Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Drittes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Der jüngste Tag.

Fremdlinge, die Kauderwälsch redeten statt des einfachen Englisch, das jeder¬
mann verstehen konnte, und sie waren noch nicht gesittet genng, um um dem
Saleratuszwieback und dem mit Salz gesäuerten Brote Geschmack zu finden,
das ihren Nachbarn so gut schmeckte. Grund genug, sie zu hassen.

Erst eine halbe Stunde vor diesem Ausbruch übler Laune hatte Frau
Anderson ihrer Tochter Julia eine Falle gestellt und sie richtig gefangen.

Julie, Julie, Ju--u--ki-- --e! hatte sie gerufen.

Und Julia, die unten im Garten war und ein Beet mit der Hacke bear¬
beitete, auf das sie einige Stiefmütterchen zu pflanzen gedachte, kam rasch nach
dem Hause gelaufen, obschon sie wußte, daß es nichts nützen würde, rasch zu
kommen. Mochte sie rasch oder langsam kommen, gleichviel, ganz sicher begrüßte
sie ein Vorwurf.

Möchte doch wissen, warum du nicht kommst, wenn man dich ruft! Du
bist doch niemals bei der Hand, wenn dich eins braucht, und immer bist du ein
nichtsnutziges Ding, wenn du hier bist.

Die allererste Lektion, die Julia Anderson vou den Lippen ihrer Mutter
zu Teil geworden, war die, daß sie ein nichtsnutziges Ding sei. Und jeder Tag,
ja fast jede Stunde hatte ihr wiederholt die Versicherung gebracht, daß sie nichts
lange. Hätte sie nicht zu vielerlei Dingen getaugt, so würde sie infolge solcher
Belehrung schon lange wirklich nichts getaugt haben. Aber obwohl dies nicht
das erste, noch das tausendste, ja nicht das zehntausendste mal war, daß man
ihr gesagt, sie sei ein nichtsnutziges Ding, schien die altgewohnte Schmähung
ihr jetzt mehr als je zu Herzen zu gehen. War es, daß sie, die bald achtzehn
Jahre alt war, zu fühlen begann, daß in ihrer Natur das Weib erblühte?
Oder war es, weil die zärtlichen Worte August Wehles ihr die Gewißheit ge¬
geben hatten, daß sie doch zu etwas gut sei? Gleichviel, ihr Herz empfand jetzt
die Beleidigung ihrer Mutter als eine althergebrachte, aus Selbstsucht und Bos¬
heit erflvssene Lüge.

Trage diese Obertasse mit Thee hinüber zu Frau Malcolm und sage ihr,
daß er uicht ganz so gut ist wie der, deu ich mir letzte Woche bei ihr geborgt
hätte. Und sage ihr, daß auf den Sonntag ein neumodischer Prediger ins
Schulhaus kommen wird, ein Millern oder so etwas der Art, der über den
jüngsten Tag predigt.*)

Julia sagte uicht in ihrer gewöhnlichem demütigen Weise: Ja, Mutter.
Die harten Worte schmerzte" sie uoch ein wenig, und so ging sie schweigend
ihres Weges.



*) Dies bezieht sich auf den Prediger Joe Miller, des sogenannten Ümvsdorn-I'roxllot,
und seine Mitarbeiter im chiliastischen Hokuspokus, die im Jahre 184" einen großen Teil
der Vereinigten Staaten durchzogen, um den nahen Untergang der Welt zu verkündigen,
und namentlich im Westen großen Zulauf fanden und Tausende zum Verkauf ihrer Habe
und andern Thorheiten verleiteten,
Grenzboten III. 1882, !!0
Der jüngste Tag.

Fremdlinge, die Kauderwälsch redeten statt des einfachen Englisch, das jeder¬
mann verstehen konnte, und sie waren noch nicht gesittet genng, um um dem
Saleratuszwieback und dem mit Salz gesäuerten Brote Geschmack zu finden,
das ihren Nachbarn so gut schmeckte. Grund genug, sie zu hassen.

Erst eine halbe Stunde vor diesem Ausbruch übler Laune hatte Frau
Anderson ihrer Tochter Julia eine Falle gestellt und sie richtig gefangen.

Julie, Julie, Ju—u—ki— —e! hatte sie gerufen.

Und Julia, die unten im Garten war und ein Beet mit der Hacke bear¬
beitete, auf das sie einige Stiefmütterchen zu pflanzen gedachte, kam rasch nach
dem Hause gelaufen, obschon sie wußte, daß es nichts nützen würde, rasch zu
kommen. Mochte sie rasch oder langsam kommen, gleichviel, ganz sicher begrüßte
sie ein Vorwurf.

Möchte doch wissen, warum du nicht kommst, wenn man dich ruft! Du
bist doch niemals bei der Hand, wenn dich eins braucht, und immer bist du ein
nichtsnutziges Ding, wenn du hier bist.

Die allererste Lektion, die Julia Anderson vou den Lippen ihrer Mutter
zu Teil geworden, war die, daß sie ein nichtsnutziges Ding sei. Und jeder Tag,
ja fast jede Stunde hatte ihr wiederholt die Versicherung gebracht, daß sie nichts
lange. Hätte sie nicht zu vielerlei Dingen getaugt, so würde sie infolge solcher
Belehrung schon lange wirklich nichts getaugt haben. Aber obwohl dies nicht
das erste, noch das tausendste, ja nicht das zehntausendste mal war, daß man
ihr gesagt, sie sei ein nichtsnutziges Ding, schien die altgewohnte Schmähung
ihr jetzt mehr als je zu Herzen zu gehen. War es, daß sie, die bald achtzehn
Jahre alt war, zu fühlen begann, daß in ihrer Natur das Weib erblühte?
Oder war es, weil die zärtlichen Worte August Wehles ihr die Gewißheit ge¬
geben hatten, daß sie doch zu etwas gut sei? Gleichviel, ihr Herz empfand jetzt
die Beleidigung ihrer Mutter als eine althergebrachte, aus Selbstsucht und Bos¬
heit erflvssene Lüge.

Trage diese Obertasse mit Thee hinüber zu Frau Malcolm und sage ihr,
daß er uicht ganz so gut ist wie der, deu ich mir letzte Woche bei ihr geborgt
hätte. Und sage ihr, daß auf den Sonntag ein neumodischer Prediger ins
Schulhaus kommen wird, ein Millern oder so etwas der Art, der über den
jüngsten Tag predigt.*)

Julia sagte uicht in ihrer gewöhnlichem demütigen Weise: Ja, Mutter.
Die harten Worte schmerzte» sie uoch ein wenig, und so ging sie schweigend
ihres Weges.



*) Dies bezieht sich auf den Prediger Joe Miller, des sogenannten Ümvsdorn-I'roxllot,
und seine Mitarbeiter im chiliastischen Hokuspokus, die im Jahre 184» einen großen Teil
der Vereinigten Staaten durchzogen, um den nahen Untergang der Welt zu verkündigen,
und namentlich im Westen großen Zulauf fanden und Tausende zum Verkauf ihrer Habe
und andern Thorheiten verleiteten,
Grenzboten III. 1882, !!0
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0241" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/193582"/>
            <fw type="header" place="top"> Der jüngste Tag.</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_767" prev="#ID_766"> Fremdlinge, die Kauderwälsch redeten statt des einfachen Englisch, das jeder¬<lb/>
mann verstehen konnte, und sie waren noch nicht gesittet genng, um um dem<lb/>
Saleratuszwieback und dem mit Salz gesäuerten Brote Geschmack zu finden,<lb/>
das ihren Nachbarn so gut schmeckte.  Grund genug, sie zu hassen.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_768"> Erst eine halbe Stunde vor diesem Ausbruch übler Laune hatte Frau<lb/>
Anderson ihrer Tochter Julia eine Falle gestellt und sie richtig gefangen.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_769"> Julie, Julie, Ju&#x2014;u&#x2014;ki&#x2014; &#x2014;e! hatte sie gerufen.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_770"> Und Julia, die unten im Garten war und ein Beet mit der Hacke bear¬<lb/>
beitete, auf das sie einige Stiefmütterchen zu pflanzen gedachte, kam rasch nach<lb/>
dem Hause gelaufen, obschon sie wußte, daß es nichts nützen würde, rasch zu<lb/>
kommen. Mochte sie rasch oder langsam kommen, gleichviel, ganz sicher begrüßte<lb/>
sie ein Vorwurf.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_771"> Möchte doch wissen, warum du nicht kommst, wenn man dich ruft! Du<lb/>
bist doch niemals bei der Hand, wenn dich eins braucht, und immer bist du ein<lb/>
nichtsnutziges Ding, wenn du hier bist.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_772"> Die allererste Lektion, die Julia Anderson vou den Lippen ihrer Mutter<lb/>
zu Teil geworden, war die, daß sie ein nichtsnutziges Ding sei. Und jeder Tag,<lb/>
ja fast jede Stunde hatte ihr wiederholt die Versicherung gebracht, daß sie nichts<lb/>
lange. Hätte sie nicht zu vielerlei Dingen getaugt, so würde sie infolge solcher<lb/>
Belehrung schon lange wirklich nichts getaugt haben. Aber obwohl dies nicht<lb/>
das erste, noch das tausendste, ja nicht das zehntausendste mal war, daß man<lb/>
ihr gesagt, sie sei ein nichtsnutziges Ding, schien die altgewohnte Schmähung<lb/>
ihr jetzt mehr als je zu Herzen zu gehen. War es, daß sie, die bald achtzehn<lb/>
Jahre alt war, zu fühlen begann, daß in ihrer Natur das Weib erblühte?<lb/>
Oder war es, weil die zärtlichen Worte August Wehles ihr die Gewißheit ge¬<lb/>
geben hatten, daß sie doch zu etwas gut sei? Gleichviel, ihr Herz empfand jetzt<lb/>
die Beleidigung ihrer Mutter als eine althergebrachte, aus Selbstsucht und Bos¬<lb/>
heit erflvssene Lüge.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_773"> Trage diese Obertasse mit Thee hinüber zu Frau Malcolm und sage ihr,<lb/>
daß er uicht ganz so gut ist wie der, deu ich mir letzte Woche bei ihr geborgt<lb/>
hätte. Und sage ihr, daß auf den Sonntag ein neumodischer Prediger ins<lb/>
Schulhaus kommen wird, ein Millern oder so etwas der Art, der über den<lb/>
jüngsten Tag predigt.*)</p><lb/>
            <p xml:id="ID_774"> Julia sagte uicht in ihrer gewöhnlichem demütigen Weise: Ja, Mutter.<lb/>
Die harten Worte schmerzte» sie uoch ein wenig, und so ging sie schweigend<lb/>
ihres Weges.</p><lb/>
            <note xml:id="FID_19" place="foot"> *) Dies bezieht sich auf den Prediger Joe Miller, des sogenannten Ümvsdorn-I'roxllot,<lb/>
und seine Mitarbeiter im chiliastischen Hokuspokus, die im Jahre 184» einen großen Teil<lb/>
der Vereinigten Staaten durchzogen, um den nahen Untergang der Welt zu verkündigen,<lb/>
und namentlich im Westen großen Zulauf fanden und Tausende zum Verkauf ihrer Habe<lb/>
und andern Thorheiten verleiteten,</note><lb/>
            <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten III. 1882, !!0</fw><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0241] Der jüngste Tag. Fremdlinge, die Kauderwälsch redeten statt des einfachen Englisch, das jeder¬ mann verstehen konnte, und sie waren noch nicht gesittet genng, um um dem Saleratuszwieback und dem mit Salz gesäuerten Brote Geschmack zu finden, das ihren Nachbarn so gut schmeckte. Grund genug, sie zu hassen. Erst eine halbe Stunde vor diesem Ausbruch übler Laune hatte Frau Anderson ihrer Tochter Julia eine Falle gestellt und sie richtig gefangen. Julie, Julie, Ju—u—ki— —e! hatte sie gerufen. Und Julia, die unten im Garten war und ein Beet mit der Hacke bear¬ beitete, auf das sie einige Stiefmütterchen zu pflanzen gedachte, kam rasch nach dem Hause gelaufen, obschon sie wußte, daß es nichts nützen würde, rasch zu kommen. Mochte sie rasch oder langsam kommen, gleichviel, ganz sicher begrüßte sie ein Vorwurf. Möchte doch wissen, warum du nicht kommst, wenn man dich ruft! Du bist doch niemals bei der Hand, wenn dich eins braucht, und immer bist du ein nichtsnutziges Ding, wenn du hier bist. Die allererste Lektion, die Julia Anderson vou den Lippen ihrer Mutter zu Teil geworden, war die, daß sie ein nichtsnutziges Ding sei. Und jeder Tag, ja fast jede Stunde hatte ihr wiederholt die Versicherung gebracht, daß sie nichts lange. Hätte sie nicht zu vielerlei Dingen getaugt, so würde sie infolge solcher Belehrung schon lange wirklich nichts getaugt haben. Aber obwohl dies nicht das erste, noch das tausendste, ja nicht das zehntausendste mal war, daß man ihr gesagt, sie sei ein nichtsnutziges Ding, schien die altgewohnte Schmähung ihr jetzt mehr als je zu Herzen zu gehen. War es, daß sie, die bald achtzehn Jahre alt war, zu fühlen begann, daß in ihrer Natur das Weib erblühte? Oder war es, weil die zärtlichen Worte August Wehles ihr die Gewißheit ge¬ geben hatten, daß sie doch zu etwas gut sei? Gleichviel, ihr Herz empfand jetzt die Beleidigung ihrer Mutter als eine althergebrachte, aus Selbstsucht und Bos¬ heit erflvssene Lüge. Trage diese Obertasse mit Thee hinüber zu Frau Malcolm und sage ihr, daß er uicht ganz so gut ist wie der, deu ich mir letzte Woche bei ihr geborgt hätte. Und sage ihr, daß auf den Sonntag ein neumodischer Prediger ins Schulhaus kommen wird, ein Millern oder so etwas der Art, der über den jüngsten Tag predigt.*) Julia sagte uicht in ihrer gewöhnlichem demütigen Weise: Ja, Mutter. Die harten Worte schmerzte» sie uoch ein wenig, und so ging sie schweigend ihres Weges. *) Dies bezieht sich auf den Prediger Joe Miller, des sogenannten Ümvsdorn-I'roxllot, und seine Mitarbeiter im chiliastischen Hokuspokus, die im Jahre 184» einen großen Teil der Vereinigten Staaten durchzogen, um den nahen Untergang der Welt zu verkündigen, und namentlich im Westen großen Zulauf fanden und Tausende zum Verkauf ihrer Habe und andern Thorheiten verleiteten, Grenzboten III. 1882, !!0

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_193340
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_193340/241
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_193340/241>, abgerufen am 22.07.2024.