichen Erndte ist, war uus Don Karlos, nach der Menge
der dramatischen Mißgeburten, welche zur Beurtheilung vor uns lagen. . . Lange
schon, durch vortrefliche Proben, in der Thalia, lüstern gemacht, harrten wir
muss ganze Meisterstück; jetzt steht es vor uns, kühn aufgeführt, bewundert
und angestaunt. Hingerissen von diesen: Gefühl, kehrt uur nach und nach der
Spähungsgeist zurück, das Ganze in einzelnen Theilen zu betrachten -- und
wenn wir auch da bewundern, bewundern müssen, so müssen wir dem Meister,
der uns in diese selige Bewunderung versezte, billig danken. -- Die bekannte
Geschichte des unglücklichen Infanten lieh dem Dichter Stof, ein herrliches Werk
zu verfertigen, welches uach Nathan dem Weisen, nach Göthens Iphigenie
erschien, nun ein vortreffliches Kleeblatt zu vollenden." Von der Szene zwischen
Posn und Philipp heißt es: "Was der Marquis dem Könige sagt, ist alles so
wahr, so schön, so groß, und einzig, daß wir uns nicht erinnern etwas diesen
Stellen, Ähnliches, bei einem Dichter gelesen zu haben."


Der junge Schiller im Urteile seiner Zeitgenossen.

des Zuschauers entspringen zu lassen. Dom Carlos tobt in der ersten Scene,
er wüthet vor dem Ende des ersten Auszugs — was wird er im dritten und
vierten, was kann er im fünften thun?"

Als das ganze in der Umarbeitung gedruckt vorlag, lautete ein Urteil
uoch sehr zurückhaltend: „So wenig die strenge, eigensinnige Kritik mit der An¬
lage des Ganzen und der Ausführung im Einzelnen, mit der Zeichnung der
Charaktere nud der Sprache der Leidenschaft durchaus zufrieden sehn kann, so
wird sie doch, ohne die größte Ungerechtigkeit zu begehen, nicht läugnen dürfen,
daß alle diese einzelnen Fehler durch eine Menge ungleich größerer Schönheiten
verdeckt, und den Augen des Lesers fast ganz entzogen werden. Dieses Stück
ist offenbar uicht für das Theater geschrieben, und doch zeigt sich Hr. S. in
demselben fast mehr, als in allen seinen vorigen Stücken, als ein Dichter von
großem dramatischen Genie. Wenn er die Gesetze und Regeln der dramatischen
Poesie (wir reden nicht von den willkürlichen Conventionen) sich mehr bekannt
machen, oder, im Fall er sie kennt, genauer befolgen wollte, wenn er, der das
menschliche Herz so gut zu kennen scheint, um auch die wahre Sprache der
Empfindung nud Leidenschaft, und die Sitten der Welt, aus welcher er seine
handelnden Personen wählt, mehr studiren wollte, so wäre wohl kein Zweifel,
daß er uns Stücke liefern könnte, die unsern besten den Rang streitig machen
würden." Die berühmte Szene zwischen Philipp und Posa ist ganz und gar
nicht uach dem Geschmack des Kritikus, sie ist ihm „so mystisch dunkel, daß
Recens. gern gesteht, nicht den dritten Theil davon verstanden zu haben. Was
für ein geduldiger Mann mußte der alte König seyn, der sich von diesem jungen
Schwindelkopf solche Dinge, auf eine solche Art gesagt, ohne ihm den Rücken
zuzukehren, vordeclamire» lassen konnte!"

Im Gegensatz hierzu atmet eine andre Besprechung die reinste Begeisterung:
„Was dem durch ein Mißjahr getrübten Blick des Landmanns der Anblick einer
versprechenden überreichen Erndte ist, war uus Don Karlos, nach der Menge
der dramatischen Mißgeburten, welche zur Beurtheilung vor uns lagen. . . Lange
schon, durch vortrefliche Proben, in der Thalia, lüstern gemacht, harrten wir
muss ganze Meisterstück; jetzt steht es vor uns, kühn aufgeführt, bewundert
und angestaunt. Hingerissen von diesen: Gefühl, kehrt uur nach und nach der
Spähungsgeist zurück, das Ganze in einzelnen Theilen zu betrachten — und
wenn wir auch da bewundern, bewundern müssen, so müssen wir dem Meister,
der uns in diese selige Bewunderung versezte, billig danken. — Die bekannte
Geschichte des unglücklichen Infanten lieh dem Dichter Stof, ein herrliches Werk
zu verfertigen, welches uach Nathan dem Weisen, nach Göthens Iphigenie
erschien, nun ein vortreffliches Kleeblatt zu vollenden." Von der Szene zwischen
Posn und Philipp heißt es: „Was der Marquis dem Könige sagt, ist alles so
wahr, so schön, so groß, und einzig, daß wir uns nicht erinnern etwas diesen
Stellen, Ähnliches, bei einem Dichter gelesen zu haben."


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_193340/319>, abgerufen am 23.07.2024.